Читать книгу Das Liliengrab - Valentina Berger - Страница 14
ОглавлениеKapitel 9
Laura betrat die Kinderboutique. Sie blickte sich um und schlenderte zwischen den halbhohen Regalen zu einem Kleiderständer. Es war unglaublich, dass ein simpler Body so viel kostete wie zwei ihrer Jeans. Die Modefarben der Saison waren frühlingshafte Grüntöne und natürlich Rosa und Rot für Mädchen, Olivgrün und Schlamm für Jungs. Leibchen lagen akribisch gefaltet und farblich aufeinander abgestimmt auf Stapeln übereinander. Das ganze Ambiente strahlte kühle Eleganz aus und sie fragte sich, wer in solch einem Geschäft einkaufen ging. Sie hatte keine Ahnung von Kindern, schon gar nicht von Babys, aber bisher hatte sie sich vorgestellt, Kinderkleidung sollte vor allem pflegeleicht und bei mindestens sechzig Grad waschbar sein. Alle diese Dinge sahen aus, als würden sie in die Reinigung gehören.
Eine überschlanke Verkäuferin mit blondiertem Haar trat aus einem hinteren Verkaufsraum, musterte sie und ordnete sie in eine der unteren Schubladen der Kategorie „Ich will mich nur mal umsehen‟ ein.
Umso erstaunter war die Dame, als Laura auf sie zuging und ihr das Foto von dem Taufkleid unter die Nase hielt.
„Ich bin Laura Campelli, Kripo Wien. Haben Sie solche Taufkleider im Sortiment?‟
Die Verkäuferin blickte sich um, als suche sie ihre Vorgesetzte oder zumindest eine Kollegin, die ihr die unangenehme Aufgabe hätte abnehmen können. Aber da weder die eine noch die andere greifbar war, seufzte sie ergeben. „Nein, dies gehört nicht zu unserer aktuellen Kollektion.‟
Laura blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wenn nicht zur aktuellen, dann zu einer alten?‟
Ihr Gegenüber nahm das Foto und studierte es näher. „Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, wir hatten so etwas voriges Jahr.‟
„Dann wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie nachsehen könnten. Es ist wirklich wichtig.‟
Die Frau starrte sie an, als würde sie etwas Unmögliches, Unzumutbares von ihr verlangen. Eben setzte sie an: „Hören Sie, das ist aber sehr viel ...‟
Laura unterbrach sie unfreundlich: „Nein. Sie hören mir zu. Ich ermittle in einem Todesfall. Ein Baby, von dem wir nicht einmal den Namen wissen, hat dieses Taufkleid getragen, als es gefunden wurde. Und wenn Sie mir nicht helfen wollen, kann ich nicht garantieren, dass mir der Presse gegenüber nicht ganz nebenbei rausrutscht, aus welcher Boutique das Taufkleid stammt. Ihrem Geschäftsführer würde die negative Schlagzeile kaum gefallen.‟
Sie schaute die Verkäuferin zuckersüß an. Deren Gesichtsfarbe wechselte von grau über rot zu weiß.
„Das wird aber dauern‟, murmelte sie.
„Das macht nichts. Heute habe ich ohnehin nichts Besseres vor‟, rief Laura, während die Verkäuferin nach hinten ging, um kurz darauf mit zwei großen Katalogen und einem dicken Ordner im Arm zurückzukehren.
Sie schlug einen der dicken Wälzer auf und blätterte darin. Im ersten wurde sie nicht fündig. Erst als sie beim zweiten Katalog bis zu den Taufkleidern gekommen war, drehte sie wortlos das Buch zu Laura um und tippte mit ihren gepflegten Nägeln auf eine Aufnahme. „Hier. Das ist es.‟
„Wie viele von jedem Modell haben Sie normalerweise hier?‟, wollte Laura wissen.
„In der Regel ein oder zwei. Wenn der Bedarf größer ist, bestellen wir nach.‟
„Und in diesem Fall? Haben Sie nachbestellt?‟
Die Frau klappte den Ordner auf, fuhr mit dem Finger eine Spalte entlang und schüttelte dann den Kopf.
„Nein, wir haben beide verkauft. Keine Bestellung.‟
Das wunderte Laura nicht. Das Kleidungsstück kostete bestimmt einige Hundert Euro. Viel zu überteuert, selbst wenn man den Anlass in Betracht zog. Schließlich war es trotz aller Noblesse auch nur ein Stück Stoff und nicht mehr. Zwar ein Designerstück, aber dennoch.
„Sie wissen nicht zufällig, an wen es verkauft wurde?‟, fragte Laura.
Die Verkäuferin seufzte wieder, als müsse sie alle Last der Welt auf ihren zarten Schultern tragen, aber sie drehte sich wortlos um und ging erneut in den hinteren Bereich, wo Laura das Büro vermutete.
Diesmal blieb sie länger weg. Um sich die Zeit zu vertreiben, nahm Laura eines der Kleidchen von dem Ständer. Angeekelt schüttelte sie sich. Das war ja furchtbar. Sie stellte sich das arme Kind vor, das in so einem Zweihundert-Euro-Kleid gefangen war. Tu dies nicht, tu das nicht. Mach dich ja nicht schmutzig. Was war denn das für ein Leben?
Sie war als Kind ein richtiger Wildfang gewesen und hatte ihrer Mutter einigen Kummer bereitet, während ihr Vater den Stolz in seinem Blick nicht mal dann unterdrücken konnte, wenn er mit ihr schimpfte. Sie hatte sich mit ihrem Bruder gemessen und war immer als Siegerin hervorgegangen, auch was aufgeschürfte Knie, blaue Flecken und zerrissene Hosen anging. Sie spürte Tränen aufsteigen, als sie an ihren Vater dachte, der ihre Verletzungen mit Pflaster und Desinfektionsmittel versorgt und zu ihr gesagt hatte: „Nur wer aufgibt, hat schon verloren. Das nächste Mal klappt’s wieder.‟
Mitten in ihre Gedanken knallte ein Ordner auf den Tresen.
„Hier. Das sind die Rechnungsduplikate vom fraglichen Jahr. Wenn bar bezahlt wurde, sehe ich keine Chance herauszufinden, wer der Käufer gewesen ist. Allerdings zahlen die meisten unserer Kunden mit Kredit- oder EC-Karte.‟
Nun war es an Laura, einen Seufzer auszustoßen. Hätte sie nur vorher nicht den Mund so vollgenommen, als sie sagte, sie hätte noch nichts vor. Angesichts der Menge an Rechnungen ging das Geschäft weit besser, als sie erwartet hatte. Es würde einige Zeit in Anspruch nehmen, alles zu sichten. Sie wünschte sich, sie hätte jemanden mitgenommen, der sie unterstützen könnte. Die Verkäuferin dachte gar nicht daran, ihr zu helfen. Im Gegenteil. Sie hatte sich demonstrativ von Laura abgewandt und damit begonnen, einige Strampelanzüge neu zusammenzulegen. An die Arbeit, sprach sich Laura selbst gut zu. Sie war bald so vertieft in die Unterlagen, dass sie um sich alles vergaß.
Einige prominente Namen tauchten auf. So wurden also Nobelbabys eingekleidet. Ob die glücklicher waren als Kinder mit weniger begüterten Eltern, bezweifelte sie. Die Zahlen begannen vor ihren Augen zu flimmern. Da waren Beträge ausgegeben worden, die sie schummerig werden ließen. Wenn sie jemals ein Kind haben sollte, würde sie nie, niemals in solch einem Geschäft einkaufen, schwor sie sich. Nicht einmal für Veronikas Baby wollte sie hier Geld ausgeben.
Endlich hatte sie die beiden Rechnungen gefunden, auf denen die Taufkleider aufgeführt waren.
Sie öffnete den Ordner und nahm die Belege heraus. „Sie haben doch einen Kopierer?‟, rief sie der Verkäuferin zu, die mittlerweile dazu übergegangen war, einen Karton mit Stoffwindeln auszupacken. Laura glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Da waren tatsächlich Blümchen drauf. Gestickte.
Die Verkäuferin wandte sich ihr zu, bemerkte ihren Blick und meinte. „Die sind nicht zum Wickeln. Und das Kopiergerät steht hinten im Büro. Bedienen Sie sich.‟
Nicht zum Wickeln. Natürlich. Aber wozu dienten diese Nobelwindeln dann? Sie musste Veronika davon erzählen.
Laura nahm die Rechnungen und ging nach hinten, wo sie den Kopierer entdeckte. Sie hob den Deckel, legte die Zettel hinein und drückte auf den Knopf. Der Apparat surrte und spuckte gleich darauf die Duplikate aus. Laura nahm die Kopien an sich. Geblümte Windeln hin oder her, mit Kopiergeräten kannte sie sich aus. Im Leben kam es auf die richtigen Prioritäten an.
Heinz Martin startete seinen Wagen und bugsierte ihn aus der engen Parklücke.
„Wohin?‟, fragte er Wagner, der auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.
„Nordwestbahnstraße‟, kam die ebenso knappe Antwort.
Mit einem Seitenblick auf seinen Freund gab er Gas. Heinz war froh, dass Wagner nicht sprach und er seinen Gedanken nachhängen konnte. Was würde sie erwarten? Handelte es sich bei dem vermissten Baby tatsächlich um das tote Kind? „Vielleicht hat es ja einfach der leibliche Vater mitgenommen‟, sagte Wagner, der sich offenbar mit der gleichen Idee herumschlug.
Heinz warf ihm einen kurzen Blick zu und schüttelte kaum merklich den Kopf. Es hatte keinen Sinn, sich an Strohhalme zu klammern. Klar wäre ihm lieber gewesen, wenn es sich um eine simple Sorgerechtsstreitigkeit handelte, doch tief in seinem Inneren wusste er, dass sie gleich den Namen des toten Babys erfahren würden. Er fürchtete sich schon jetzt vor diesem Augenblick.
Sie hatten ihr Ziel erreicht. Heinz fluchte, weil er wieder einmal weit und breit keinen Parkplatz fand.
„Dann stell das Auto einfach dort ab‟, meinte Wagner und deutete auf die Abstellplätze, die zu einem Supermarkt gehörten. Heinz setzte den Blinker und bog auf den Platz ein. Auch hier standen die Autos ziemlich eng, und er fragte sich, ob wirklich alle Fahrzeughalter einkaufen waren, oder ob einige, so wie er, ihre Autos in Ermangelung anderer Parkmöglichkeiten hier abstellten und hofften, dass niemand die Einstundenfrist kontrollierte.
Sicherheitshalber legte er das Arzt-im-Dienst-Schild in seine Windschutzscheibe. Das hatte ihn bisher noch jedes Mal davor bewahrt, abgeschleppt zu werden. Dieser Spaß kostete fast 250 Euro, von den Scherereien und der Tatsache, dass man plötzlich keinen fahrbaren Untersatz mehr hatte, ganz abgesehen.
Für Laura Campelli war es ein Leichtes, anhand der Belege, die sie in der Boutique gefunden hatte, die Besitzer der Kreditkarten auszumachen. Der eine war eine Frau. Die würde sie zuerst aufsuchen. Die zweite Karte war auf den Namen Josef Dattler ausgestellt worden. Er lebte im 13. Bezirk.
Die Frau wohnte in Praternähe und Laura wunderte sich beim Anblick der Wohnblöcke, die sie immer an Hühnerkäfige erinnerten, dass sich jemand aus einer solchen Gegend Preise wie im „Baby’s Doll‟ leisten konnte.
Sie fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock, und als sie an der Wohnungstür klingelte, fiel ihr ein, dass sie genauso gut zu Fuß hätte hinaufgehen können. Sie wollte sich doch mehr bewegen. Aus der Wohnung dröhnte der Fernseher. Kindergeschrei übertönte das ohnehin laute Geräusch des Apparates.
Eine Frau Anfang dreißig öffnete die Tür. Ein Kleinkind saß auf ihrer Hüfte. Das Kind sah aus, als hätte es gerade Schokolade gegessen, sein Mund und die Hände waren verschmiert, ebenso wie der weiße Body. Sogar das T-Shirt der Mutter hatte etwas abbekommen.
Das Kleine brüllte herzzerreißend.
„Ja, bitte?‟
Laura stellte sich vor. Die Frau setzte ihr Kind ab und lud sie mit einer Handbewegung ein hineinzukommen. „Entschuldigen Sie, aber der Kleine hat Schokolade gemopst und jetzt schreit er, weil ich sie ihm weggenommen habe. Ich muss ihm nur schnell etwas anderes anbieten, damit er Ruhe gibt.‟
Laura setzte ein Lächeln auf. Die Mutter schien bemüht zu sein, ihren Nachwuchs gesund zu ernähren. Ob das mit Kindern immer so schwierig war? Ihre romantischen Vorstellungen begannen sich zu verflüchtigen. Sie dachte an Veronika. Plötzlich beneidete sie ihre Schwägerin nicht mehr. Die Frau schnitt einen Apfel in Viertel und gab dem Jungen ein Stück, der tatsächlich mit dem Gebrüll aufhörte und anfing, an dem Obststück zu knabbern.
Die Frau lächelte zufrieden und wandte sich nun Laura zu. „Was kann ich für Sie tun? Sie sagten, Sie sind von der Kripo? Ich hab doch nichts verbrochen, oder?‟ „Nein, nein‟, beeilte sich Laura zu versichern. „Wir suchen nach dem Besitzer eines Taufkleides. Unsere Überprüfung hat ergeben, dass Sie eben solch eines aus der Kollektion von ›Baby’s Doll‹ gekauft haben.‟
Die Frau dachte kurz nach. „Ach das!‟, sagte sie schließlich. „Ich hätte es mir ja nie leisten können, aber meine Tante meinte, ich solle was Besonderes für die Taufe besorgen. Sie war die Taufpatin – sie würde mir den Kaufpreis ersetzen. Ich habe lange gesucht, fand aber keines, das mir gefallen hätte. Dann ging ich mal in der Innenstadt spazieren. Ich würde sonst nie einen Fuß in so einen Laden setzen, aber ich war schon verzweifelt, der Kleine war hungrig und müde. Also bin ich doch rein – und dieses hat mir auf Anhieb gefallen. Ich hab mit meiner Kreditkarte bezahlt. Soviel Bargeld hatte ich nicht bei mir. Und meine Tante hat mir das Geld wiedergegeben.‟ Also fühlte nicht nur Laura sich in dem Ambiente von „Baby’s Doll‟ nicht wohl.
„Was haben Sie denn mit dem Taufkleidchen gemacht? Ich meine nach der Taufe.‟ Gespannt hielt Laura die Luft an.
„Ich hab’s natürlich aufgehoben. Zur Erinnerung.‟
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir das Kleidchen rauszusuchen?‟, fragte Laura.
„Äh, nun – ich weiß nicht genau, wo ich es hab. Aber wenn Sie kurz auf den Kleinen aufpassen, schau ich schnell, ob ich es auf Anhieb finde.‟
Bevor Laura protestieren oder auch nur einen Ton sagen konnte, war die Frau schon im Nebenzimmer verschwunden. Der Kleine sah Laura an und verzog weinerlich sein Gesicht.
Hilflos hockte sich Laura nieder und strich dem Buben über sein Gesicht. Das war die falsche Entscheidung, denn nun fing er erst recht zu weinen an.
„Ist ja gut, Mama kommt gleich‟, murmelte Laura und hoffte, dass sie recht damit hatte.
Die Mutter eilte herbei und warf Laura einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor sie ihr Kind hochhob und ihm einen Kuss auf die immer noch schokoladenverschmierte Wange gab. Zu Laura gewandt meinte sie: „Keine Ahnung, wo das Taufkleid ist. Ich kann es nicht finden. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich würde den Kleinen jetzt schlafen legen. Er ist schon grantig.‟
Laura wunderte sich über den veränderten Tonfall der Frau. Sie war doch vorhin noch so entgegenkommend gewesen. Ob es wirklich nur an dem weinenden, müden Kind lag?
„Ich brauche dieses Taufkleid. Wenn Sie also die Güte hätten, es für mich rauszusuchen, sobald Sie dazu kommen, wäre mir sehr geholfen. Ich ermittle in einem Mordfall‟, sagte sie, bevor sie sich verabschiedete. Sie registrierte den erschrockenen Blick der Frau. Entweder sie hatte ein schlechtes Gewissen, oder die Nachricht, in einen Mordfall verwickelt zu sein, behagte ihr nicht. Wie auch immer, Laura würde noch ein paar Erkundigungen über sie einholen. Am besten fing sie damit bei den Nachbarn an.