Читать книгу Das Liliengrab - Valentina Berger - Страница 12
ОглавлениеKapitel 7
Laura Campelli spielte in Gedanken alle Ausreden durch, die ihr einfielen. Ihre Mutter würde keine gelten lassen. Die Wahrheit schon gar nicht. Sie könnte behaupten, sie hätte die Nacht mit einem Mann verbracht, einem potenziellen Schwiegersohn, das würde ihre Mutter vielleicht milder stimmen. Die wünschte sich nichts sehnlicher als
Enkelkinder. Doch selbst diese Lüge wäre keine Entschuldigung für ihr
Zuspätkommen. Nicht heute. Nicht, wenn ein Familienessen zu Ehren ihres Bruders geplant war.
Daniel war ein ganzes Jahr in München gewesen, hatte dort gearbeitet. Zur Beerdigung ihres Vaters vor zwei Monaten war er natürlich gekommen, aber schon am gleichen Abend musste er wieder zurück. Ihre Mutter hatte Verständnis dafür gehabt.
Sie hatte für alles Verständnis, was Daniel tat. Nicht so bei Laura. Eine Frau sollte sich nicht mit so grausigen Dingen beschäftigen, wie Laura es tat. Sie sollte heiraten, Kinder bekommen – je mehr, desto besser – und ihr Leben damit verbringen, Mann und Nachwuchs glücklich zu machen. So hatte es Esther Campelli gehalten, und so erwartete sie es von ihrer Tochter. Einzig ihr Vater hatte Laura unterstützt, sie in ihrem Berufswunsch bestärkt. Er hatte immer ein offenes Ohr für ihre Probleme gehabt. Ach, wie sehr sie ihn vermisste.
Nach seinem Tod fuhr sie einmal in der Woche zu seinem Grab, um Trost zu suchen. Ihre Mutter hatte sie seither nur zweimal besucht. Sie hielt es nicht aus, wie ihre Mutter sich an sie klammerte. Aber jetzt war Daniel da. Der verlorene Sohn war heimgekehrt. Und er war nicht allein angereist, er hatte seine Freundin mitgebracht. Sie würden eine Zeit lang zu Hause wohnen und Esther Campelli hätte nun gleich zwei Personen, die sie verwöhnen, bemuttern und vor allem bekochen konnte.
Laura hoffte, dass ihr altersschwacher Wagen ansprang. Sie hatte sich schon lange vorgenommen, sich ein neues Auto zu kaufen. Aber ständig war etwas anderes dazwischengekommen. Außerdem hing sie irgendwie an der alten Kiste.
„Na bitte, schnurrt wie ein Kätzchen‟, dachte sie, als sie den Zündschlüssel umdrehte und der Motor ohne zu stottern startete. Siedend heiß fiel ihr Kasimir, ihr Kater, ein. Sie stellte ihm zwar immer eine Schale mit Trockenfutter hin – bei ihren Dienstzeiten wusste sie nie, wann sie ihn das nächste Mal füttern konnte –, aber das fraß er nur, wenn er dem Verhungern nahe war. Sie wusste jetzt schon, dass er sie mit
Verachtung strafen würde, wenn sie abends nach Hause kam. Trotzdem konnte sie unmöglich noch in ihrer Wohnung vorbeifahren. Sie würde auch so deutlich zu spät kommen.
Es war Viertel nach zwei, als sie vor ihrem Elternhaus anhielt. Daniels nagelneuer BMW parkte in der Einfahrt. Laura fuhr sich durch die Locken und sah prüfend in den Rückspiegel, bevor sie ausstieg. Sie sah furchtbar aus. Die schlaflose Nacht hatte dunkle Ringe unter ihren Augen hinterlassen. Ihr Gesicht war bleich, und sie hatte weder Zeit gehabt, sich zu schminken, noch sich umzuziehen. Ihre Mutter hasste Jeans und Tops. Laura verzog das Gesicht, als sie daran dachte, was Esther Campelli zu ihrem Aufzug sagen würde: So wirst du nie einen Mann abbekommen. Du musst mehr aus dir machen, Kind.
Sie schnappte sich ihre Handtasche vom Beifahrersitz, knallte die Autotür zu und ging ins Haus, um ihren Bruder zu begrüßen.
Wagner hasste Sonntage, weil er es hasste, zum Nichtstun verurteilt zu sein. Die Geschäfte hatten geschlossen und zu Hause erreichte man in der Regel auch niemand, denn sonntags fühlten sich die meisten Leute dazu verpflichtet, etwas zu unternehmen oder Verwandte zu besuchen.
Er hingegen hatte auch häufig am Wochenende Dienst. Mörder hielten sich nicht an Sonn- und Feiertage. Es war nicht grundsätzlich der Gedanke, arbeiten zu müssen, wenn andere frei hatten, der ihn störte. Nein, es war die Tatsache, dass an solchen Tagen die Ermittlungen immer aufgehalten wurden. Und Geduld hatte noch nie zu seinen Stärken gehört.
Seufzend setzte er sich an seinen Schreibtisch. Er versuchte mit allen Mitteln, die Ordnung, die Moser in seinem Büro in den wenigen Wochen während Wagners Abwesenheit eingeführt hatte, aufrechtzuerhalten. Ein schwieriges Unterfangen. Wie es Moser jetzt wohl ging? Ob er sich auch daran störte, dass Sonntag war? Moser war nicht beliebt gewesen. Er hatte die Meinungen anderer nicht gelten lassen und nur ungern Dinge aus der Hand gegeben. Nur was er selbst erledigen konnte, war gut erledigt. Das war Mosers Motto gewesen. Aber nichtsdestotrotz hatte Wagner auch eine andere Seite an ihm kennengelernt. Eine, die ihn zu einem der besten Ermittler machen würde, wenn er erst einmal wieder genesen war. Obwohl sie im Grunde Rivalen gewesen waren, Moser und er, hatten sie zum Schluss ihrer Zusammenarbeit einen Draht zueinander gefunden. Und es tat Wagner immer noch leid, dass es Mosers Gesundheit nicht erlaubte, in den Dienst zurückzukehren. Einerseits.
Andererseits war er froh, denn so brauchte er sich keine Gedanken darüber zu machen, Mosers Erwartungen durchkreuzt zu haben. Schließlich hatte sich Moser erhofft, seinen Platz als Leiter der Mordkommission einzunehmen, bevor sich Wagner entschied, Innsbruck endgültig den Rücken zu kehren. Alle, die unter Mosers Arroganz gelitten hatten, waren froh gewesen, ihn los zu sein, wenn sich auch niemand gewünscht hatte, dass er aus gesundheitlichen Gründen ausschied.
Wagner nahm sich vor, Moser in den nächsten Tagen anzurufen. Das brachte ihn wieder auf sein eigentliches Vorhaben zurück: die Blumenhandlungen durchzutelefonieren.
Helmut Wagner kannte sich mit dem Computer aus. Dennoch gab es einige Dinge, die er lieber per Hand erledigte. Adressen suchen gehörte dazu.
Er holte den Branchenteil des Wiener Telefonbuches, ein dicker Wälzer, der einige Kilo wog, aus seiner untersten Schreibtischschublade und wuchtete ihn mit Schwung auf die Tischplatte. So viele Einträge. Wo sollte er beginnen? Blumenhandlungen? Floristik? Grabbetreuung? Noch einmal seufzte er und schlug die erste Seite auf. Als er die unzähligen Eintragungen sah, klappte er das Telefonbuch zu und warf es wieder in die Schublade. Er würde sich morgen darum kümmern, wenn er ein paar Mitarbeiter hatte, die ihm helfen konnten – und wenn die Läden wieder geöffnet hatten.
Ihm fiel die Besprechung ein, die er für sechs angesetzt hatte. Eine Schnapsidee von ihm. Laura würde wahrscheinlich nicht kommen. Im Grunde konnten sie den Termin gleich ins „Traviata‟ verlegen. Da war es gemütlicher, sie konnten was Vernünftiges essen und danach über den Fall reden. Wagner griff zum Telefon und rief seinen Freund an. „Was hältst du davon, wenn wir uns gleich im ›Traviata‹ zusammensetzen?‟, fragte er.
Heinz klang erfreut. „Klar, der Vorschlag hätte glatt von mir sein können. Glaubst du, wir sollten Laura eine Nachricht hinterlassen?‟
Wagner überlegte kurz. „Ich glaub nicht, dass es nötig ist.‟
Laura küsste ihren Bruder auf beide Wangen, dann ebenso ihre Mutter. Sie versuchte, den tadelnden Blick, den ihr Esther Campelli zuwarf, zu ignorieren und ging auf die junge Frau zu, die vom Sessel aufgestanden war. „Du musst Veronika sein‟, sagte sie lächelnd und reichte ihr die Hand.
„Ja, Daniel erzählt pausenlos von dir. Ich freu mich, dich endlich kennenzulernen.‟ Laura betrachtete Veronika. Ihr Bauch wurde von einem sehr weiten T-Shirt verdeckt, aber Laura vermutete, dass sie wohl bereits im letzten Drittel der Schwangerschaft sein musste. Daniel, dieser Schuft, hatte ihr kein Sterbenswörtchen davon verraten, dass sie bald Tante werden würde.
Veronika war genau der Typ Frau, den ihr Bruder immer schon bevorzugt hatte: blonde lange Haare, schlank und groß. Sogar mit dem Bauch sah sie wie ein Model aus.
„Es tut mir leid, dass ihr warten musstet. Ich habe da einen Fall ...‟ Laura stockte. Nein, sie konnte doch vor einer Schwangeren nicht von dem toten Baby erzählen. „Egal‟, winkte sie ab. „Ich habe einen Bärenhunger. Und wie ich sehe, hat Mama sich wieder selbst übertroffen.‟
Veronika war witzig und charmant. Laura schloss sie gleich ins Herz. Sie leistete Laura beim Kuchenteigrühren Gesellschaft, indem sie Esther Campelli taktvoll der Küche verwies.
„Ich glaube, du und Daniel habt eine Menge zu besprechen. Wir schaffen das schon. Laura und ich.‟ Und das, was Laura noch nie zustande gebracht hatte, wenn sie in ihrem Elternhaus auf Besuch war, brachte Veronika zuwege. Esther Campelli überließ den beiden jungen Frauen ihr Reich.
Laura war seit ihrer Kindheit für den sonntäglichen Kuchen zuständig. Teils war es der mütterliche Versuch, ihr ein paar hausfrauliche Kniffe beizubringen, teils war es immer die Gelegenheit, Mutter-Tochter-Gespräche zu führen. Beides empfand Laura meist als lästige Pflicht. Doch nun verstand sie, warum ihre Mutter diese Tätigkeit gewählt hatte, um mit ihr über Jungs oder sonstige schwierige Themen zu sprechen. Es redete sich beim Rühren tatsächlich leichter und ungezwungener. Und mit Veronika machte es sogar Spaß.
„Ich finde es toll, Tante zu werden. Daniel hat nichts davon erzählt‟, sagte Laura, während sie gekonnt die Eier trennte.
Veronika reichte ihr den Zucker. Sie kniff die Lippen zusammen. „Ja, das glaub ich‟, meinte sie dann.
Laura gab weiche Butter in die Schüssel und holte den Mixer aus dem Schrank. „Du siehst nicht gerade glücklich aus‟, stellte sie fest und hoffte, mit ihrer Äußerung nicht zu weit gegangen zu sein. Schließlich kannte sie Veronika gar nicht.
Die werdende Mutter seufzte. „Daniel ist kein Vatertyp. Als ich ihm von dem Baby erzählte, wollte er es zuerst nicht und zog aus unserer Wohnung aus. Wir lebten bis vor zwei Monaten getrennt.‟
„Der gemeine Kerl. Wie konnte er bloß?‟, wetterte Laura. Sie schaltete den Mixer auf die höchste Stufe.
„Lass nur. Er hat diese Zeit gebraucht, um sich darüber klarzuwerden, dass er mich liebt. Und mich gibt es nun mal nur mit Baby‟, nahm Veronika Daniel in Schutz. „Was ist passiert?‟ Laura konnte es sich nur schwer vorstellen, dass ihr Bruder seine Meinung so grundlegend änderte.
„Dein Vater ist gestorben. Sein Tod hat ihm vermutlich vor Augen geführt, wie schlimm es wäre, allein alt zu werden. Einsam zu sterben. Auf jeden Fall kam Daniel danach zu mir und bat mich um Verzeihung. Er hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will, aber da lass ich ihn noch zappeln. Und er schlug vor, dass ich mit ihm nach Österreich komme. Ja, und nun bin ich hier, kenne außer Daniel und Esther keine Menschenseele und werde in weniger als sechs Wochen Mutter. Und ich hab verdammt viel Schiss davor.‟
Laura schaltete den Mixer aus, stellte das Gerät auf und umarmte Veronika. „Ich bin ja auch noch da‟, betonte Laura. Und das war nicht nur so dahergesagt. Es war ein spontanes Hilfs- und Freundschaftsangebot, das Veronika so sehr rührte, dass sie die Tränen kaum unterdrücken konnte.
„Diese blöden Hormone‟, schniefte sie und lächelte Laura zu. „Es ist gut, eine Freundin zu haben. Ich fühl mich etwas verloren in dieser fremden Umgebung.‟ „Aber du hast doch Daniel.‟
Veronikas Blick sprach Bände. „Schon, aber du weißt ja, sein neuer Job. Kinderzimmer herrichten. Er ist einfach rund um die Uhr beschäftigt.‟
Laura nahm Veronikas Hand und drückte sie. „Wenn du jemanden brauchst, dann ruf mich an. Und gleich morgen werde ich shoppen gehen. Schließlich werde ich Tante.‟ Sie lauschte dem Klang ihrer Worte. „Ich werde Tante!‟, jubelte sie. Damit zauberte sie ein Lächeln auf Veronikas Gesicht. Mehr denn je sah sie umwerfend aus. Und mit ihrem Bruderherz würde sie noch ein Hühnchen rupfen, schwor Laura sich. Wo gab es denn sowas, dass ein werdender Vater sich nicht um seine hochschwangere
Freundin kümmern konnte?
„Komm, lass uns den Teig in die Form füllen, sonst wird der Kuchen nie fertig‟, sagte sie zu ihrer neugewonnenen Freundin.
„Das wäre schlimm. Ich hab schon wieder Hunger. Und Kuchen liebe ich‟, meinte Veronika und tauchte ihren Finger in den Teig, um ihn abzuschlecken.
Bald sahen sie aus wie zwei kleine Kinder. Sie naschten vom Kuchenteig, ihre Finger klebten und ihre Münder nicht weniger. Lauras Telefon vibrierte. Mit spitzen Fingern nahm Laura es vom Küchentisch, und hob ab.
Es war Heinz. Er meinte, sie würden sich nicht im Kommissariat sondern im „Traviata‟ treffen.
Unter anderen Umständen wäre Laura froh gewesen, eine gute Ausrede zu haben, möglichst schnell zurück in die Stadt zu fahren. Aber heute wollte sie nicht mehr an tote Babys denken. Nicht an Taufkleider und Lilien. Schon gar nicht wollte sie Helmut Wagner sehen. Sollten Heinz und er doch die Besprechung ohne sie machen. Laura lächelte in sich hinein. Im „Traviata‟? Einem italienischen Restaurant? Welches hätte je Esther Campellis Kochkünste übertreffen können?