Читать книгу Die Foxworth-Saga 1-3 - V.C. Andrews - Страница 10
Leb wohl, Daddy
ОглавлениеDamals, als ich noch sehr jung war, früh in den fünfziger Jahren, da glaubte ich wirklich, das ganze Leben wäre nichts anderes als ein langer, wunderbarer Sommertag. Für uns hat es jedenfalls so angefangen. Es gibt nicht viel, was ich über unsere früheste Kindheit sagen könnte, außer daß sie sehr schön war, und dafür werde ich immer dankbar sein. Wir waren nicht reich, wir waren nicht arm. Wenn es uns an irgend etwas Notwendigem gefehlt haben sollte, könnte ich es nicht nennen. Aber ich könnte auch keinen besonderen Luxus nennen, den wir gehabt hätten, ohne uns mit anderen zu vergleichen, und in unserer Mittelklassegegend gab es keine großen Unterschiede im Lebensstil. Mit anderen Worten, wir waren schlicht und einfach ganz gewöhnliche Kinder von nebenan.
Unser Vater arbeitete als PR-Mann für einen großen Computerhersteller in Gladstone, Pennsylvania, Einwohnerzahl: 12602. Er hatte Erfolg in seinem Job, unser Vater, denn sein Chef aß oft bei uns zu Abend und pries ihn in den höchsten Tönen. »Es ist dein uramerikanisches, gesundes, so verwünscht gutaussehendes Gesicht zusammen mit deiner charmanten Art, worauf die Leute bei dir hereinfallen. Gott im Himmel, Chris, wer kann einem Burschen wie dir schon widerstehen?«
Ich kann dem nur aus vollem Herzen zustimmen. Unser Vater war perfekt. Einsfünfundachtzig groß, fünfundsiebzig Kilo schwer, das Haar dicht und flachsblond, gerade so viel gewellt, daß es wirklich perfekt wirkte. Seine Augen schimmerten porzellanblau, und immer funkelte ein Lachen in ihnen, das seine Lust am Leben und an jedem Spaß erkennen ließ. Seine Nase war gerade und weder zu lang noch zu schmal oder zu dick. Er spielte Golf und Tennis wie ein Profi und schwamm so viel, daß er das ganze Jahr über tief gebräunt aussah. Immer war er auf dem Sprung zu seinem nächsten Flugzeug, das ihn nach Kalifornien trug, nach Florida, nach Arizona oder nach Hawaii, manchmal sogar ins Ausland, wo sein Job ihn eben hinführte, während wir zu Hause in der Obhut unserer Mutter zurückblieben.
Wenn er spät am Freitagnachmittag zur Tür hereinkam – wie es jeden Freitag geschah, denn er sagte, er könne es nicht länger als fünf Tage aushalten, von uns getrennt zu sein –, dann ging für uns die Sonne auf, ob es draußen regnete oder schneite. Wir badeten uns im Schein seines breiten, fröhlichen Lachens.
Sein Begrüßungsruf schallte durch das ganze Haus, kaum daß er Koffer und Aktentasche abgesetzt hatte: »Kommt in meine Arme, damit ich euch liebhaben kann.«
Mein Bruder und ich hatten uns immer irgendwo in der Nähe der Vordertür versteckt, und sobald er seinen Ruf erschallen ließ, stürzten wir uns hinter einem Sessel oder einem Sofa hervor in seine weit aufgerissenen Arme, die uns drückten und festhielten, und er wärmte unsere Lippen mit seinen wunderbaren Küssen. Freitage – das waren die besten Tage von allen, denn sie brachten uns unseren Daddy wieder nach Hause. In seinen Anzugtaschen brachte er kleine Geschenke für uns mit; in seinem Koffer warteten die größeren Sachen darauf, ausgepackt zu werden, nachdem er unsere Mutter begrüßt hatte, die geduldig wartete, bis er mit uns fertig war.
Wenn wir unsere kleinen Begrüßungsgeschenke aus den Jackentaschen in den Händen hielten, zogen Christopher und ich uns zurück, um zuzusehen, wie Mammi langsam auf Daddy zuschwebte, ein wunderbares Willkommenslächeln auf den Lippen, das seine Augen strahlen ließ. Er nahm sie in die Arme und blickte ihr ins Gesicht, als habe er sie mindestens ein Jahr nicht mehr gesehen.
An den Freitagen verbrachte Mammi den halben Tag in ihrem Schönheitssalon, ließ sich die Haare waschen und die Fingernägel polieren, und wenn sie nach Hause kam, nahm sie noch ein langes Bad mit parfümierten Ölen. Ich schlich mich gerne in ihr Ankleidezimmer und wartete darauf, sie dort in ihrem durchsichtigen Neglige erscheinen zu sehen. Sie setzte sich an ihren Schminktisch und legte mit faszinierender Sorgfalt das Make-up auf. Und ich, wild, jede Einzelheit zu lernen, verschlang jede ihrer Bewegungen mit den Augen, wenn sie sich aus einer hübschen Frau in ein Wesen von so atemberaubender Schönheit verwandelte, daß es der Alltagswirklichkeit ganz entrückt schien. Am unglaublichsten an dieser Verwandlung war aber, daß unser Vater glaubte, sie trüge überhaupt kein Make-up! Er dachte, sie wäre von Natur immer eine solche hinreißende Schönheit.
Liebe war ein Wort, mit dem bei uns zu Hause verschwenderisch umgegangen wurde. »Liebst du mich? – Ich habe dich ganz furchtbar lieb. Habe ich dir gefehlt? – Bist du glücklich, daß ich wieder zu Hause bin? – Hast du an mich gedacht, als ich nicht da war? Jede Nacht? Hast du dich hin und her gewälzt und dir gewünscht, ich wäre bei dir und hielte dich im Arm? Wenn du das nicht mehr wünschen würdest, Corinna, dann müßte ich sterben.«
Mammi wußte genau, wie man solche Fragen beantwortete – mit den Augen, mit einem weichen Flüstern und mit Küssen.
Eines Tages kamen Christopher und ich aus der Schule nach Hause gerannt, und der Winterwind blies uns zur Vordertür herein. »Zieht euch die Stiefel in der Garderobe aus!« rief Mammi uns aus dem Wohnzimmer zu, wo wir sie vor dem Feuer sitzen sehen konnten. Sie strickte an einem kleinen weißen Jäckchen, das einer Puppe gepaßt hätte. Ich dachte mir, es müßte ein Weihnachtsgeschenk für mich sein, für eine meiner Puppen.
»Und zieht euch auch die nassen Stiefelsocken aus, bevor ihr hier hereinkommt«, fügte sie noch hinzu.
Wir streiften unsere Stiefel ab, warfen unsere Anoraks in die Garderobe und liefen dann auf Socken ins Wohnzimmer mit seinem flauschigen weißen Teppich. Dieser pastellfarbene Raum, die ganze Einrichtung auf die Schönheit unserer Mutter abgestimmt, war die meiste Zeit verbotenes Terrain für uns. Es war unser Gesellschaftszimmer, Mammis Reich, und wir fühlten uns auf dem aprikosenfarbenen Brokatsofa oder den samtbezogenen Stühlen nie recht wohl. Wir mochten viel lieber Daddys Zimmer mit seiner dunklen Holztäfelung und der stabilen Ledercouch, auf der wir unsere Kämpfe austragen konnten, ohne je fürchten zu müssen, irgendwelche bleibenden Schäden anzurichten.
»Es friert draußen, Mammi!« keuchte ich atemlos und ließ mich zu ihren Füßen auf den Boden fallen, um die Beine am Feuer aufwärmen zu können. »Aber der Nachhauseweg auf dem Fahrrad war einfach toll. Alle Bäume sind mit diamantenen Eiszapfen behangen, und die Büsche glitzern wie Schmuckkästen. Es ist wie im Märchenland da draußen, Mammi. Für gar nichts auf der Welt möchte ich irgendwo unten im Süden leben, wo es nie schneit!«
Christopher sagte nichts zum Wetter und seiner eisigen Schönheit. Er war zwei Jahre und fünf Monate älter als ich und wußte schon viel mehr; aber das weiß ich jetzt erst. Er wärmte sich die eisigen Füße wie ich, doch dabei sah er zu Mammis Gesicht hinauf und zog in einem beunruhigten Stirnrunzeln die dunklen Augenbrauen zusammen.
Ich blickte deshalb auch zu ihr hin und wunderte mich, was meinen Bruder so beunruhigen mochte. Sie strickte schnell und geschickt, während sie hin und wieder einen Seitenblick auf ein Strickmuster warf.
»Mammi, ist alles in Ordnung mit dir?« fragte Christopher.
»Natürlich«, antwortete sie und schenkte ihm ein zartes, liebevolles Lächeln.
»Ich finde, du siehst ein bißchen müde aus.«
Sie legte das Jäckchen zur Seite. »Ich war heute beim Doktor, weißt du«, erklärte sie und streichelte Christopher die rosige, kalte Wange.
»Mammi!« rief er besorgt. »Bist du krank?«
Sie lachte leise und fuhr ihm mit den langen, schlanken Fingern durch seine strubbeligen blonden Locken. »Christopher Dollanganger, du solltest mich doch eigentlich besser kennen. Ich habe schon eine Weile beobachtet, wie du mich mit mißtrauischen Gedanken in deinem kleinen Kopf anschaust.« Sie nahm unsere Hände und legte sie auf die Wölbung ihres Bauches.
»Fühlt ihr was?« fragte sie, wieder mit diesem geheimnisvollen, vergnügten Gesichtsausdruck.
Schnell zog Christopher mit blutrotem Kopf die Hand weg. Aber ich ließ meine, wo sie war, und wartete.
»Was fühlst du, Cathy?«
Unter meiner Hand, unter ihren Kleidern ging etwas Unheimliches vor. Kleine, sachte Bewegungen liefen durch ihren Bauch. Ich sah zu ihrem Gesicht auf, und bis auf den heutigen Tag kann ich mich genau daran erinnern, wie lieblich es damals für mich aussah – wie das der Madonna von Raffael.
»Mammi, ich spüre dein Mittagessen. Hast du Bauchweh?« Ihre Augen funkelten vor Lachen, und sie sagte, ich solle noch einmal raten.
Ihre Stimme war weich und doch entschieden, als sie uns endlich ihre Neuigkeit verkündete. »Meine lieben Kleinen, ich bekomme Anfang Mai ein Baby. Ja, der Doktor hat mir heute sogar gesagt, daß er in meinem Bauch zwei Herzen schlagen hört. Und das heißt, ich bekomme Zwillinge ... oder, was der liebe Gott verhüten möge, vielleicht Drillinge. Noch nicht einmal euer Daddy weiß das bis jetzt. Verratet ihm nichts, bevor ich ihn damit überraschen kann.«
Völlig überrascht schielte ich zu Christopher hinüber, um zu sehen, wie er diese Sache aufnahm. Er schien amüsiert zu sein, aber auch noch immer aufgeregt. Ich sah wieder in Mammis schönes, vom Feuer beschienenes Gesicht. Dann sprang ich auf und rannte in mein Zimmer.
Ich warf mich auf mein Bett und heulte los, ich schwamm regelrecht weg! Babys – und gleich zwei oder mehr! Ich war doch das Baby! Ich wollte keine jammernden, schreienden Winzlinge, die mir meinen Platz streitig machten! Ich schluchzte und verprügelte mein Kopfkissen, um wenigstens irgend jemanden meine Wut spüren zu lassen.
Schließlich setzte ich mich auf und überlegte, ob ich nicht besser fortlaufen sollte.
Jemand klopfte leise an meine Tür, die ich hinter mir abgeschlossen hatte. »Cathy«, sagte meine Mutter, »darf ich nicht reinkommen und mit dir darüber reden?«
»Geh weg!« schrie ich. »Ich hasse deine Babys jetzt schon!«
Ja, ich wußte genau, was jetzt auf mich zukam. Ich würde das mittlere Kind sein, das, um das sich niemand kümmerte, das den Eltern egal war. Sie würden mich vergessen. Keine Geschenke mehr freitagnachmittags. Daddy würde nur noch an Mammi denken, an Christopher und diese ekelhaften Babys, die an meine Stelle treten sollten.
Am Abend kam mein Vater zu mir, direkt nachdem er zu Hause angekommen war. Ich hatte die Tür wieder aufgeschlossen, nur für den Fall, daß er mich sehen wollte. Ich schielte verstohlen nach seinem Gesicht, denn ich liebte ihn ja so furchtbar. Er sah traurig aus, und er hatte eine große, in Silberpapier verpackte Schachtel mit einer riesigen rosa Seidenschlaufe darauf bei sich.
»Wo steckt denn meine Cathy?« fragte er zärtlich, während ich unter vorgehaltenen Händen hervorspähte. »Du bist mir ja gar nicht entgegengelaufen, als ich nach Hause kam. Du hast nicht hallo gerufen, du hast mich nicht mal angesehen. Cathy, ich werde furchtbar traurig, wenn du mir nicht in die Arme gelaufen kommst und mir einen Kuß gibst. Das tut mir richtig weh.«
Ich antwortete nichts, rollte mich aber auf den Rücken und blickte ihm direkt und wütend in die Augen. Wußte er denn nicht, daß ich das ganze Leben lang sein Liebling sein wollte? Warum mußten er und Mammi sich auch noch mehr Kinder bestellen? Reichten ihnen zwei denn nicht?
Er seufzte. Dann setzte er sich auf meine Bettkante. »Weißt du was? Das ist das erstemal in deinem Leben, daß du mich wütend anstarrst. Das ist der erste Freitag, daß du nicht in meine Arme gelaufen bist. Du glaubst es mir vielleicht nicht, aber ich lebe gar nicht wirklich, bevor ich nicht am Wochenende nach Hause gekommen bin.«
Ich schmollte. So leicht war ich nicht zu haben. Er brauchte mich ja jetzt nicht mehr. Er hatte seinen Sohn, und eine Fuhre schreiender Babys war schon unterwegs. Bei diesen Kindermassen würde man mich einfach vergessen.
»Weißt du was?« begann er wieder und beobachtete mich genau. »Ich habe auch immer geglaubt – vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet–, daß, wenn ich eines Tages einmal heimkommen würde und nicht ein einziges Geschenk für deinen Bruder und dich dabei hätte ... ich dachte, ihr würdet mir auch dann ganz verrückt um den Hals fallen und euch freuen, daß ich wieder da bin. Ich dachte, ihr habt mich lieb und nicht meine Geschenke. Ich habe irrtümlich geglaubt, daß ich ein guter Vater bin und daß ihr mich irgendwie sehr liebhaben würdet. Und daß ihr wüßtet, daß ihr immer ganz viel Platz in meinem Herzen haben werdet, selbst wenn eure Mutter und ich einmal ein ganzes Dutzend Kinder hätten.« Er hielt inne, seufzte, und seine blauen Augen verdunkelten sich. »Ich dachte, meine Cathy würde immer wissen, daß sie immer ein ganz besonderes Mädchen für mich bleiben wird – mein erstes.«
Ich warf ihm einen wütenden, verletzten Blick zu. Dann schluchzte ich: »Aber wenn Mammi erst ein anderes kleines Mädchen hat, dann sagst du dem das gleiche!«
»Würde ich das tun?«
»Klar«, heulte ich und hätte am liebsten bereits vor Eifersucht laut losgebrüllt. »Du würdest sie sogar lieber haben als mich, denn sie wäre bestimmt kleiner und ganz raffiniert.«
»Ich würde sie vielleicht genauso liebhaben, aber bestimmt nicht mehr.« Er streckte mir seine Arme entgegen, und ich konnte ihm nicht länger widerstehen. Ich warf mich hinein und klammerte mich an ihn, als ginge es um Leben oder Tod. »Sssst«, summte er mir tröstend zu, während ich weinte. »Wein doch nicht, sei nicht eifersüchtig. Wir haben dich doch deshalb nicht weniger lieb. Und denk doch mal, Cathy, richtige lebendige Babys, das ist was anderes als deine Puppen. Deine Mutter wird mehr Arbeit haben, als sie alleine schafft, und dann ist sie auf deine Hilfe angewiesen. Wenn ich dann unterwegs bin, würde ich mich viel besser fühlen, wenn ich wüßte, daß eine liebe große Tochter Mammi hilft und alles tut, damit das Leben für uns leichter wird.« Seine warmen Lippen drückten sich auf meine tränennassen Wangen. »Komm, pack jetzt dein Geschenk aus, und sage mir, wie es dir gefällt.«
Erst mußte ich ihm mal das Gesicht abküssen und immer wieder drücken, damit er nicht mehr traurig schaute. Ich sah ja, wie sehr er darauf wartete. In dem wunderbaren Paket war eine silberne englische Spieluhr. Die Musik spielte, und eine rosa angezogene Ballerina drehte sich langsam vor einem herrlichen verzierten Spiegel. »Es ist auch ein Schmuckkasten«, erklärte Daddy mir und schob mir einen winzigen Goldring mit einem roten Stein, den er einen Granat nannte, auf den Finger. »Als ich die Spieluhr sah, wußte ich sofort, daß du sie haben mußtest. Und mit diesem Ring schwöre ich dir für immer, daß ich meine Cathy ein ganz kleines bißchen lieber habe als jede andere Tochter auf der Welt – solange wie sie das niemandem anderen sagt als sich selbst.«
Dann kam ein sonniger Dienstag im Mai; Daddy war zu Hause. Seit zwei Wochen trieb er sich schon von morgens bis abends bei uns herum und wartete darauf, daß diese Babys sich endlich blicken ließen. Mammi machte einen unruhigen, ungemütlichen Eindruck, und Mrs. Bertha Simpson hatte sich in unserer Küche eingenistet, kochte uns das Essen und warf Christopher und mir betont aufheiternde Blicke zu. Sie war unser verläßlichster Babysitter. Sie wohnte ein Haus weiter und sagte immer, unsere Eltern sähen mehr wie Bruder und Schwester als wie Mann und Frau aus. Sie war eine grimmige, verkniffen wirkende Person, die selten etwas Nettes über jemanden von sich gab. Und sie kochte immer Gemüseeintopf. Ich haßte Gemüse.
Als es auf das Abendessen zuging, stürmte Daddy plötzlich ins Wohnzimmer, um meinem Bruder und mir zu sagen, daß er Mammi jetzt ins Krankenhaus fahren müßte. »Macht euch keine Sorgen. Alles geht gut aus. Hört auf Mrs. Simpson und macht eure Hausaufgaben. In ein paar Stunden wißt ihr dann vielleicht schon, ob ihr Brüder oder Schwestern habt ... oder beides.«
Er kehrte nicht vor dem nächsten Morgen zurück. Er war unrasiert und müde, der Anzug zerknittert, aber er strahlte uns glücklich entgegen. »Na, jetzt ratet mal! Jungen oder Mädchen?«
»Jungen!« schrie Christopher los, der sich zwei Brüder wünschte, denen er das Fußballspielen beibringen konnte. Ich wollte auch Jungen ... keine kleinen Mädchen, die Daddy von seiner ersten Tochter ablenken konnten.
»Ein Junge und ein Mädchen«, verkündete Daddy stolz. »Die hübschesten kleinen Dinger, die ihr je gesehen habt. Kommt, zieht euch an, dann fahr’ ich euch hin, und ihr könnt sie euch selber ansehen.«
Ich ging nur widerstrebend mit und zögerte sogar noch hinzusehen, als Daddy mich hochhielt, damit ich durch das Sichtfenster des Babyraums auf zwei Säuglinge starren konnte, die eine Schwester auf dem Arm trug. Sie waren so winzig! Ihre Köpfe waren nicht größer als kleine Äpfel. Kleine rote Fäuste zappelten umher. Eins schrie, als habe man es mit einer Nadel gepiekt.
»Oh«, seufzte Daddy, küßte mich und drückte mich an sich. »Der liebe Gott meint es gut mit mir, daß er mir noch eine Tochter und noch einen Sohn geschickt hat, die so gesund und perfekt sind wie das erste Paar.«
Erst dachte ich noch, ich würde sie beide hassen, besonders den Schreihals, der Carrie hieß und zehnmal lauter weinte und brüllte als der stille Cory. Es wurde bald unmöglich, eine Nacht durchzuschlafen, solange die beiden im Zimmer gegenüber von meinem schrien. Und doch, als sie anfingen größer zu werden und zu lächeln und ihre Augen aufleuchteten, wenn ich sie auf den Arm nahm, verdrängte etwas Warmes und Mütterliches meinen Neid. Plötzlich merkte ich, daß ich nach Hause rannte, um sie zu sehen, mit ihnen zu spielen, die Windeln zu wechseln, die Flasche zu geben und zwei herrliche Babys auf den Armen zu wiegen. Sie machten wirklich mehr Spaß als Puppen.
Ich merkte auch bald, daß Eltern tatsächlich in ihrem Herzen Platz für mehr als zwei Kinder haben, und ich hatte dann auch Raum in meinem Herzen, sie liebzuhaben – selbst die kleine Carrie, die genauso hübsch war wie ich oder vielleicht sogar noch ein bißchen hübscher. Sie wuchsen so schnell. Wie Unkraut, meinte Daddy. Doch Mammi sah sie sich oft besorgt an, denn sie wuchsen nicht so schnell, wie Christopher und ich im gleichen Alter gewachsen waren. Der Doktor wurde zu Rate gezogen, versicherte ihr aber schnell, daß Zwillinge oft in der Größe hinter Einzelkindern zurückblieben.
»Sieh mal, Mammi«, sagte Christopher, »Doktoren wissen einfach alles.«
Daddy sah von seiner Zeitung auf und lächelte. »Da hörst du meinen Sohn, den angehenden Doktor – nein, Chris, niemand weiß alles.«
Daddy war der einzige, der meinen älteren Bruder Chris nannte.
Wir hatten einen verdammt komischen Nachnamen, der höllisch schwer zu buchstabieren war: Dollanganger. Aber weil wir alle so blond waren, mit sehr hellem Haar und heller Haut (außer Daddy mit seiner nie verblassenden Bräune), nannte Jim Johnston, Daddys bester Freund, uns die ›Meißners‹. Er sagte, wir sähen wie diese deutschen Porzellanfiguren aus, die man zur Zierde auf Kaminsimse oder Wohnzimmerschränke stellt. Bald nannte uns die halbe Nachbarschaft »Meißners«; das war erheblich leichter auszusprechen als Dollanganger.
Als die Zwillinge vier waren, Christopher vierzehn und ich gerade meinen zwölften Geburtstag gefeiert hatte, erlebten wir einen ganz besonderen Freitag. Es war Daddys sechsunddreißigster Geburtstag, und wir bereiteten eine Überraschungsparty für ihn vor. Mammi sah mit ihrem frisch frisierten Haar wie eine Märchenprinzessin aus. Ihre Nägel schimmerten frisch lackiert, ihr langes Abendkleid war von zartestem Blau, und ihre Perlenkette baumelte sacht, während sie hin und her huschte, um den Tisch im Eßzimmer perfekt für Daddys Geburtstag herzurichten. Die vielen Geschenke für ihn türmten sich auf der Anrichte. Es sollte eine kleine, intime Feier werden, nur für die Familie und ein paar von unseren engsten Freunden.
»Cathy«, sagte Mammi und warf mir einen von ihren schnellen Seitenblicken zu, »würde es dir etwas ausmachen, wenn du schnell noch einmal die Zwillinge für mich in die Wanne stecktest? Ich habe sie vor dem Mittagsschlaf noch gebadet, aber sobald sie wach wurden, sind sie zum Sandkasten gerannt, und jetzt brauchen sie noch ein Bad.«
Es machte mir nichts. Mammi sah viel zu elegant aus, um zwei schmutzigen Vierjährigen ein schaumspritzendes Bad zu verabreichen. Es hätte ihre Haare, ihre Nägel und ihr Kleid ruiniert.
»Und wenn du mit ihnen fertig bist, dann geht ihr beide, Christopher und du, auch eben schnell noch in die Wanne und macht euch frisch. Zieh dir dein neues rosa Kleid an, Cathy, und mach dir die Haare zurecht. Und, Christopher, heute bitte keine Blue jeans. Ich möchte, daß du ein weißes Hemd und Krawatte trägst. Dazu ziehst du deine hellblaue Sportjacke an und die beigen Hosen.«
»Ach nein, Mammi, ich hasse diese Anzieherei«, maulte Christopher.
»Tu bitte, was ich sage, Christopher. Es ist für deinen Vater. Du weißt, daß er auch eine Menge für dich tut. Das mindeste, was du ihm schuldest, ist, daß er an seinem Geburtstag stolz auf seine Familie sein kann.«
Er schlurfte davon und überließ es mir, die Zwillinge im Garten einzusammeln. Sie begannen sofort zu heulen. »Einmal baden am Tag ist genug!« schrie Carrie. »Wir sind schon ganz sauber! Nein! Aufhören! Wir vertragen keine Seife. Wir hassen das Haarewaschen! Wenn du das noch mal mit uns machst, sagen wir es Mammi!«
»Hah!« rief ich. »Was meint ihr wohl, wer mich hergeschickt hat, euch schmutzige kleine Monster in die Wanne zu stecken? Meine Güte, wie schafft ihr zwei das nur immer wieder, in kurzer Zeit so dreckig zu werden?«
Sobald sie erst mal warmes Wasser auf der nackten Haut hatten, die kleinen gelben Gummienten und Plastikboote in den Fluten schwammen und die große Schwester kräftig naßgespritzt worden war, ließen die beiden sich ohne allzu großen Widerstand von Kopf bis Fuß säubern. Anschließend gab es frische Sachen, denn auch die Kleinen gingen schließlich gleich zu einer Party – heute war einer der berühmten Freitage, und Daddy kam heim.
Cory steckte ich in einen hübschen weißen Anzug mit kurzen Hosen. Erstaunlicherweise schaffte er es immer, sich ein weniger sauberer zu halten als seine Zwillingsschwester. Trotz verzweifelter Bemühungen schaffte ich es dann wieder einmal nicht, seine widerspenstige Stirnlocke zu bändigen. Sie ringelte sich immer wieder wie ein raffiniertes Schweineschwänzchen in die falsche Richtung. Und, ob man es glaubt oder nicht, Carrie wollte ihr Haar unbedingt ganz genauso geringelt haben!
Als ich sie beide endlich angezogen hatte und sie wie zwei lebendig gewordene Porzellanpuppen aussahen, gab ich sie in Christophers Obhut, nicht ohne ihn nachdrücklichst zu ermahnen, sie ja keine Minute mehr aus den Augen zu lassen.
Die Zwillinge maulten und jammerten, während ich selbst dann schnell ein Bad nahm, die Haare wusch und auf Lockenwickler drehte. Zwischendurch schielte ich aus der Badezimmertür nach den Zwillingen, die Christopher versuchte mit Mutter-Gans-Versen bei Laune zu halten.
»Hallo!« meinte Christopher, als ich in meinem rosa Kleid mit den Faltenärmeln erschien, »du siehst ja gar nicht so schlecht aus.«
»Nicht so schlecht? Mehr fällt dir zu mir nicht ein?«
»Na, für eine Schwester ist das mein höchstes Lob.« Er sah auf seine Uhr, klappte das Kinderbuch zu, nahm die Zwillinge an den Händen und rief: »Daddy muß jede Minute hiersein – schnell, Cathy!«
Es wurde fünf Uhr und später, aber wir hielten vergeblich nach Vaters grünem Cadillac Ausschau. Unter den Wagen, die unsere lange Auffahrt bevölkerten, war nichts von ihm zu entdecken. Die geladenen Gäste trudelten nach und nach ein, saßen im Wohnzimmer herum und gaben sich alle Mühe, gute Laune zu verbreiten, während Mammi immer nervöser auf und ab lief. Normalerweise riß Daddy spätestens um vier die Tür auf, manchmal sogar noch früher.
Sieben Uhr, und wir warteten immer noch.
Das herrliche Essen, mit dem Mammi sich soviel Mühe gemacht hatte, verschmorte im Ofen. Um sieben kamen sonst die Zwillinge ins Bett, und sie wurden jetzt immer hungriger, müder und quengeliger. Alle paar Minuten riefen sie: »Wann kommt Daddy endlich?«
»Tja, Corinna«, versuchte Jim Johnston einen Scherz, »sieht aus, als habe sich Chris anderswo sein Abendessen besorgt.«
Seine Frau verpaßte ihm einen vernichtenden Blick für die Taktlosigkeit.
Mein Magen knurrte und ich begann mir genausoviel Sorgen zu machen wie Mammi. Sie lief immer wieder zu unserem großen Panoramafenster und starrte die Auffahrt hinunter.
»Da!« rief ich plötzlich, denn ich hatte einen Wagen einbiegen sehen. »Vielleicht ist er das endlich.«
Aber das Auto, das dann vor unserer Tür hielt, war weiß, nicht grün. Und auf dem Dach hatte es eines von diesen roten Lichtern. An den Türen stand unübersehbar Autobahn-Polizei.
Mammi unterdrückte ein Stöhnen, als zwei Polizisten in blauen Uniformen bei uns klingelten.
Sie schien einen Augenblick lang wie versteinert. Ihr Herzschlag schien auszusetzen, und ihre Augen weiteten sich. Etwas Wildes, Furchterregendes griff nach meinem Herzen, als ich sie so sah.
Jim Johnston öffnete schließlich die Tür und ließ die beiden Polizisten herein. Sie sahen sich unsicher um und erkannten sicher zu ihrem eigenen Entsetzen sofort, daß sie bei uns auch noch ausgerechnet auf einer Geburtstagsfeier gelandet waren. Ein Blick auf den Bescherungstisch im Eßzimmer genügte.
»Mrs. Christopher Garland Dollanganger?« erkundigte sich der Ältere der beiden, während er die anwesenden Frauen musterte.
Unsere Mutter nickte knapp und steif. Ich rückte näher zu ihr, Christopher genauso. Die Zwillinge spielten auf dem Boden mit ihren kleinen Autos. Das unerwartete Auftauchen von zwei Polizisten interessierte sie nicht weiter. Sie warteten auf Daddy.
Der freundlich aussehende Mann in Uniform mit dem tiefroten Gesicht trat näher zu Mammi. »Mrs. Dollanganger«, begann er mit einer eigentümlich flachen Stimme, die mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte, »es tut uns furchtbar leid, aber es hat einen Unfall auf der Greenfield-Autobahn gegeben.«
»Oh ...«, hauchte Mammi und zog Christopher und mich an sich. Ich spürte, daß sie am ganzen Körper zitterte, genau wie ich selbst. Meine Augen waren von den kupfernen Uniformknöpfen des Polizisten gefangen. Ich starrte unentwegt darauf, wie hypnotisiert.
»Ihr Mann war in diesen Unfall verwickelt, Mrs. Dollanganger.«
Mammi stöhnte und wäre zusammengebrochen, wenn Chris und ich sie nicht gestützt hätten.
»Wir haben bereits eine Reihe Autofahrer als Unfallzeugen vernommen, und es steht einwandfrei fest, daß Ihr Mann nicht daran schuld war, Mrs. Dollanganger«, fuhr die Stimme fort, ohne irgendein Gefühl zu verraten. »Nach den vorliegenden Aussagen hatte der Fahrer eines blauen Ford, offenbar in betrunkenem Zustand, die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Er wechselte in Schlangenlinien von einer Spur zur anderen und raste schließlich auf die Gegenfahrbahn, wo er frontal mit dem Fahrzeug Ihres Mannes kollidierte. Es scheint, daß Ihr Mann noch ein Ausweichmanöver versucht hat, denn es gelang ihm noch, den Wagen zur Seite zu reißen. Aber ein von einem anderen Fahrzeug, vermutlich einem Lastwagen, gefallenes Maschinenteil, muß Ihren Mann daran gehindert haben, dieses Manöver, das ihm das Leben gerettet hätte, zu Ende zu bringen. Deshalb erwischte ihn der Ford an der Seite, und der Wagen Ihres Mannes überschlug sich mehrfach. Er hätte auch jetzt noch eine gute Chance gehabt, aber dabei geriet er auf die andere Fahrbahn, und ein entgegenkommender Lastwagen raste in seinen Wagen. Der Cadillac überschlug sich wieder ... und dann ... dann fing er Feuer.«
Noch nie war ein Zimmer mit so vielen Leuten so schlagartig still gewesen. Selbst die Zwillinge sahen von ihrem ahnungslosen Spiel auf und starrten die Polizisten an.
»Mein Mann?« flüsterte Mammi so schwach, daß ihre Stimme kaum noch zu verstehen war. »Er ist nicht ... nicht ... er ist nicht tot ...?«
»Madam«, sagte der rotgesichtige Polizist sehr würdevoll, »es schmerzt mich außerordentlich, Ihnen an einem Festtag schlechte Nachrichten bringen zu müssen.« Er blickte in die Runde und atmete tief durch. »Es tut mir sehr leid, Madam, Ihnen diese Mitteilung machen zu müssen ... man hat sofort alle Rettungsmaßnahmen eingeleitet ... aber, Madam, ja ... er muß sofort tot gewesen sein, nach dem, was der Arzt festgestellt hat.«
Hinter uns schrie jemand auf.
Mammi schrie nicht. Ihre Augen blickten leer, dunkel und gequält. Die Verzweiflung wischte ihr die strahlenden Farben vom Gesicht und verwandelte es in eine Totenmaske. Ich sah zu ihr auf, versuchte ihr mit meinen Augen zu erklären, daß nichts davon wahr sein könne. Nicht Daddy! Nicht mein Daddy! Er konnte nicht tot sein ... er konnte einfach nicht! Tod, das war etwas für alte Leute, für kranke Leute ... nicht für jemanden, der so geliebt und gebraucht wurde, der so jung war.
Doch da war meine Mutter mit ihrem grauen Gesicht, ihrem starren Blick, den Händen, die ein unsichtbares nasses Tuch auszuwringen schienen. Jede Sekunde, die ich sie beobachtete, schienen ihre Augen tiefer in die Höhlen zu sinken.
Ich begann zu weinen.
»Madam, wir haben hier ein paar Dinge, die beim ersten Zusammenstoß aus dem Wagen geschleudert wurden. Wir haben Ihnen mitgebracht, was noch zu retten war.«
»Gehen Sie weg!« schrie ich den Polizisten an. »Raus hier! Das ist nicht mein Daddy! Ich weiß, daß Sie lügen! Er hat nur eben bei einem Drugstore angehalten, um Eis zu kaufen. Er kommt gleich. Verschwindet!« Ich stürzte auf den Polizisten los und hämmerte ihm die kleinen Fäuste auf die Brust. Er versuchte mich behutsam abzuwehren, und dann kam Christopher und zog mich von ihm fort.
»Bitte«, sagte der Beamte, »könnte sich nicht jemand von Ihnen um das Kind kümmern?«
Der Arm meiner Mutter legte sich um meine Schulter. Sie zog mich eng an sich. Hinter uns murmelten die Leute erschüttert durcheinander – aufgeregtes Geflüster, und dazu gesellte sich ein angebrannter Geruch aus der Küche.
Ich wartete darauf, daß irgend jemand meine Hand nahm und mir erklärte, der liebe Gott würde niemals das Leben eines Mannes, wie unser Vater einer war, fortnehmen. Aber niemand kam zu mir. Nur Christopher legte mir den Arm um die Hüfte, und so standen wir alle drei aneinandergedrückt – Mammi, Christopher und ich.
Es war Christopher, der schließlich seine Stimme wiederfand, eine so fremde, heisere Stimme: »Sind Sie absolut sicher, daß es unser Vater war? Wenn der grüne Cadillac Feuer gefangen hat, muß der Mann am Steuer furchtbar verbrannt gewesen sein. Es könnte also auch jemand anderes als unser Daddy gewesen sein.«
Aus Mammis Kehle rang sich ein tiefes, dumpfes Schluchzen, doch in ihren Augen standen keine Tränen. Sie glaubte es! Sie glaubte, daß diese beiden Männer die Wahrheit gesagt hatten!
Die Gäste, die sich auf eine fröhliche Geburtstagsfeier eingerichtet hatten, umringten uns und sagten diese tröstenden Sachen, die man von sich gibt, wenn eigentlich die passenden Worte fehlen.
»Das tut uns ja so furchtbar leid, Corinna, wir sind erschüttert ... wie schrecklich ...«
»Daß Chris so etwas Furchtbares passieren mußte.«
»Jedem ist der Tag vorbestimmt ... von Geburt an sind wir in Gottes Hand.«
Weiter und weiter plätscherten die Worte dahin, und langsam, wie Wasser in Beton sickert, machte sich die Wahrheit in unseren Köpfen breit. Daddy war wirklich tot. Wir würden ihn nie Wiedersehen. Nicht lebend, nur in einem Sarg, in einer Holzkiste, die man eingraben würde und dann darüber einen marmornen Grabstein errichten, auf dem sein Name, sein Geburtsdatum und sein Todestag stehen würden. Es würde beides das gleiche Datum sein, bis auf die Jahreszahl.
Ich sah mich nach den Zwillingen um, denen ähnliche Gefühle erspart werden sollten. Ein freundlicher Nachbar hatte sie Gott sei Dank bereits mit in die Küche genommen, wo ihnen jemand eine Kleinigkeit zu essen machte, damit sie anschließend ins Bett gesteckt werden konnten. Mein Blick traf auf Christophers. Er schien genauso in diesem Alptraum gefangen wie ich selbst, das junge Gesicht bleich und erschüttert; ein leerer Ausdruck des Schmerzes stand in seinen Augen und verdunkelte sie.
Einer der Polizisten war inzwischen draußen beim Wagen gewesen und kam jetzt mit einem Bündel Sachen zurück, die er sorgfältig auf dem Wohnzimmertisch ausbreitete. Ich sah versteinert zu, während vor uns Daddys Tascheninhalt auftauchte: eine krokodillederne Brieftasche, die Mammi ihm zu Weihnachten geschenkt hatte; sein lederbezogenes Notizbuch und der Terminkalender; seine Armbanduhr; sein Trauring. Alles war rußgeschwärzt und vom Feuer teilweise angekohlt.
Zuletzt kamen die pastellfarbenen Stofftiere für Cory und Carrie, die über die Straße verstreut gelegen haben mußten, wie uns der Polizist erzählte. Ein blauer Plüschelefant mit rosa Ohren und ein braunes Pony mit rotem Sattel und goldenem Zügel – das mußte für Carrie gewesen sein. Aber der traurigste Anblick waren Daddys Kleider, die aus dem aufgerissenen Koffer auf die Straße geschleudert worden waren, als der Wagen sich mehrfach überschlug.
Ich kannte diese Anzüge, diese Hemden, Krawatten, Socken. Da lag die Krawatte, die ich ihm letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte.
»Jemand muß die Leiche identifizieren«, erklärte der Polizist.
Jetzt wußte ich es sicher. Es war die Wahrheit. Daddy wäre nie ohne Geschenke für uns nach Hause gekommen – selbst an seinem eigenen Geburtstag nicht. Es mußte unser Vater gewesen sein.
Ich stürzte aus dem Zimmer! Rannte fort von den Dingen, die da ausgebreitet lagen und mir das Herz aus dem Leibe rissen, mir mehr weh taten als jeder Schmerz, den ich bisher empfunden hatte. Ich lief aus dem Haus in den Garten und schlug meine Fäuste gegen den alten Ahornbaum. Ich schlug so lange, bis sie mir weh taten und Blut aus vielen kleinen Schrammen lief. Dann warf ich mich auf den Rasen und heulte Tränenmeere für Daddy, der nicht tot sein durfte. Ich weinte für uns, die ohne ihn weiterleben mußten. Und für die Zwillinge, die nun nicht einmal die Chance hatten, zu erfahren, was für ein wunderbarer Vater Daddy war – gewesen war. Und als meine Tränen alle verbraucht waren, meine Augen rot und verschwollen schmerzten; weil ich ständig daran rieb, hörte ich weiche Schritte auf mich zukommen – meine Mutter ...
Sie setzte sich neben mich auf den Rasen und nahm meine Hand in die ihre. Am Himmel stand eine schmale Mondsichel, umgeben von Millionen Sternen. Ein süßer Geruch nach Frühling hing in der leichten Brise. »Cathy«, sagte meine Mutter schließlich, als das Schweigen zwischen uns so lang geworden war, daß es niemals mehr aufzuhören schien, »dein Vater ist jetzt dort oben im Himmel und sieht auf dich herab, und du weißt, daß er sich eine tapfere Tochter wünscht.«
»Er ist nicht tot, Mammi!« Ich bestritt das Furchtbare noch immer wild.
»Du bist sehr lange hier draußen im Garten gewesen. Vielleicht hast du gar nicht gemerkt, daß es inzwischen schon zehn Uhr ist. Jemand mußte die Leiche identifizieren, und obwohl mir Jim Johnston anbot, diese Pflicht zu übernehmen, um mir den Schmerz zu ersparen, konnte ich es nur selbst tun. Ich mußte ihn selbst sehen, denn, weißt du, für mich war es auch schwer, daran zu glauben. Dein Vater ist tot, Cathy. Christopher liegt auf seinem Bett und weint. Die Zwillinge schlafen. Sie können noch nicht richtig verstehen, was das heißt – tot sein.«
Sie legte ihren Arm um mich und zog meinen Kopf sanft gegen ihre Schulter.
»Komm«, sagte sie, stand auf und hielt mich dabei fest an sich gepreßt. »Du bist schon zu lange hier draußen. Ich dachte, du wärst mit den anderen im Haus, und die anderen dachten, du wärst bei mir oder in deinem Zimmer. Es ist nicht gut, allein zu sein, wenn man so etwas Schlimmes erlebt hat. Es ist besser, wenn du mit Menschen zusammen bist, die deine Trauer teilen.«
Sie sagte das mit trockenen Augen, ohne eine einzige Träne, aber irgendwo, tief in ihr, weinte etwas und schrie verzweifelt. Ich spürte das an ihrem Ton, sah es an der Leere in ihrem Blick.
Mit dem Tod unseres Vaters begann sich der Schatten eines Alptraums über unser Leben zu legen. Ich starrte Mammi oft vorwurfsvoll an und dachte mir, sie hätte uns auf den Tod vorbereiten sollen, denn wir durften nie Haustiere halten, die hätten sterben können und uns etwas davon vermittelt hätten, was es heißt, durch den Tod etwas Geliebtes zu verlieren. Jemand, ein Erwachsener, hätte uns warnen müssen, daß die Jungen, die Schönen und die, die gebraucht werden, genauso sterben wie die Alten und Kranken.
Aber wie kann man so etwas zu einer Mutter sagen, die aussieht, als habe das Schicksal ihr jede Lebenskraft bis auf das Mark ausgesogen? Kann man ernsthaft mit jemandem umgehen, der nicht reden, nicht essen will, einer Frau, die sich nicht mehr frisiert und keines der schönen Kleider mehr anzieht, die ihre Schränke füllen? Nicht einmal um uns kümmerte sie sich. Glücklicherweise übernahmen das ein paar freundliche Nachbarinnen. Sie sahen immer wieder mal herein und brachten uns etwas von ihrem Essen mit. Unser Haus füllte sich zum Überlaufen mit Blumen, mit hausgemachten Kuchen und Pasteten, Schinken, Gebäck und Fertiggerichten.
Sie kamen in Scharen, all die Leute, die unseren Vater geliebt, bewundert und geachtet hatten, und selbst ich war überrascht, wie gut er bekannt gewesen sein mußte. Doch ich haßte es jedesmal, wenn ich die Frage hörte, wie er denn gestorben sei, und was es für ein Jammer sei, daß Daddy in so jungen Jahren von uns gehen mußte, wo doch so viele nutzlose und lebensunfähige Menschen weiterlebten, die der Gesellschaft nur zur Last fielen.
Nach allem, was man mir sagte oder ich mitbekam, schien das Schicksal ein grimmiger Sensenmann zu sein, nie freundlich und ohne jeden Respekt davor, ob jemand geliebt und gebraucht wurde.
Aus dem Frühling wurde der Sommer. Und der Schmerz, wie sehr man sich der Traurigkeit auch hingibt, läßt irgendwann langsam nach. Die Person, die einmal so real, so geliebt war, wird zu einem blassen, nicht mehr deutlich erkennbaren Schatten.
Eines Tages saß Mammi da und machte ein so trauriges Gesicht, daß sie aussah, als habe sie für immer vergessen, wie man lacht. »Mammi«, sagte ich strahlend, in der Hoffnung, sie ein bißchen aufzuheitern, »ich tue jetzt einfach so, als ob Daddy noch lebt und nur auf einer seiner Geschäftsreisen wäre, und bald wird er zurück sein, und dann reißt er die Tür auf und ruft wie immer ›Kommt in meine Arme‹. Siehst du, wir alle fühlen uns dann besser, als wäre er irgendwo noch am Leben, irgendwo, wo wir ihn nicht sehen können, aber von wo wir ihn jeden Moment zurückerwarten.«
»Nein, Cathy«, brach es heftig aus meiner Mutter hervor, »du mußt die Wahrheit akzeptieren. Du wirst keinen Trost finden, wenn du anfängst, dir etwas vorzumachen. Hörst du! Dein Vater ist tot, und seine Seele ist im Himmel, und in deinem Alter mußt du begreifen, daß niemals jemand aus dem Himmel zurückgekommen ist. Was uns angeht, wir müssen jetzt versuchen, das Beste aus einem Leben ohne ihn zu machen – und das kann nicht heißen, daß wir vor der Wirklichkeit fortlaufen, statt ihr entgegenzutreten.«
Ich beobachtete sie, wie sie aufstand und begann, den Frühstückstisch zu decken.
»Mammi ...«, begann ich wieder und versuchte vorsichtig, einen Weg zu ihr zu ertasten, damit sie nicht hart und wütend wurde. »Können wir das denn, weitermachen ohne ihn?«
»Ich werde versuchen, mein Bestes zu tun, damit wir überleben«, antwortete sie geistesabwesend.
»Wirst du jetzt arbeiten gehen müssen wie Mrs. Johnston?«
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Das Leben hält alle möglichen Überraschungen bereit, Cathy. Und einige davon sind sehr unschön, wie du gerade herausgefunden hast. Aber denk immer daran, daß du fast zwölf Jahre lang das Gottesgeschenk hattest, einen Vater zu haben, der dich für etwas ganz Besonderes hielt.«
»Weil ich aussehe wie du«, sagte ich und fühlte jenen seltsamen Neid, den ich immer ihr gegenüber verspürt hatte, weil ich an zweiter Stelle nach ihr gekommen war.
Sie warf mir einen Seitenblick zu, während sie aus dem Kühlschrank die Zutaten für das Frühstück zusammensuchte. »Ich werde dir jetzt etwas sagen, Cathy, was ich dir noch nie vorher gesagt habe. Du siehst sehr so aus, wie ich in deinem Alter ausgesehen habe, aber von deiner Persönlichkeit her bist du ganz anders. Du bist viel aggressiver und viel entschlossener. Dein Vater sagte oft, du wärst wie seine Mutter, und er hat seine Mutter geliebt.«
»Liebt nicht jeder seine Mutter?«
»Nein«, sagte sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, »es gibt einige Mütter, die man einfach nicht lieben kann, denn sie wollen nicht geliebt werden.«
Sie hatte Schinken und Eier zusammengesucht, legte sie neben den Herd, schloß den Kühlschrank und nahm mich in den Arm. »Liebe Cathy, du und dein Vater, ihr hattet eine ganz besondere, sehr enge Beziehung zueinander, und ich glaube, daß du ihn deshalb viel mehr vermißt, mehr als Christopher oder die Zwillinge.«
Ich schluchzte an ihrer Schulter. »Ich hasse Gott dafür, daß er ihn mir weggenommen hat! Er hätte leben und ein alter Mann werden müssen! Jetzt kann er nicht mehr dabeisein, wenn ich tanzen werde und Christopher Arzt wird. Alles ist jetzt egal, wo er nicht mehr bei uns ist.«
»Manchmal«, begann sie mit fester Stimme, »ist der Tod nicht so schrecklich, wie er dir jetzt vorkommt. Dein Vater wird niemals alt oder krank werden. Er wird immer jung bleiben. Du wirst dich so an ihn erinnern – jung, schön, stark. Weine nicht mehr, Cathy, wie dein Vater immer gesagt hat, es gibt für alles einen Grund und für jedes Problem eine Lösung, und ich versuche mein Bestes, mein Allerbestes, für uns eine gute Lösung zu finden.«
Wir waren vier Kinder, die in ihrer Trauer und ihrem Schmerz umherstolperten wie zwischen zerbrochenem Spielzeug. Wir spielten im Garten, versuchten im Sonnenschein ein wenig Trost zu finden und ahnten dabei nicht, daß sich unser Leben bald so drastisch verändern würde, so dramatisch, daß Worte wie »Garten« oder »Hinterhof« für uns gleichbedeutend mit Himmel wurden – und etwas ebenso Fernliegendes.
Es war an einem Nachmittag kurz nach Daddys Beerdigung gewesen, und Christopher und ich waren mit den Zwillingen auf dem Hof hinter dem Haus zum Spielen. Die Kleinen saßen mit ihren Schaufeln und Förmchen im Sandkasten. Ständig schaufelten sie den Sand von einer Ecke in die andere und kicherten dabei in der seltsamen Kindersprache, die nur sie selbst verstanden. Cory und Carrie waren keine eineiigen Zwillinge. Sie sahen sich nicht völlig ähnlich, aber sie bildeten eine Einheit und hatten an sich selbst immer genug. Jetzt bauten sie Sandmauern um sich herum, so daß sie zu Burgherren wurden und ihre verborgenen Schätze voreinander beschützen konnten. Sie hatten einander, und das reichte ihnen.
Es wurde Zeit zum Abendessen, aber nichts rührte sich. Wir bekamen Angst, daß es jetzt nicht einmal mehr etwas zu essen geben würde, deshalb schnappten wir uns die schmutzigen kleinen Hände der Zwillinge und zogen sie ins Haus, obwohl Mammi uns nicht gerufen hatte. Schließlich entdeckten wir unsere Mutter hinter Daddys großem Schreibtisch. Sie schrieb etwas, das, nach den vielen umherliegenden zerknüllten Anfängen zu schließen, ein sehr schwieriger Brief sein mußte. Ihre Stirn war gerunzelt, und sie hielt häufig beim Schreiben inne, um ins Leere zu starren.
»Mammi«, sprach ich sie an, »es ist fast sechs Uhr. Die Zwillinge werden hungrig.«
»In einer Minute, in einer Minute«, antwortete sie abwesend.
»Ich schreibe an eure Großeltern in Virginia. Die Nachbarn haben uns genug zu essen für eine ganze Woche gebracht – du kannst eine von den Pasteten in den Ofen schieben, Cathy.«
Es war das erste Abendessen, das ich fast ganz alleine anrichtete. Ich hatte den Tisch gedeckt, die Pastete angewärmt und die Milch eingeschüttet, als Mammi kam, um mir zu helfen.
Es schien mir, als hätte unsere Mutter seit Vaters Tod täglich Briefe zu schreiben und irgendwo hinzugehen, um etwas zu erledigen, während wir der Obhut der Nachbarn überlassen wurden. Nachts saß Mammi dann vor Vaters Schreibtisch und hatte eine grüne Ledermappe vor sich aufgeschlagen, die Bündel von Dokumenten und Rechnungen enthielt. Nichts schien mehr in Ordnung zu sein, gar nichts. Oft badeten mein Bruder und ich die Zwillinge, zogen ihnen die Schlafanzüge an und brachten sie ins Bett. Anschließend lief Christopher in sein Zimmer, um zu lernen, während ich zu meiner Mutter ging, um zu versuchen, sie wenigstens wieder ein bißchen aufzuheitern.
Einige Wochen später kam ein Antwortbrief auf die vielen Schreiben, die unsere Mutter an ihre Eltern geschickt hatte. Sofort begann Mammi zu weinen – bevor sie den dickgefütterten, cremefarbenen Umschlag überhaupt geöffnet hatte, weinte sie schon. Ungeschickt hantierte sie mit dem Brieföffner herum und hielt dann drei Blätter in den zitternden Händen, die sie dreimal durchlas. Während sie las, liefen ihr langsam Tränen die Wange herab und verschmierten mit langen, bleichen, schimmernden Streifen ihr Make-up.
Sie hatte uns aus dem Garten gerufen, als sie die Post aus dem Briefkasten durchsah, und nun saßen wir vier ihr auf dem großen Wohnzimmersofa gegenüber. Während ich ihr beim Lesen zusah, bemerkte ich, wie ihr weiches, helles Porzellanpuppengesicht etwas Kaltes, Hartes und Resolutes annahm. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Vielleicht, weil sie uns nach dem Lesen so lange anstarrte – zu lange. Dann sah sie wieder auf die Bögen in ihren zitternden Händen und von dort zum Fenster, als ob sie dort eine Antwort auf die Fragen des Briefes finden könnte.
Mammi benahm sich sehr seltsam. Es machte uns alle unbehaglich und ungewöhnlich still, denn wir fühlten uns in einem plötzlich vaterlosen Heim schon verschreckt genug, ohne diesen drei Seiten langen Brief, der unserer Mutter die Zunge lähmte und ihre Augen so hart werden ließ. Warum sah sie uns nur so komisch an?
Endlich räusperte sie sich und begann zu sprechen, aber mit einer kalten Stimme, die völlig anders klang als ihr gewohnter weicher, warmer Tonfall. »Eure Großmutter hat endlich meine Briefe beantwortet«, erklärte sie mit dieser furchtbar kalten Stimme. »All die Briefe, die ich ihr geschrieben habe ... ja ... sie hat zugestimmt. Sie ist einverstanden, daß wir zu ihr ziehen und bei ihr leben.«
Gute Neuigkeiten! Genau das, was wir zu hören erwarteten – und wir hätten glücklich darüber sein sollen. Aber Mammi verfiel wieder in dieses düstere Schweigen. Sie saß einfach da und starrte uns an. Was war los mit ihr? Wußte sie nicht mehr, daß wir ihre Kinder waren und nicht vier Fremde, die hier aufgereiht hingen wie Vögel auf einer Leimrute?
»Christopher, Cathy, mit vierzehn und mit zwölf solltet ihr alt genug sein, die Sache zu begreifen, und alt genug, dabei mitzuarbeiten, um eurer Mutter aus einer verzweifelten Lage herauszuhelfen.« Sie unterbrach sich und fingerte nervös an ihrer Perlenkette herum, dann seufzte sie schwer. Sie schien dicht davor zu stehen, in Tränen auszubrechen. Und ich hatte soviel Mitleid mit ihr, soviel Mitleid mit der armen Mammi, die jetzt ohne Mann dastand.
»Mammi«, sagte ich, »ist alles in Ordnung?«
»Natürlich, Schatz, natürlich.« Sie versuchte zu lächeln. »Euer Vater, Gott sei seiner Seele gnädig, hat sich vorgestellt, bis ins reife Alter zu leben und sich bis dahin ein ansehnliches Vermögen zu erarbeiten. Er stammt aus einer Familie, die weiß, wie man Geld verdient, so daß es für mich gar keine Zweifel gibt, daß er auch erreicht hätte, was er sich vorgenommen hatte, wenn ihm nur die Zeit dazu geblieben wäre. Aber sechsunddreißig Jahre, das ist zu früh, um zu sterben. Auf eine bestimmte Art glaubt man einfach immer, daß einem selbst nie etwas Schreckliches passieren wird. Schreckliche Dinge passieren immer nur den anderen. Wir rechnen nicht mit Unfällen, und wir erwarten nicht, jung zu sterben. Darum dachten euer Vater und ich auch immer, wir würden gemeinsam alt werden, und hofften, noch gemeinsam unsere Enkelkinder aufwachsen zu sehen, bevor wir beide am gleichen Tag sterben würden. Dann wäre keiner von uns übrig, der den anderen betrauern müßte.«
Wieder seufzte sie. »Ich muß gestehen, daß wir weit über unsere gegenwärtigen Verhältnisse gelebt und auf Vaters zukünftiges Einkommen Kredite aufgenommen haben. Wir gaben Geld aus, was wir noch gar nicht hatten. Gebt ihm keine Schuld dafür, es war mein Fehler. Er wußte, was es heißt, arm zu sein. Ich habe davon keine Ahnung gehabt. Ihr wißt, daß er deshalb manchmal mit mir schimpfte. Deshalb meinte er auch, als wir dieses Haus kauften, daß wir nur drei Schlafzimmer brauchen würden. Aber ich wollte vier. Selbst vier schienen mir noch zu klein. Seht euch um, auf dem ganzen Haus hier liegt eine dreißigjährige Hypothek. Nichts hier gehört wirklich uns: nicht die Möbel, nicht die Autos, nicht die Küchengeräte – kein einziges Ding hier drinnen ist vollständig abgezahlt.«
Sahen wir erschrocken aus? Verängstigt? Sie unterbrach sich. Ihr Gesicht überzog sich mit einer tiefen Röte, und ihre Augen wanderten unruhig durch den Raum, dessen Einrichtung nur zur Unterstreichung ihrer Schönheit ausgewählt worden war. Ihre delikaten Augenbrauen verzogen sich in einem besorgten Stirnrunzeln. »Auch wenn euer Vater ein wenig mit mir geschimpft hat, wollte er diesen Luxus doch im Grunde genauso wie ich. Er verwöhnte mich, weil er mich liebte, und ich glaube, am Ende habe ich ihn überzeugt, daß Luxus für mich eine absolute Notwendigkeit war. Er gab nach, denn wir beide hatten die Angewohnheit, zu sehr an dem zu hängen, was wir unbedingt haben wollten. Das war eine andere von unseren Gemeinsamkeiten.«
Ihr Ausdruck wurde für einen Moment nachdenklich, aber dann fuhr sie mit ihrer fremden Stimme fort: »All unsere schönen Sachen werden uns jetzt fortgenommen. Man nennt das Eigentumsvorbehalt. Nichts gehört dir wirklich, bevor du es nicht vollständig bezahlt hast. Nehmt das Sofa zum Beispiel. Vor drei Jahren kostete es achthundert Dollar. Inzwischen ist es bis auf hundert Dollar abbezahlt. Aber trotzdem werden sie es abholen, weil wir den Rest nicht bezahlen können. Wir werden nicht nur die Möbel hergeben müssen und das Haus, sondern auch die Autos – alles wird weggeholt außer unseren Kleidern und euren Spielsachen. Sie haben mir jedenfalls erlaubt, den Trauring zu behalten, und ich habe meinen Verlobungsdiamanten versteckt – sagt also bitte niemandem, daß ich einen Verlobungsring gehabt habe, wer auch immer euch danach fragen könnte.«
Wer »sie« waren, fragte keines von uns Kindern. Ich kam gar nicht darauf, daß hier etwas zu fragen gewesen wäre. Damals jedenfalls nicht. Und später schien es einfach keine Rolle mehr zu spielen.
Christophers Blick kreuzte sich mit meinem. Ich versuchte zu verstehen und kämpfte doch gleichzeitig dagegen an, nicht in diesem Verständnis zu ertrinken. Schon versank ich, ertrank in dieser Erwachsenenwelt des Todes und der Zweifel. Mein Bruder griff nach meiner Hand und drückte sie mir in einer Geste ungewohnter brüderlicher Hilfe.
War ich ein aufgeschlagenes Buch, in dem man so leicht lesen konnte? So leicht zu durchschauen, daß selbst er, der Erzquälgeist, versuchte, mich zu trösten? Ich versuchte zu lächeln, um ihm klarzumachen, wie erwachsen ich schon war und wie weit ich eigentlich über dem zitternden kleinen Ding stand, das losschluchzen wollte, weil »sie« nun bald alles wegholen würden. Ich wollte nicht, daß ein anderes kleines Mädchen in meinem pfefferminz-rosa tapezierten Zimmer wohnte, in meinem Bett schlief und mit meinen Sachen spielte – meinen kleinen Puppen in ihren Kartonzimmern, meiner silbernen Spieluhr mit der rosafarbenen Ballerina – würden sie die auch wegnehmen?
Mammi beobachtete den Blickwechsel zwischen meinem Bruder und mir sehr genau. Als sie weitersprach, kam wieder ein kleines Stück von ihrer früheren lieben Art zum Vorschein. »Schau nicht so niedergeschlagen drein. Es ist nicht wirklich so schlimm, wie ich es vielleicht habe aussehen lassen. Du mußt mir verzeihen, wenn ich gedankenlos war und vergessen habe, wie jung du noch bist. Ich habe euch die schlechte Nachricht zuerst erzählt und die gute bis zum Schluß aufgehoben. Haltet jetzt die Luft an! Ihr werdet mir nicht glauben, was ich euch gleich erzähle – denn meine Eltern sind reich! Nicht reich, wie man in der Mittelklasse reich ist oder in der Oberklasse, nein, sehr, sehr reich! Schmutzig, unglaublich, verboten reich! Sie leben in einem herrlichen, großen Haus in Virginia – einem Haus, wie ihr noch nie eins gesehen habt. Ich kenne es, denn ich bin dort geboren und aufgewachsen. Wenn ihr dieses Haus erst gesehen habt, wird euch unser Haus hier wie eine Hundehütte dagegen Vorkommen. Und habe ich euch nicht gesagt, daß wir mit ihnen zusammenwohnen werden – mit meiner Mutter und mit meinem Vater?«
Sie bot uns diese Aufmunterung mit einem schwachen, nervös zuckenden Lächeln, das nicht ausreichte, um mich von den Zweifeln zu befreien, in die ihr Verhalten und ihre Informationen mich gestürzt hatten. Ich mochte die Art nicht, mit der ihre Augen schuldbewußt meinen Blicken auswichen. Ich dachte mir, daß sie etwas vor uns verheimlichte.
Aber sie war meine Mutter.
Und Daddy gab es nicht mehr.
Ich nahm Carrie auf den Schoß und preßte ihren warmen, kleinen Körper eng an mich. Ich streichelte die verschwitzten blonden Löckchen, die ihre Stirn einrahmten. Sie schloß die Augen, und ihre vollen rosigen Lippen summten leise. Ich sah zu Cory hinüber und stieß Christopher an. »Die Zwillinge sind müde, Mammi. Sie brauchen ihr Abendessen.«
»Dafür ist noch genug Zeit«, fuhr sie mich ungeduldig an. »Wir haben jetzt zu planen, was wir tun. Wir müssen unsere Sachen packen, denn wir fahren noch heute nacht mit dem Zug. Die Zwillinge können essen, während wir packen. Alles, was ihr an Kleidung braucht, müßt ihr irgendwie in zwei Koffer packen. Ich will, daß ihr nur eure Lieblingskleider mitnehmt und ein paar kleine Spielsachen, von denen ihr euch nicht trennen möchtet. Und nur eins von den Spielen. Ich kaufe euch viele neue Spiele, wenn wir erst da sind. Cathy, du suchst die Kleider raus und sammelst das Spielzeug ein, von dem du meinst, die Zwillinge haben es am liebsten. Aber nicht zuviel. Wir können nicht mehr als vier Koffer mitnehmen, und ich brauche zwei für meine eigenen Sachen.«
Himmel! Es war alles wahr! Wir mußten wirklich hier weg, mußten alles aufgeben! Ich mußte alles in zwei Koffer quetschen, alle Sachen, die mir wichtig waren, und den Kram von Christopher und den Zwillingen noch dazu. Meine große Anziehpuppe würde schon einen Koffer füllen! Wie sollte ich sie nur hier zurücklassen können, meine Lieblingspuppe, die Daddy mir zum dritten Geburtstag geschenkt hatte. Tränen standen mir in den Augen.
Da saßen wir vier und starrten Mammi schockiert an. Sie mußte sich unter unseren Blicken sehr unwohl fühlen, denn sie sprang auf und begann im Zimmer hin und her zu laufen.
»Wie ich euch schon gesagt habe, meine Eltern sind ungeheuer reich.« Sie warf Christopher und mir einen abschätzenden Blick zu und wandte sich dann schnell ab, so daß wir ihr Gesicht nicht mehr sehen konnten.
»Mammi«, fragte Christopher, »stimmt irgendwas nicht?«
Ich fand es erstaunlich, wie er so eine Frage stellen konnte, wo doch mehr als klar war, daß alles nicht stimmte.
Sie lief weiter durchs Zimmer. Ihre langen, schönen Beine blitzten unter ihrem dünnen schwarzen Negligé hervor. Selbst in ihrer Trauer und in Schwarz sah sie wundervoll aus – trotz der Schatten um die Augen, der hohlen Wangen und alldem. Sie war so schön, und ich liebte sie – oh, wie ich sie damals liebte!
Wie wir alle sie damals liebten!
Direkt vor dem Sofa drehte unsere Mutter sich plötzlich herum, und das schwarze Chiffon ihres Negliges wirbelte hoch wie das Kleid einer Tänzerin, so daß ihre wunderbaren Beine von den Knöcheln bis zur Hüfte zu sehen waren.
»Ihr Lieben«, begann sie, »was könnte schon daran nicht stimmen, in einem so vornehmen, schönen Haus leben zu dürfen, wie meinen Eltern eines gehört? Ich bin dort geboren. Ich bin dort aufgewachsen, abgesehen von den Jahren, in denen ich auf ein Internat geschickt wurde. Es ist ein riesiges, herrlich gebautes Haus, und sie bauen noch immer neue Räume und Flügel an, obwohl sie wahrhaftig genug davon haben.«
Sie lächelte, aber an ihrem Lächeln stimmte irgend etwas nicht. »Es gibt allerdings eine Kleinigkeit, die ich euch erklären muß, bevor ihr meinen Vater trefft – euren Großvater.« Hier hielt sie wieder vorsichtig inne und lächelte wieder dieses eigenartige, fast düstere Lächeln. »Vor vielen Jahren, als ich achtzehn war, habe ich etwas sehr Ernstes getan, was euer Großvater nicht billigen konnte, und meine Mutter hat es ebenfalls abgelehnt, aber sie würde mich unter keinen Umständen aufgeben, egal, wie, deshalb zählt sie nicht. Aber, weil ich diese Sache tat, ließ mein Vater mich aus seinem Testament streichen, und deshalb bin ich heute enterbt. Euer Vater nannte das auf seine galante Art, ich sei ›in Ungnade gefallen‹.«
In Ungnade gefallen? Was sollte das heißen? Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß meine Mutter irgend etwas tun könnte, was ihren eigenen Vater veranlassen würde, ihr das Erbe wegzunehmen.
»Klar, Mammi, ich verstehe exakt, was du meinst«, rief Christophen »Du hast etwas getan, was deinem Vater nicht gefallen hat, und deshalb hat er dich, obwohl du eigentlich in seinem Testament als Erbin eingesetzt warst, von seinem Rechtsanwalt daraus entfernen lassen, ohne sich die Sache noch einmal zu überlegen, und nun wirst du nichts von seinen weltlichen Gütern erben, wenn er diese Welt verläßt.« Er grinste, zufrieden mit sich selbst, weil er wieder mehr wußte als ich. Er hatte immer für alles eine Antwort. Er steckte seine Nase ständig in irgendwelche Bücher, wenn er zu Hause war. Draußen, unter freiem Himmel, war er genauso wild und frech wie die anderen Kinder unserer Gegend. Aber drinnen, wenn er nicht vor dem Fernseher saß, war mein Bruder ein richtiger Bücherwurm.
Natürlich hatte er recht.
»Ja, Christopher. Nichts von dem Vermögen eures Großvaters wird an mich übergehen bei seinem Tode, oder durch mich an euch. Darum mußte ich so viele Briefe schreiben, immer wieder, auch als meine Mutter zunächst nicht antwortete.« Wieder lächelte sie, diesmal voll bitterer Ironie. »Aber da ich nun der einzige überlebende Erbe bin, kann ich mir berechtigte Hoffnung machen, Vaters Gunst zurückzugewinnen. Ihr müßt wissen, ich hatte zwei ältere Brüder, aber sie starben beide bei Unfällen, und nun bin nur noch ich übrig.« Sie unterbrach ihre rastlose Wanderung durch das Zimmer. Sie schüttelte den Kopf und fuhr dann mit einer neuen, gekünstelt munteren Stimme fort: »Ich glaube, ich erzähle euch besser etwas anderes. Euer richtiger Nachname ist nicht Dollanganger – er ist Foxworth. Und Foxworth ist ein sehr wichtiger Name in Virginia.«
»Mammi«, rief ich schockiert. »Ist das denn überhaupt erlaubt? Ich meine, macht ihr euch nicht strafbar, wenn ihr einfach euren Namen verändert und auf unsere Geburtsurkunden einen falschen Namen setzen laßt?«
Ihre Stimme wurde ungeduldig. »Um Himmels willen, Cathy, man kann Namen ganz legal ändern lassen. Und der Name Dollanganger gehört ja auch zu uns, mehr oder weniger jedenfalls. Euer Vater hat sich diesen Namen von seinen entfernteren Vorfahren ausgeliehen. Er dachte, es wäre ein amüsanter Name, ein Scherz, und er hat seinen Zweck ja auch gut genug erfüllt.«
»Welchen Zweck?« wollte ich wissen. »Warum wollte Daddy denn seinen Namen von einem wie Foxworth, den man so leicht aussprechen kann, in so etwas Langes und schwer zu Buchstabierendes wie Dollanganger ändern?«
»Cathy, ich bin müde«, sagte Mammi und ließ sich in den nächststehenden Sessel fallen. »Es gibt soviel für mich zu tun, diese ganzen juristischen Einzelheiten. Ihr werdet früh genug alles erfahren. Ich werde es euch erklären. Ich schwöre, daß ich dann ganz ehrlich sein werde. Aber, bitte, laßt mich jetzt erst mal zum Atmen kommen.«
Oh, was war das für ein Tag. Erst mußten wir hören, daß die mysteriösen »sie« kommen würden, um uns all unsere Sachen wegzunehmen, selbst unser Haus. Und dann erfuhren wir auch noch, daß uns nicht einmal unser Nachname wirklich gehörte.
Die Zwillinge, die sich auf unseren Knien zusammengekauert hatten, schliefen schon fast. Sie waren noch zu jung, um etwas davon zu verstehen. Selbst ich, die ich jetzt zwölf Jahre alt war und nach eigener Einschätzung fast eine Frau, konnte nicht begreifen, warum Mammi nicht wirklich glücklich aussah bei dem Gedanken, jetzt nach Hause zurückkehren zu dürfen zu ihren Eltern, die sie seit fünfzehn Jahren nicht gesehen hatte. Geheimgehaltene Großeltern, die wir schon lange für tot gehalten hatten! Dazu hatten wir auch noch von zwei unbekannten Onkeln erfahren müssen, die beide verunglückt waren. Es dämmerte mir zum ersten Mal, daß unsere Eltern ja schon ihr eigenes Leben gelebt hatten, bevor wir auf die Welt gekommen waren, und daß wir am Ende gar nicht so wichtig sein könnten.
»Mammi«, begann Christopher langsam, »dein schönes, tolles Zuhause in Virginia hört sich gut an, aber uns gefällt es hier gut. Unsere Freunde wohnen hier, jeder kennt uns, mag uns, und ich weiß ganz bestimmt, daß ich hier nicht weg möchte. Kannst du nicht mit Daddys Anwalt sprechen, ob er uns nicht helfen kann, einen Weg zu finden, wie wir hierbleiben und unsere Sachen behalten können?«
»Ja, Mammi, bitte, laß uns hierbleiben!« fiel ich ein.
Sofort sprang Mutter von ihrem Sessel auf und kam zu uns. Sie ließ sich vor dem Sofa in die Knie fallen, so daß ihre Augen in gleicher Höhe mit unseren waren und sie uns direkt ansehen konnte. »Jetzt hört mal zu«, befahl sie und griff nach meiner Hand und der meines Bruders, die sie an ihre Brust zog. »Ich habe nachgedacht, und ich habe auch darüber nachgedacht, ob wir es nicht schaffen könnten, hier weiterzuleben, aber es gibt keine Möglichkeit – überhaupt keine. Denn wir haben kein Geld, die monatlichen Raten abzubezahlen. Und ich habe nicht die Fähigkeiten, um im Monat genug Geld zu verdienen, das für vier Kinder und mich ausreicht. Seht mich an!« verlangte sie und breitete die Arme weit aus. Sie sah so verwundbar, so schön und so hilflos aus. »Wißt ihr, was ich bin? Ich bin ein hübsches, nutzloses Schmuckstück. Ich habe immer gedacht, daß ich einen Mann haben würde, der sich um mich kümmert. Ich kann alleine überhaupt nichts. Ich kann nicht mal Schreibmaschine schreiben. Ich kann nicht gut rechnen. Ich kann nette Stickereien machen und raffinierte Pullover stricken, aber damit kann man kein Geld verdienen. Ohne Geld kann man nicht leben. Die Welt lebt nicht von der Liebe – sie lebt vom Geld. Und mein Vater hat mehr Geld, als er selbst gebrauchen kann. Er hat nur einen lebenden Erben – mich! Früher habe ich ihm mehr bedeutet als seine beiden Söhne, deshalb kann es nicht so schwer sein, seine Zuneigung zurückzugewinnen. Dann wird er seinen Anwalt ein neues Testament aufsetzen lassen, und ich werde erben, alles erben! Er ist Sechsundsechzig Jahre alt, und er leidet an einer tödlichen Herzkrankheit. Nach dem, was meine Mutter mir auf einem getrennten Blatt geschrieben hat, das euer Großvater nicht lesen durfte, hat er höchstens noch zwei oder drei Monate zu leben. Doch das gibt mir genug Zeit, ihn so zu bezaubern, daß er mich wieder liebt, wie er mich früher geliebt hat – und wenn er stirbt, gehört sein ganzes Vermögen mir! Mir! Uns! Wir werden für immer von allen finanziellen Sorgen frei sein. Frei, dahin zu gehen, wo immer wir hinwollen! Frei, zu reisen, frei, zu kaufen, was immer wir haben wollen – alles, was unsere Herzen begehren! Ich rede nicht von einer Million oder zwei, nein, von vielen, vielen Millionen – vielleicht sogar Milliarden! Leute mit solchen Vermögen wissen nicht einmal, was es wirklich wert ist, denn es ist überall verstreut investiert, ihnen gehört dies und das, eingeschlossen Banken, Fluggesellschaften, Hotels, Kaufhausketten und Schiffahrtslinien. Oh, ihr könnt euch einfach nicht vorstellen, was für ein Finanzimperium euer Großvater kontrolliert, selbst jetzt noch, wo er auf dem Sterbebett liegt. Er ist ein Genie, was das Geldmachen angeht. Alles, was er anfaßt, verwandelt sich in Gold.«
Ihre blauen Augen blitzten. Die Sonne schien durch das große Wohnzimmerfenster und warf ein glitzerndes Diamantennetz über ihr Haar. Schon jetzt schien sie unschätzbar reich zu sein. Mammi, Mammi, warum erfuhren wir das alles bloß jetzt erst, nachdem unser Vater tot war?
»Christopher, Cathy, hört ihr mir zu und versucht euch das einmal vorzustellen? Könnt ihr verstehen, was man mit einem großen Berg Geld machen kann? Die Welt und alles, was darinnen ist, gehört euch! Ihr werdet Macht haben, Einfluß und Respekt. Vertraut mir. Schon bald habe ich das Herz meines Vaters wiedererobert. Er wird nur einen Blick auf mich werfen, um zu begreifen, daß all die fünfzehn Jahre, die wir voneinander getrennt waren, verschwendete Zeit gewesen sind. Er ist alt, krank, er verläßt sein Zimmer im ersten Stock nicht mehr, einen kleinen Raum hinter der Bibliothek. Er hat Krankenschwestern, die Tag und Nacht nach ihm sehen, und Hausangestellte, die nur für ihn da sind. Aber nur dein eigenes Fleisch und Blut bedeutet wirklich etwas, und ich bin alles, was ihm geblieben ist, ich allein. Eines Nachts, da werde ich ihn darauf vorbereiten, euch zu sehen, und dann werde ich euch in sein Zimmer bringen, und er wird begeistert, verzaubert von dem sein, was er sieht: vier wunderschöne Enkelkinder, die in jeder Beziehung perfekt sind – er muß euch lieben, jedes einzelne von euch. Glaubt mir, es wird genauso kommen, wie ich es mir vorstelle! Ich verspreche euch, daß ich alles tun werde, was immer mein Vater auch von mir verlangt. Bei meinem Leben, bei allem, was mir lieb und teuer und heilig ist – und das seid ihr Kinder, die ihr aus meiner Liebe zu eurem Vater entstanden seid –, schwöre ich euch, daß ich bald ein unvorstellbar großes Vermögen erben werde und daß durch mich alle eure Träume in Erfüllung gehen werden.«
Mein Mund stand offen. Ich war von der Leidenschaft in diesen Worten überwältigt. Ein Seitenblick zu Christopher zeigte mir, daß er Mammi fassungslos anstarrte. Die Zwillinge waren inzwischen beide fest eingeschlafen. Sie hatten nichts von alledem mitbekommen.
Wir würden also in einem Haus so groß und so reich wie ein Palast leben.
In diesem grandiosen Palast, wo man von vorne bis hinten bedient wurde, würden wir König Midas vorgestellt werden, der bald sterben würde, und dann würden wir sein ganzes Geld bekommen, mit dem uns die Welt zu Füßen lag. Wir würden reicher sein, als man sich vorstellen konnte! Ich würde leben wie eine Prinzessin!
Aber warum fühlte ich mich nicht wirklich wohl bei dem Gedanken?
»Cathy«, sagte Christopher und schenkte mir ein breites, glückliches Lächeln, »du kannst noch immer eine Ballerina werden. Ich glaube nicht, daß man sich Talent für Geld kaufen kann oder daß Geld aus einem Playboy einen guten Arzt macht. Aber bis die Zeit kommt, in der wir uns ernsthaft für etwas entscheiden müssen, Mensch, bis dahin können wir noch toll einen draufmachen!«
Ich konnte die silberne Spieluhr mit der Ballerina nicht mitnehmen. Die Spieluhr war wertvoll und von »ihnen« zu den pfändbaren Sachen auf die Liste genommen worden. Es gab kaum etwas bei den Sachen, die ich von Daddy geschenkt bekommen hatte, das ich behalten konnte, mit Ausnahme des kleinen Ringes an meinem Finger mit dem herzförmigen Halbedelstein.
Aber – wie Christopher gesagt hatte, nachdem wir erst so reich wurden, würden wir unser Leben erst einmal genießen können. So leben die reichen Leute – glücklich von nun an bis an das Ende ihrer Tage, ihr Geld zählend und sich neue Vergnügen ausdenkend.
Spaß, Spiele, Partys, Reichtum, den man sich nicht vorstellen konnte, ein Haus, groß wie ein Palast, mit Dienern, die über einer großen Garage wohnten, in der wenigstens neun oder zehn der teuersten Autos eingestellt waren. Wer hätte je gedacht, daß meine Mutter aus einer solchen Familie kam? Warum hatte Daddy sich so oft mit ihr über verschwenderische Geldausgaben gestritten, wenn sie einfach nur nach Hause hätte zu schreiben brauchen und sich ein bißchen Geld hätte erbetteln können?
Langsam ging ich auf mein Zimmer, wo ich vor der silbernen Spieluhr stehenblieb. Der Deckel war aufgeklappt, und die rosafarbene Ballerina drehte sich auf ihre wunderliche Art und Weise, wobei sie sich immer in dem Spiegel des Deckels bewundern konnte. Ich hörte die klimpernde Musik dazu spielen: »Tanze, Ballerina, tanze ...«
Ich hätte sie gestohlen, wenn ich bloß einen Platz gewußt hätte, um sie zu verstecken.
Leb wohl, rosa-weißer Raum mit den pfefferminzfarbenen Tapeten. Leb wohl, kleines weißes Bett mit der geblümten Steppdecke, unter der ich Masern, Mumps und Windpocken ausgeschwitzt habe.
Leb wohl, Daddy, noch einmal, denn wenn ich von hier fort bin, dann werde ich mir nicht mehr vorstellen können, wie du an meinem Bett sitzt und meine Hand hältst, und ich werde dich nicht mehr im Geiste sehen können, wie du mir aus dem Badezimmer ein Glas Wasser holst. Ich möchte wirklich gar nicht gerne weg hier, Daddy. Ich würde lieber hier weiterleben und die Erinnerung an dich ständig um mich herum haben.
»Cathy« – Mammi stand in der Tür – »steh nicht da und weine. Ein Zimmer ist doch auch nur ein Zimmer. Du wirst noch in vielen Zimmern leben, bevor du stirbst, also beeil dich, pack deine Sachen und die von den Zwillingen zusammen. Ich pack’ inzwischen meine.«
Vor meinem Tod werde ich in tausend oder mehr Zimmern gelebt haben, flüsterte eine leise Stimme mir ins Ohr ... und ich glaubte es.