Читать книгу Das Liliengrab - Valentina Berger - Страница 7
ОглавлениеKapitel 2
21 Stunden vor der Entdeckung von Kevins Leiche
Das Baby weinte. Das wievielte Mal in dieser Nacht? Die Frau schlug die Augen auf und starrte ein, zwei Sekunden in die Finsternis. Seufzend schlug sie die Decke zurück und stellte ihre nackten Füße auf den Boden. Kälte kroch augenblicklich an ihnen hoch und ließ auf ihren Armen eine Gänsehaut entstehen.
„Ich komme!‟
Wann hatte sie eigentlich das letzte Mal durchgeschlafen? In ihrem Kopf hämmerte es dumpf, und ihr bewegte sich steif wie ein Roboter. Ohne Licht zu machen, stapfte sie durchs Schlafzimmer und ging nach nebenan. Auch hier machte sie die Lampe nicht an.
„Ist schon gut, Mama ist hier.‟ Sie tastete nach ihrem Baby. Das Bett war leer. Sarah?
Die Realität traf sie mit voller Wucht. Sarah war nicht da. Sie lag nicht in ihrem Bett und würde auch nie darin schlafen. Sie war tot. Seit genau 102 Tagen. Sie hatte den Tag ihrer Geburt nicht überlebt, nicht einen Atemzug getan. Kein einziges Mal hatte sie ihr Kind schreien gehört. Aber sie träumte von ihm. Nacht für Nacht. Sie stand auf, wie jede Mutter eines Säuglings es tut, wankte in das Zimmer, das sie liebevoll und voller Vorfreude eingerichtet hatte.
Sie hatte Sarah in ihren Armen gehalten, ihr vorgesummt, sie geschaukelt, während ihre Tränen die Decke, in die sie gewickelt gewesen war, feucht werden ließen. Nie mehr wollte sie ihre Kleine loslassen. Alles hätte sie getan, um sie behalten zu dürfen, doch dann waren die Pflegerinnen und die Ärzte und Psychologen gekommen. Das Baby sei tot, hatten sie gesagt, und es aus ihren Armen gewunden. Ebenso leer, wie sich ihre Arme anfühlten, war auch ihr Herz. Es hielt sie zwar am Leben, doch jegliches Gefühl war aus ihm gewichen. Das, was ihr Verstand schließlich irgendwann akzeptiert hatte, wurde von ihren Gefühlen verleugnet.
Sie ließ sich auf den Boden gleiten, umfasste ihre Knie mit beiden Armen und legte den Kopf darauf. In ein, zwei Stunden würde sie vielleicht die Kraft finden, in ihr Bett zurückzukehren. Bis dahin würde sie sitzen bleiben und an ihre kleine Tochter denken: Wie sie sich gefreut hatte, Sarah nach Hause zu bringen, in ihr Zimmer, dessen Wände moosgrün und sonnengelb gestrichen waren, weil sie rosa verabscheute. Eigenhändig hatte sie das Gitterbett zusammengeschraubt und den Himmel montiert, ein Kunstwerk aus weißer Baumwolle mit Spitzen an den Enden. Das Kissen, an dessen Überzug sie wochenlang gestickt hatte. Niemals würde Sarah das alles sehen, nie wissen, wie sehr sie geliebt, wie sehr sie vermisst wurde.
Ein Geräusch drang in ihre Gedanken. Das Weinen war wieder da. Sie hob den Kopf, lauschte. Es war eindeutig ein Baby. Es schrie, nein, es brüllte. Sarah? Nein, natürlich nicht, das war keine Einbildung. Kein grausames Trugbild. Sie träumte nicht. Diese Träume kamen immer, wenn sie in ihrem Bett lag und schlief – niemals, wenn sie in Sarahs Zimmer auf dem Boden saß.
Sie rappelte sich auf, wankte zur Wand des Kinderzimmers und presste ihr Ohr dagegen. Da war das Weinen wieder – und eine Stimme, die nicht besänftigte, nicht tröstete. Die Stimme schrie: „Was willst du? Gib endlich Ruhe!‟
Aus dem Brüllen wurde ein schrilles Kreischen.
Ihr Herz schlug so hart, dass sie es bis in ihren Hals spürte. Sie wischte die schweißnassen Hände an ihrem Nachthemd ab. Was sollte sie tun? Unablässig drehte sich die Frage in ihrem Kopf: Was soll ich tun?
Sie wagte kaum zu atmen, aus Angst, ein Geräusch hinter der Wand zu überhören, doch nun war es ruhig. Zu ruhig. Sie verharrte in ihrer Position, mit dem Ohr an der Wand, bis ihr der Rücken weh tat. Da richtete sie sich auf und ließ die Arme sinken. Das Baby schlief wahrscheinlich. Die Stimme hatte bestimmt der vor Übermüdung gereizten Mutter gehört. Einer verzweifelten Mutter, die schon alles ausprobiert hatte, um ihr Kind zu beruhigen. Die einfach nicht mehr wusste, was sie noch alles tun sollte, damit es endlich schlief. Nichts Außergewöhnliches. Jede konnte einmal die Nerven verlieren und ihr Kind anbrüllen.
Ihre Augen hatten sich längst an die Dunkelheit in dem Raum gewöhnt. Vor dem Fenster stand das Bettchen, in der Ecke die Wickelkommode und an der linken Mauer der Schrank, auf den fluoreszierende Sternchen geklebt waren.
Im Nachthemd stahl sie sich aus der Wohnung. Sie pflegte keinen freundschaftlichen Kontakt zu den Nachbarn, kannte sie kaum. Auch die Neue, die erst vor wenigen Tagen eingezogen war, hatte sie erst einmal gesehen. Neben ihrer neuen Nachbarin kam sie sich alt vor. Verbraucht.
Diese junge Mutter war selbst noch ein Kind. Vielleicht brauchte sie Hilfe, vielleicht war sie froh, Unterstützung zu bekommen.
Vor der Wohnungstür blickte sie sich um. Niemand war zu sehen, kein Laut war zu hören. Was tust du? Geh ins Bett und schlafe, wie es andere Leute um diese Uhrzeit tun. Du bildest dir bestimmt alles ein, sie schmeißt dich wütend aus ihrer Wohnung.
Wahrscheinlich will sie niemanden, der sich einmischt, auch wenn es gut gemeint ist. Dein Nervenkostüm ist ein wenig dünn in letzter Zeit.
Fast war sie geneigt, ihrer inneren Stimme zu folgen, doch da wimmerte es hinter der Tür. Der letzte Rest Unentschlossenheit löste sich in Luft auf. Sie drückte die Klinke hinunter.
Die Wohnung war nicht abgesperrt, die Tür ließ sich ohne Probleme öffnen. Das Wimmern wurde lauter.
„Hallo?‟, rief sie leise in die Dunkelheit. Keine Antwort, nur das Raunzen eines kleinen Kindes.
Sie verließ sich ganz auf ihr Gehör, folgte dem Geräusch. Im Wohnzimmer stand zwischen Umzugskartons und herumliegenden Kleiderhaufen ein Reisegitterbett. Sie trat näher. Im Bettchen bewegte sich etwas. „Ich habe es gefunden. Gott sei Dank! Und es lebt. Nicht so, wie meine kleine Sarah.‟
Als sie sich dem Bett näherte, trat sie auf etwas Weiches, das unter ihren bloßen Füßen nachgab. Ihr wurde schlagartig heiß. Jetzt bemerkte sie auch den unangenehmen Geruch: süßlich und beißend. Gebrauchte Windeln. Das Atmen fiel ihr schwer. Armes Baby.
Da lag es. Seine Augen blitzten ihr entgegen, es gluckste, als würde es sich freuen, sie zu sehen. Als würde es sie kennen.
„Hallo, Mäuschen‟, sprach sie zu dem winzigen Wesen. Wie schön sein Gesicht war, so perfekt. Kleine Hände ruderten in der Luft. Nimm mich raus, schienen sie zu sagen.
Die Frau beugte sich hinunter.
„Komm, mein Kleines!‟, sagte sie, als sie es heraushob. Die Wut auf die Mutter war wieder da. Die Windel war übervoll, der Strampelanzug bereits vollkommen durchnässt. Durch eine der offenen Türen konnte sie die Küche erkennen. Ob sie jemals benutzt werden würde? Heutzutage konnten die wenigsten jungen Menschen kochen. Zumindest nicht richtig.
Hinter der anderen war das Badezimmer. Hier würde sie vielleicht eine
Wickelkommode finden.
Sie blickte sich nach einem frischen Strampelanzug um, irgendwo musste doch etwas sein. So nass konnte das Baby nicht bleiben. Aber sie fand nichts.
Das Kind lag in ihrem Arm. Es fasste nach ihren Haaren. Vor Freude zog sich ihr Herz zusammen, und sie musste lächeln. Wie lange war es her, dass sie so empfunden hatte? So viel Liebe, so viel Glück.
„Na, du?‟ Sie nahm sein Händchen, führte es zu ihrem Mund und drückte einen Kuss auf seine Finger. Es gluckste vor Vergnügen.
„Mein Kleines, wo ist deine Mami? Ist sie fortgegangen?‟
Das Baby gluckste noch einmal. Es klang wie ein „Ja.‟
Wie schnell man doch mit einem Baby im Arm in dieses rhythmische Gehen hineinfand. Ein Urinstinkt?
„Wo sind deine Windeln? Deine Strampler?‟
Sie erwartete keine Antwort, aber in dieser fremden Wohnung fühlte sie sich nicht wohl, und es gab ihr Sicherheit, die eigene Stimme zu hören. Sie betrat das Badezimmer. Ein einziges Chaos umfing sie. Weit und breit keine Windeln. In der Küche fand sie auch keine. Wo sonst sollte sie noch schauen? Sie konnte doch nicht jeden einzelnen Karton ausräumen.
Die Frau betrachtete das kleine Gesicht.
„Weißt du, ich hatte auch eine kleine Tochter. Sarah. Sie ist jetzt ein Engel.‟ Das Baby krähte vor Vergnügen.
Sie dachte nach. Alles in Sarahs Zimmer war unverändert geblieben: Kleidung, Windeln, das Mobiliar.
„Hast du Hunger?‟ Natürlich hatte es Hunger. Sie würde hinüber in ihre Wohnung gehen, das Kind wickeln, es umziehen und es füttern. Die Wohnungstüren würde sie offen lassen. Wenn die Mutter zurückkam, sollte sie nicht denken, jemand hätte ihr Baby gestohlen. Sie war vielleicht nur schnell Windeln besorgen. Doch welcher Supermarkt hatte rund um die Uhr geöffnet? Keiner. Da war allenfalls die Tankstelle mit einem Shop ein paar Straßen weiter. Die hatte die ganze Nacht auf. Wenn die Mutter dorthin gegangen war, würde es eine Zeitlang dauern, bis sie zurück kam. Bestimmt wäre sie dankbar, dass sich ihre Nachbarin um das Kind gekümmert hatte. Vielleicht würden sie sich anfreunden, und dann könnte sie öfter auf das Kleine aufpassen.
Sie drückte das Baby an sich und ihr Nachthemd wurde nun ebenfalls feucht. Es war höchste Zeit, es komplett umzuziehen.
Ob sie eine Nachricht hinterlassen sollte? In der Unordnung wird die ja doch nur übersehen. Nein, sie würde die Mutter hören.
Das Baby sicher an die Brust gedrückt, verließ die Frau die Nachbarwohnung und ging in ihre eigenen vier Wände.
Das Kind, ein Junge, war gewickelt und umgezogen. Er hatte ein Fläschchen bekommen und nun schlief er, während sie auf der Couch saß und sich an ihm nicht sattsehen konnte.
Irgendwann fielen ihre Augen von alleine zu. Nur ein bisschen ausruhen, sagte sie sich.
Sie musste eingenickt sein, denn als der Kleine zu raunzen begann und sie die
Augen aufschlug, war es bereits hell. Die Wohnungstür stand immer noch offen. Sie legte das Kind in Sarahs Bettchen und schlich in die Nachbarwohnung. Mit einem Blick erfasste sie die Situation. Auf der Sitzbank schlief die Mutter des Babys. Sie war vollständig bekleidet und lag in ihrem eigenen Erbrochenen. Die Frau würgte, und das lag nicht nur an dem Anblick, sondern am Geruch und an der Tragweite ihrer Entdeckung. Diese Schlampe! Sie musste so volltrunken oder in solch einem Drogenrausch heimgekommen sein, dass sie nicht einmal nach ihrem Sohn geschaut, geschweige denn ihn vermisst hatte. Und die sollte Mutter sein dürfen? Sie, die ihr Kind eine ganze Nacht, und wahrscheinlich nicht die erste, allein ließ? Ihr konnte sie das Baby unmöglich zurückbringen. Niemals. Sie war wahrscheinlich sogar froh, es los zu sein.
Die Frau drehte sich um und floh aus der Wohnung, vor dem Chaos und vor dieser Person, die es nicht verdient hatte, Mutter zu sein.
Ganz langsam drückte sie ihre Tür zu. Mit dem Einrasten des Schlosses sperrte sie alles andere aus. Es gab nur mehr sie und dieses Baby. Sie ging in die Küche, um Wasser aufzusetzen. Kommt Zeit, kommt Rat. Sie würde ganz in Ruhe überlegen, wie es weitergehen sollte. Aber zuerst musste sie ein Milchfläschchen zubereiten.