Читать книгу Das Liliengrab - Valentina Berger - Страница 6

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Kapitel 1

Es dauerte eine Weile, bis Heinz Martin das Läuten seines Handys als das einordnen konnte, was es war. Verdammt, dachte er, als er die Nachttischlampe anknipste. Er hatte gerade so gut geschlafen. Eine Seltenheit seit er und sein Freund und Kollege,

Helmut Wagner, einen Serienmörder zur Strecke gebracht hatten.

Der Killer hatte damals Heinz’ Schwester Emilia entführt und die Sorge um sie hielt ihn auch jetzt noch, zwei Monate danach, die meisten Nächte wach, obwohl es ihr gesundheitlich schon deutlich besser ging. „Martin‟, meldete er sich unfreundlich.

Als er die Stimme des Anrufers hörte, wurde er schlagartig wach. Je länger er zuhörte, umso versteinerter wurde sein Gesichtsausdruck. Schließlich sagte er: „Ich komme, so schnell ich kann.‟

Während er sich anzog, rief er seinen Freund Helmut Wagner an. Wenn er keinen Schlaf bekam, dann sollte Wagner auch keinen bekommen. Schließlich hatte der nach den Serienmorden ohnehin nur Däumchen gedreht. War nicht viel los gewesen seither.

Sein Freund klang erstaunlich wach, wenn auch nicht wirklich munter. „Ich weiß schon Bescheid. Ich bin auf dem Weg zum Tatort.‟

Es ist ein Kind, dieser Gedanke ließ Heinz nicht los, als er sich in sein Auto setzte und losfuhr. Die ganze Strecke bis hinauf auf den Leopoldsberg konnte er nur an eines denken: Es ist ein Kind.

Die ganze Mannschaft war versammelt: Laura Campelli, die Leiterin der

Spurensicherung, mit ihren Mitarbeitern, sein Freund Wagner, der die Ermittlungen führen würde, und zwei uniformierte Beamte, die als Erste vor Ort gewesen waren und durch ihren Anruf die ganze Maschinerie erst in Gang gesetzt hatten.

Laura Campelli kam auf Heinz zu.

„Wir haben auf dich gewartet. Es ist kein schöner Anblick‟, warnte sie ihn.

Das waren Leichen nie. Doch Heinz war allerhand gewöhnt. Er atmete durch. Dann trat er auf die Erderhebung, hinter der sich der Leichnam befinden musste.

„Heilige Mutter Gottes‟, entfuhr es ihm. Laura hatte unrecht. Denn obwohl das Kind zweifelsohne tot war, was ausreichte, um die Situation verstörend und unnatürlich zu machen, hatte das Bild etwas Ästhetisches an sich. Der kleine Körper war auf Lilien gebettet. Das Kind sah aus, als schliefe es. Auf den ersten Blick zeigte es keine Spuren von Gewalteinwirkung oder Verletzungen.

Der Säugling war nicht älter als vier, fünf Monate, soweit Heinz das beurteilen konnte.

Wagner, der neben ihm hergegangen war, wurde blass und drehte sich weg. Er war, gelinde gesagt, etwas empfindlich, was den Anblick toter Menschen betraf. Diese Zimperlichkeit hatte Wagner in all seinen Dienstjahren nicht ablegen können. Heinz hatte sich damit abgefunden, dass sein Freund etwas anders tickte. Tote Kinder waren selbst für ihn, der täglich mit Leichen zu tun hatte, schwer zu verkraften. Um wieviel verstörender musste es dann für Wagner sein?

Heinz beugte sich zu dem kleinen Körper hinab, ohne ihn anzufassen.

„Auf den ersten Blick gibt es keine Anzeichen für einen gewaltsamen Tod.‟

„Du meinst plötzlicher Kindstod?‟, fragte Wagner.

„Zum Beispiel.‟

Aber wer hatte dann das Kind hierher gebracht und auf Lilien gebettet, anstatt seinen Tod zu melden und es anständig zu begraben? Die einzige Antwort, die ihm darauf einfiel, war: die Eltern. Das Kind war gestorben, sie hatten Panik bekommen und es hier abgelegt. Das war ihre Art, sich von ihrem Baby zu verabschieden und mit ihm von den Träumen und Hoffnungen, die man als junge Familie hegte. Die Lilien, auf denen der Leichnam arrangiert worden war, zeugten davon, dass dieses Kind geliebt worden war. Dass jemand um es trauerte. Dieser Gedanke tröstete Heinz ein wenig. Er sorgte dafür, dass der Leichnam aus allen Richtungen fotografiert wurde. All die Scheinwerfer und das Blitzlichtgewitter durchbrachen die Dunkelheit und gaben dem Ort etwas Unwirkliches. Nachdem die genaue Lage der Leiche festgehalten war, konnte Heinz mit der eigentlichen Untersuchung anfangen. Er maß die Temperatur des toten Babys und die der Umgebung. Hier würde es schwierig werden, einen Todeszeitpunkt festzulegen. Alles war bei einem so kleinen Kind schwieriger als bei Erwachsenen. Nicht nur, weil es anatomische Unterschiede zu berücksichtigen galt. Sondern weil es auch ihm als Gerichtsmediziner, der durchaus immer wieder Kinder auf dem Seziertisch hatte, derart unnatürlich vorkam, dass ein Mensch so jung sterben musste. Verstand gegen Gefühl. Heinz schätzte sich durchaus als rational ein, meistens jedenfalls. Aber hier musste er darum kämpfen, sachlich und nüchtern zu bleiben. Er schob das Kleid hoch, hielt nach Striemen oder Flecken Ausschau. Auf den Beinen waren keine, auch an den Armen nicht, soweit er das erkennen konnte, ohne das Kind zu entkleiden. Und das würde er erst in der Gerichtsmedizin machen, um keine Spuren zu zerstören.

Der Duft der Lilien verursachte bei ihm Übelkeit, und er konnte sich nun besser vorstellen, wie es Wagner jedes Mal ging. Vorsichtig drehte er den kleinen Körper um, tastete mit seinen behandschuhten Händen das Köpfchen nach Verletzungen ab. Nichts. Ihm war klar, dass er vor Ort nicht mehr herausfinden würde. An manchen Leichenfundorten war die Sachlage eindeutig. Ein zertrümmerter Schädel oder eine klaffende Halswunde ließen keinen Zweifel an der Todesursache. Aber hier? Hier würde er nur mit einer Obduktion weiterkommen. Deshalb ordnete er mit einer Handbewegung an, dass die Leiche abtransportiert werden konnte.

Laura Campelli fragte: „Bist du fertig?‟

Heinz nickte. „Der Platz gehört ganz euch. Vielleicht findet ihr ja etwas, das bei der Identifizierung hilft.‟

Er zog seine Handschuhe aus und stellte sich zu Wagner, der ein wenig abseits wartete und dem Treiben zusah.

„Wer tut so etwas?‟, wollte sein Freund von ihm wissen. Er erwartete keine Antwort. Schließlich war es sein Job, eben das herauszufinden. Trotzdem sagte Heinz: „Vielleicht verzweifelte Eltern, die fürchten, niemand würde ihnen glauben, dass ihr Kind am plötzlichen Kindstod gestorben ist. Vielleicht ertrugen sie den Gedanken nicht, ihr Kind solle in einem dunklen Sarg in der Erde verscharrt werden.‟

Wagner starrte ihn an. „Du glaubst anscheinend wirklich, dass es sich hier nicht um ein Verbrechen handelt.‟ Die Skepsis in seinen Worten war unüberhörbar.

„Ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen. Die Sektion wird uns ein paar Antworten geben. Aber ehrlich gesagt, denke ich nicht, dass es Mord ist.‟

„Dann hoffe ich, dass du recht hast.‟

Eines hatte Heinz in den Jahren der Zusammenarbeit mit Wagner gelernt: Dessen Bauchgefühl täuschte sich nur selten. Beunruhigt machte sich Heinz auf den Weg zu seinem Auto. Er würde bei der Autopsie noch größere Sorgfalt walten lassen als sonst.

Das Liliengrab

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