Читать книгу Das Liliengrab - Valentina Berger - Страница 8
ОглавлениеKapitel 3
Helmut Wagner war froh, dass sein Freund diesmal bei der Obduktion auf spöttische Bemerkungen verzichtete und ihn auch nicht dazu überreden wollte, näher zu kommen. So stand er mit dem Rücken an der Tür zum Autopsiesaal und versuchte, seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Wenn seine Verlobte dieses Kind – sein Kind – bekommen hätte, wäre es ein Junge oder ein Mädchen geworden? Wäre er ein guter Vater gewesen? Sonja hatte es abgetrieben, und er würde nie Gelegenheit bekommen, es herauszufinden. Dabei hatte er wirklich geglaubt, in ihr die Richtige gefunden zu haben. Sie wollten heiraten. Verdammt, er war sogar bereit gewesen, mit ihr nach Innsbruck zu ziehen. Wenigstens das war ihm erspart geblieben. In
Innsbruck hatte es ihm ohnehin nicht gefallen.
Heinz hatte schon lange nichts gesagt. Er sprach seine Erkenntnisse während der Obduktion immer auf ein Band. Doch jetzt schwieg er schon seit Minuten und starrte mit dem Skalpell in der Hand konzentriert auf den winzigen Leichnam, als ob es ihm widerstrebte, Hand an den kleinen Körper zu legen.
Tatsächlich drehte er sich in diesem Moment nach Wagner um und blickte ihn an. „Was ist los? Du schneidest gar nicht.‟
Heinz schüttelte den Kopf. „Ich frag mich, ob es wirklich nötig ist.‟
„Spinnst du? Unnatürliche Todesursache bedeutet Autopsie. Wie lange machst du den Job schon?‟ Wagner wusste genau, wie lange Heinz schon als
Gerichtsmediziner arbeitete: seit 15 Jahren, nur unwesentlich kürzer, als er selbst bei der Mordkommission war und noch nie hatte er seinen Freund so unentschlossen erlebt.
„Ja, ja, ich weiß. Bei Kindern fällt es mir einfach schwer. Gott sei Dank muss ich das nicht oft machen.‟
Wagner trat wider besseren Wissens näher an den Tisch. Sein Magen verhielt sich still, bemerkte er dankbar. Ob das nun daran lag, dass er das Abendessen hatte ausfallen lassen oder weil das Baby immer noch so aussah, als schliefe es, mal von der blassen Hautfarbe abgesehen, wusste er nicht. Es war ihm auch egal, solange ihm nicht übel wurde.
Er hört Heinz seufzen, dann wurde ihm doch flau im Magen, denn sein Freund hatte den ersten Schnitt gesetzt. Die Haut klaffte auseinander und bescherte ihm einen
Blick in den offenen Bauch des Opfers.
Wagner flüchtete wieder zurück zu seinem Platz bei der Tür. Er wünschte sich, Heinz behielte mit der Annahme, es handle sich um plötzlichen Kindstod, recht. Doch seine Intuition sagte ihm, dass etwas anderes dahintersteckte. Wagner hasste es, wenn er einen Irrtum eingestehen musste, aber in diesem Fall hätte er es liebend gerne getan.
Wagner war schon ein komischer Kauz, dachte Heinz Martin, als er sich der Leiche zuwandte und das Skalpell ansetzte. Er seufzte. Manche meinten, Gerichtsmediziner wären kalt und unnahbar. Wenn jemand ständig Leichen aufschneiden musste und im wahrsten Sinne des Wortes in deren Innersten herumwühlte, legte man sich eine Schutzhülle zu. Das hieß aber nicht, dass ihm die Fälle nicht nahegingen. Mit einigen Toten hatte er weniger Mitleid als mit anderen. Manche gaben ihm regelrechte Rätsel auf. Sie waren Herausforderungen, denen er sich gern stellte. Und zuweilen hatte er Fälle auf seinem Tisch, bei denen er den Kopf schüttelte, weil sie so kurios waren oder weil selbst er Ekel empfand.
Und dann waren da die Opfer, die ihn auf die Probe stellten, die ihn an seinem Beruf zweifeln ließen. Bei denen half ihm der Gedanke, für Gerechtigkeit zu sorgen. Wenn er mit seiner Arbeit dazu beitragen konnte, Verbrechen aufzuklären und die Seelen der Opfer dadurch Ruhe fanden, dann war alles andere nebensächlich: seine Skepsis, seine Hemmungen. Und manches Mal, so wie bei dieser Leiche, ging es darum, die Wahrheit um die Todesursache herauszufinden.
Heinz umklammerte das Skalpell, drückte es auf die zarte Haut und öffnete den Brustkorb. Er entnahm die Organe, eines nach dem anderen, wog sie, vermaß sie. Routinetätigkeiten. Dennoch wurde er bei jedem Handgriff, bei jedem Messwert, den sein Assistent Kramer eintrug, daran erinnert, um wieviel kleiner und leichter alles war, als bei den erwachsenen Patienten. Heinz ging dazu über, die einzelnen
Organe zu zerteilen. Herz, Lunge, Leber. Vielleicht würde er dadurch zu einer eindeutigen Diagnose kommen. Die äußerliche Prüfung des Körpers hatte nichts ans Tageslicht gebracht, was den Schluss auf plötzlichen Kindstod ausschloss – aber eben auch nichts, das ihn erhärtete. Wie die Sache lag, würde es nahezu unmöglich werden, zu einem eindeutigen Ergebnis zu gelangen. Manchmal hasste er seinen Job. So wie jetzt.
Es war fast Mittag, als Heinz mit der Obduktion fertig war. Er streifte seine
Handschuhe ab, warf sie und den Mundschutz in den Treteimer. Das Schließen des Leichnams überließ er Kramer.
„Ich habe Hunger‟, meinte er, als Wagner ihm die Tür aufhielt.
„Jetzt?‟ Sein Freund schluckte vernehmlich.
„Sicher jetzt. Ich bin mitten in der Nacht aufgestanden und zum Fundort gerast. Ich hatte kein Frühstück, ja nicht mal einen Kaffee. Also darf ich hungrig sein. Auch wenn es erst 11 Uhr 30 ist.‟
„Ich meinte auch nicht die Uhrzeit, aber du hast gerade an einem Kind herumgeschnipselt, du hast sein Herz in der Hand gehalten – du kannst doch unmöglich etwas essen!‟
Heinz griff sich an den Kopf. Wagner konnte einem wirklich auf die Nerven gehen. „Du musst ja nicht, wenn du nicht willst. Du hast auch nur den ganzen Vormittag herumgestanden, während ich gearbeitet habe. Ich geh jetzt zum Würstlstand und hol mir zwei Leberkässemmeln.‟ Etwas Richtiges wäre ihm lieber gewesen, aber er wollte keine Zeit vertrödeln. Er wusste, wie er seinen Freund dazu bewegen konnte, ihm Gesellschaft zu leisten. „Wenn du wissen willst, zu welchem Ergebnis ich gekommen bin, dann gehst du mit, oder du wirst auf den Obduktionsbericht warten müssen.‟ Wagner war immer schon ungeduldig gewesen. Heinz war sicher, er würde nicht allein essen müssen. Und er hatte recht.
Wagner folgte Heinz ins Büro, wo der seinen Arbeitsmantel auszog und auf den Kleiderständer hängte.
Sein Zimmer sah nun lange nicht mehr so chaotisch aus wie vor zwei Monaten, als er nicht gewusst hatte, wo ihm der Kopf vor lauter Sorge um Emilia, seine Schwester, stand. Aber noch immer sah es nicht so aufgeräumt aus, wie er es eigentlich von sich selbst verlangte.
Wagners Gesichtsfarbe hatte in der Zwischenzeit von aschfahl zu seinem normalen Teint gewechselt. Obduktionen nahmen den Armen wirklich mit.
„Die machen den Zwiebelsenf selber‟, sagte Heinz und griff nach seiner Jacke. „Mir ist egal, ob der Senf hausgemacht ist oder nicht. Ich bekomme keinen Bissen hinunter‟, maulte Wagner, doch er klang schon nicht mehr ganz so überzeugt.
Laura Campellis Reich war die Abteilung für Spurensicherung, der sie vorstand. Sie war die einzige Frau, die es je bis zur Leitung geschafft hatte. Hinter der Glaswand, welche die Labore von der restlichen Welt abschottete, war sie zu Hause.
Vor ihr lag das weiße Taufkleidchen des toten Babys. Manche Stellen waren vom Blütenstaub der Lilien verfärbt. Auf dem Markeneinnäher stand „Baby’s Doll‟. Sie nahm mit einer Pinzette einige Fasern ab, um sie zu untersuchen. Während ihre Finger mechanisch arbeiteten und Handgriffe verrichteten, die sie schon Hunderte Male getan hatten, wirbelten ihre Gedanken karussellgleich umher. Wieder einmal kreisten sie um Wagner. Jetzt war er zwar frei, wollte aber nichts mehr von ihr wissen. Verständlich nach dem Fiasko, das sie angerichtet hatte. Jetzt noch wurde sie rot, wenn sie daran dachte. Sie vermieden es beide darüber zu reden, aber vielleicht sollten sie gerade das tun, damit Laura sich endlich wieder auf ihr Leben, ihre Arbeit, konzentrieren konnte. Sie hasste es, im Unklaren zu sein. Wahrscheinlich hatte sie deshalb einen Beruf ergriffen, in dem sie Antworten auf Fragen suchte – und meistens auch fand.
Stirnrunzelnd betrachtete sie die Fasern unter dem Mikroskop. Ihre Nase hatte es ihr bereits verraten. Der Geruch, der dem ganzen Kleid anhaftete, war charakteristisch. Paraffin. Diese Substanz wurde für Mottenkugeln verwendet. Und da war noch was anderes: eine ölige Substanz. Nur wenige Spritzer. Laura war froh, sie überhaupt entdeckt zu haben. Sorgfältig bereitete sie die Untersuchung für den
Gaschromatographen vor. All diese Kleinigkeiten, die Wagner, Heinz und sie zusammentrugen, würden zum Schluss ein Bild ergeben. Der Ermittler, der Gerichtsmediziner und die Spurensicherung. „Laura?‟, riss einer ihrer Mitarbeiter sie aus ihren Gedanken. Sie blickte auf.
„Woran denkst du? Ich habe dich schon zweimal gerufen.‟ Der Vorwurf war nicht zu überhören.
„Ich war in diese Fasern hier vertieft. Da ist Paraffin dran. Und eine unbekannte Substanz.‟ In ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme, als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden.
„Wir haben die Lilien bestimmen können‟, verkündete ihr Kollege. Laura stand von ihrem Platz auf und streckte sich. Diese ewige Sitzerei vor dem Mikroskop bescherte ihr Rückenschmerzen. Sie sollte endlich wieder Joggen gehen. Zum Ausgleich.
Schuldbewusst dachte sie daran, dass ihr letztes Lauftraining mittlerweile über zwei Wochen her war. Wenn sie so weitermachte, würde sie einrosten. Und dick und fett werden, wie ihr Kater, der den ganzen Tag faul herumlag. Laura nahm sich fest vor, an ihrem nächsten freien Tag laufen zu gehen, vielleicht auch ins Fitnesscenter. Die
Jahreskarte hatte sich bisher noch nicht ausgezahlt. Sie hatte einfach zu wenig Zeit gehabt.
Laura ging zu dem Tisch mit dem aufgeschlagenen Pflanzenbuch hinüber. Lilium candidum, die Madonnenlilie. Aber warum gerade diese? Lilienarten gab es Hunderte.
„Ich hab im Internet geschaut‟, sagte ihr Mitarbeiter. „Weiße Lilien sind ein Symbol für Reinheit und Unschuld.‟
Laura kaute auf ihren Lippen. Reinheit und Unschuld. Passender hätte es nicht sein können. Sie sah den leblosen kleinen Körper vor sich, und ihre Augen begannen zu brennen. Sie schluckte und blinzelte ein paar Mal, um das Aufsteigen der Tränen zu unterdrücken. Gleichzeitig ärgerte sie sich über ihre Gefühlsduselei. Bisher hatte sie es immer geschafft, eine professionelle Distanz, und dadurch die notwendige Objektivität, zu wahren. Doch bei diesem Kind schien ihr das nahezu unmöglich.
„Reiß dich zusammen, Laura‟, schalt sie sich.
Im Moment kämpfte sie in jeder möglichen und unmöglichen Situation damit, Fassung zu bewahren. Das lag bestimmt am Tod ihres Vaters, der sie mehr aus der Bahn geworfen hatte, als sie es sich eingestehen wollte. Oder an der vertrackten, ungeklärten Situation mit Wagner. Verflixt, schon wieder dachte sie an ihn.
Sie hatte sich immer für eine selbständige Frau gehalten, die genau wusste, was sie wollte und was nicht. Aber bei Wagner war sie sich eben nicht darüber im Klaren, was sie wollte. Diese eine Nacht war ein Ausrutscher gewesen, redete sie sich ein. Geboren durch die Trauer um ihren Vater und den romantischen Gefühlen, die wieder aufgelebt waren, als Helmut Wagner nach langer Abwesenheit wieder zurück nach Wien gekommen war. Irgendwann würde sie ihren italienischen Stolz hinunterschlucken und mit ihm reden, nahm sie sich vor. Aber erst der Fall. Ja, einen Schritt nach dem anderen. Sie nahm das Pflanzenlexikon und trug es zu ihrem Schreibtisch. Mit einem Klick auf die Maus erwachte der Computer wieder zum Leben. Sie gab als Suchbegriff „Blumensprache‟ ein. Es war unglaublich, was man mit Blumen alles ausdrücken konnte. Vielleicht sollte sie Wagner einfach einen Blumenstrauß schicken? Das schien ihr wesentlich einfacher, als sich auf Worte zu verlassen, die ohnehin nicht das beschreiben konnten, was sie ihm sagen wollte.
Heinz hatte sich zwei Leberkässemmeln und ein kleines Bier bestellt. Andächtig machte er den ersten Bissen, während er Wagner beobachtete, der noch überlegte, ob er seine tatsächlich essen sollte.
Nachdem er runtergeschluckt hatte, wischte er sich mit der Papierserviette den Senf vom Mundwinkel, trank von seinem Bier und sagte: „Die ist zum Essen gedacht, nicht zum Spielen.‟
Wagner knabberte ein wenig an dem überhängenden Leberkäse, legte die Semmel wieder auf den Pappteller und schaute ihn an.
„Also, was hast du gefunden?‟
Heinz biss noch einmal von seiner Semmel ab. Er ließ sich Zeit beim Kauen. Dann sagte er: „Im Grunde nichts.‟
„Wie? Und dafür hast du mich hergeschleift? Du musst doch irgendeinen
Anhaltspunkt haben.‟
Heinz stieß die Luft aus. „Leider nein. Ich kann weder eindeutig bestätigen noch ausschließen, dass es sich um SIDS handelt.‟
„SIDS? Ist das die Fachbezeichnung für plötzlichen Kindstod?‟
Heinz nickte. „Sudden Infant Death Syndrome. Das Schwierige ist, dass ich keine Vorgeschichte habe. Es gibt Faktoren, die SIDS begünstigen. Andererseits könnte das Baby auch erstickt worden sein, zum Beispiel mit einem Kissen. Ich habe Fasern in den Atemwegen gefunden. ‟
„Fasern? Dann ist doch klar, dass es erstickt wurde.‟
Heinz schüttelte den Kopf. „Wenn man davon ausgeht, dass die meisten SIDS-Fälle auf dem Bauch liegen und Fasern einatmen können, ist das kein hinreichendes Indiz für Mord.‟
Wagner dachte nach, ließ Heinz' Worte sacken. „Abgesehen davon, dass du medizinisch nicht sicher bist, hast du dir doch eine persönliche Meinung gebildet. Ich kenne dich. Du hättest mir sonst gleich gesagt, dass du mit deinem Latein am Ende bist.‟
Heinz trank das Bier in einem Zug aus. Dann schob er wortlos das Glas auf der Tischplatte hin und her. Endlich blickte er auf. „Es ist nur eine Vermutung, mehr nicht. Aber dieses Kind wurde vernachlässigt. Auf den ersten Blick hatte ich es auf vier Monate geschätzt, doch jetzt weiß ich, dass es etwa sechs Monate alt sein muss.
Der Säugling ist viel zu leicht und zu klein für sein Alter. Außerdem hatte er verblasste Hämatome auf dem Oberkörper und den Oberarmen, die darauf schließen lassen, dass jemand sehr unsanft mit ihm umgegangen ist. Sein Genitalbereich ist rot und entzündet, was auf eine ungenügende Körperpflege deutet.‟
„Aber das schließt alles nicht aus, dass es trotzdem am plötzlichen Kindstod gestorben ist.‟
„Nein, das nicht. Nur wenn ich in Betracht ziehe, wie seine Leiche liebevoll arrangiert wurde – das Taufkleid und die Lilien – dann passt das für mich einfach nicht zusammen.‟
Wagner bohrte mit seinem Zeigefinger ein Loch in seine Semmel. „Gut, das heißt, du kannst nicht mit Sicherheit sagen, dass kein Verbrechen stattgefunden hat. Wir behandeln das ganze als Mordfall, bis du mich vom Gegenteil überzeugst. Oberste Priorität hat die Identifizierung des Kindes.‟ Seine Stimme klang entschlossen und sein Körper schien unter Strom zu stehen. Heinz wusste, dass Wagner von diesem Moment an alles daran setzen würde, herauszufinden, was tatsächlich passiert war. Und er? Er würde Wagner nach bestem Gewissen und mit all seinen Möglichkeiten unterstützen.