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Kapitel 4

Zehn Stunden vor der Entdeckung von Kevins Leiche

Die anfängliche Euphorie war gewichen. Das Baby quengelte. Die Frau trug es umher, wiegte es, redete auf es ein, doch nichts half. Was, wenn die Schlampe schon während der Schwangerschaft Drogen genommen hatte? Wenn sie Alkohol getrunken hatte?

Sie kannte sich aus. Sie hatte in ihrem Beruf oft mit solchen Fällen zu tun gehabt. Und nicht nur damit. Alles Schlampen, die sich um ihre Kinder nicht kümmerten. Und das war noch die mildeste Form der Misshandlung. Der Junge litt möglicherweise an Entzugserscheinungen. Und wieder war da die Frage: „Was soll ich tun?‟, nur diesmal hatte sie keinen blassen Schimmer. Keine Idee. Außer zu hoffen, dass er sich beruhigte, bevor irgendjemand auf ihn aufmerksam wurde.

Der Kleine war nun seit über zehn Stunden in ihrer Obhut. Die Schlampe hatte sich bisher nicht gerührt. Sie war nicht in Panik verfallen, hatte nicht bei allen Nachbarn angeklopft und nach ihrem Sohn gesucht, hatte nicht die Polizei verständigt. Die Polizei! Wenn die nun kam und Nachforschungen anstellte? Niemand konnte so einfach, mir nichts dir nichts, ein Kind loswerden, ohne dass die Behörden aufmerksam wurden. Und niemand konnte plötzlich ein Kind haben, ohne dass es auffiel. In welches Schlamassel hatte sie sich bloß reingeritten?

Das Quengeln wurde lauter und ging in ein herzzerreißendes Weinen über. Sie strich dem Säugling über das flaumige, weiche Haar und drückte ihm einen Kuss auf den Kopf, murmelte beschwörende Worte, sang ihm vor. Ein Fläschchen hatte er erst vor einer halben Stunde bekommen, die Windel war trocken. Vielleicht war er einfach überreizt. Ihre Arme taten ihr weh, er wog schwerer, als sie gedacht hatte. Aber wenn sie ihn in Sarahs Bett legte, würde man ihn vielleicht durch die Wand hören und was dann? Wollte die Schlampe ihn wieder zurück? Das ging nicht. Auf keinen Fall.

Vielleicht würde ein warmes Bad helfen. Oder das Milchpulver war schuld. Es war für Neugeborene gedacht und vielleicht sättigte es nicht genug. Also füllte sie den Wasserkocher neu, schaltete ihn ein. Sie holte aus Sarahs Zimmer die Babybadewanne. Einen Teil leerte sie in das Fläschchen, den Rest des heißen Wassers schüttete sie in die Plastikwanne. Das Baby weinte immer noch, es war ein Dauerraunzen, und langsam machte sie das wahnsinnig.

Sorgfältig mischte sie nun kaltes Wasser aus der Leitung zu dem heißen. Irgendwo hatte sie ein Gute-Nacht-Bad, aber das hätte sie erst suchen müssen, also gab sie nichts dazu. Sie entkleidete das Kind und tauchte es vorsichtig in das warme Wasser. Es zog im ersten Moment die Füße ein, war dann aber plötzlich ruhig. „Na siehst du? Es geht doch‟, sprach sie zu dem Jungen und vor allem zu sich selbst. Sie hatte bereits angefangen, an sich zu zweifeln. Was für eine Mutter wäre sie bloß geworden, wenn sie es nicht einmal schaffte, über wenige Stunden durchzuhalten. Aber jetzt war sie zufrieden. Das Baby gluckste vor sich hin und jede Mühe war vergessen. Bis sie es aus dem Wasser hob und es abtrocknete. Da begann das Gejammer wieder von vorne.

Sie füllte Milchpulver in das Fläschchen, verschraubte es und schüttelte es gut durch. „Bitte, Baby, trink!‟, murmelte sie, doch es drehte sein Köpfchen weg. Wenn sie ihm den Sauger zwischen die Lippen schob, spuckte er ihn aus.

Wäre der Junge Sarah gewesen, sie hätte ihn eingepackt, ihn in den Kinderwagen gelegt und mit ihm einen Spaziergang gemacht, aber er war nicht ihr Kind. Sie durfte sich nicht mit ihm sehen lassen.

Wie stellst du dir dein weiteres Leben vor? Willst du dich ständig verstecken, immer Angst haben? Wer soll auf ihn aufpassen, wenn du mal weg musst? Wie willst du in deiner Dienststelle erklären, dass du ein Kind hast, wo doch alle wissen, dass Sarah tot ist? Wie den Nachbarn?

Wenn es krank wurde, hatte sie keinen Kinderarzt, keine Versicherung, keinen Mutter-Kind-Pass, keinen Impfpass, gar nichts.

Sie würde als Entführerin entlarvt, verlöre ihren Job, käme ins Gefängnis.

Der Junge schrie nun. „Sei still, Baby, ich kann nicht denken‟, flehte sie in Gedanken. Er wird gehört! Alle können ihn hören, tu was!

Sie klopfte beruhigend auf seinen Rücken und auf den Po, sie barg sein Köpfchen in ihre Hand und umfasste die Stirn. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass das beruhigend wirken sollte.

Er wand sich unter ihrem Griff, bog die Wirbelsäule durch, machte sich steif in ihrem Arm. Aus Furcht, ihn nicht länger halten zu können, und weil sie schon alles versucht hatte und nicht mehr wusste, was sie noch tun konnte, brachte sie ihn nun doch in Sarahs Zimmer und legte ihn in das Bettchen. Sie zog die Spieluhr auf. Die mechanische Melodie von „Weißt du wieviel Sternlein stehen‟ erklang. Aber auch sie nützte nichts und ging im Brüllen unter.

„Bitte, hör auf!‟, flehte sie. „Bitte, hör auf.‟ Das Gebrüll hallte in ihren Ohren, ihr Kopf begann wehzutun.

„Hör auf!‟, schrie sie ihn an. Er reagierte nicht. Sie hielt sich die Ohren zu, aber das brachte kaum Linderung.

Ihr Blick fiel auf das Kissen. Es würde das Weinen des Babys dämpfen. Nur ein bisschen, damit sie einen klaren Gedanken fassen konnte. Nur ganz kurz. Nur, um ihrem malträtierten Gehör ein wenig Pause zu gönnen, nur um durchzuatmen. Sie nahm das Kissen und legte es auf das Gesicht des Jungen. Es strampelte und brüllte. Anstatt leiser zu sein, klang sein Weinen nur noch lauter. Sie presste fester. „Du darfst nicht schreien!‟, flüsterte sie. „Du willst doch nicht, dass ich dich zurückbringen muss. Zurück zu dieser Schlampe!‟ Je lauter er schrie, desto fester drückte sie. Jetzt schien er sie gehört zu haben. Endlich. Denn nun lag er ganz still da. Gut. Das war gut.

Sie nahm das Kissen von seinem Gesicht. Er war ruhig. Wie Sarah. Sarah? Nein, die war tot. Er, er schlief bloß. Er war einfach eingeschlafen. Klar, er musste müde gewesen sein, nachdem er sich so verausgabt hatte. Eine Woge der Zärtlichkeit überschwemmte sie. Sie strich ihm übers Köpfchen. Es fühlte sich warm an. Sarah war kalt gewesen, zum Schluss, als sie sie ihr weggenommen hatten.

„Braves Baby!‟

Erleichtert verließ die Frau das Zimmer. Sie würde schon eine Lösung finden, wie sie ihn behalten konnte. Sie musste nur nachdenken.

Das Liliengrab

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