Читать книгу Die Foxworth-Saga 1-3 - V.C. Andrews - Страница 18
Festtage
ОглавлениеAn unserer Amaryllis tauchte eine einzelne Knospe auf – lebender Kalender, der uns daran erinnerte, daß Erntedankfest und Weihnachten unaufhaltsam näher rückten. Sie war inzwischen die einzige überlebende Pflanze und deshalb unser wertvollster Besitz, gepflegt und umhegt. Wir trugen sie abends vom Dachboden in unser Zimmer hinunter, damit sie es über Nacht warm hatte. Morgens sprang Cory, sobald er wach wurde, aus dem Bett und rannte zu ihr, um zu sehen, ob sie die Nacht heil überstanden hatte. Dann tauchte Carrie an seiner Seite auf und bewunderte Hand in Hand mit ihm die zähe, siegreiche Pflanze, die Blüten hervorbrachte, wo alle anderen eingegangen waren. Die Zwillinge überprüften den Wandkalender, ob der jeweilige Tag grün eingekreist war, denn an solchen Tagen mußte unser Schatz gedüngt werden. Sie befühlten mit ihren Fingern die Blumenerde, um festzustellen, ob sie auch feucht genug war. Aber die beiden verließen sich nie allein auf ihr eigenes Urteilsvermögen, sondern kamen nach der morgendlichen Inspektion zu mir und fragten: »Sollen wir Amaryllis Wasser geben? Glaubst du, sie hat Durst?«
Wir haben nie irgend etwas besessen, ob lebendig oder unbelebt, dem wir nicht einen Eigennamen gaben. Und Amaryllis war für uns etwas ganz besonders Lebendiges. Weder Carrie noch Cory trauten ihren schwachen Armen so weit, daß sie gewagt hätten, den schweren Blumentopf auf den Dachboden in die spärliche Morgensonne zu schleppen. Meine Pflicht war es, sie morgens hinaufzutragen, und Chris hatte sie dann abends wieder herunterzuholen.
Jeden Abend wechselten wir uns dabei ab, wer den vergangenen Tag mit einem dicken roten Kreuz durchstrich. Einhundert solcher Kreuze zierten inzwischen unseren Wandkalender.
Kalte Regenschauer kamen, der Wind brauste wild um das Haus – manchmal verbarg dichter Nebel die Morgensonne. In der Nacht raschelten kahle Zweige an den Fenstern und weckten mich. Mit angehaltenem Atem lag ich dann neben Carrie und wartete, wartete, wartete auf irgendeinen namenlosen Schrecken, der kam, mich aufzufressen.
Am Tag vor dem Erntedankfest* regnete es in Strömen, und der Regen ging gegen Abend in Schnee über. Mammi kam außer Atem in unser Zimmer und brachte uns eine Schachtel mit Dekorationen für unseren Festtagstisch. Für den Tag darauf versprach sie uns von der Festtafel ihres Vaters ein paar besondere Leckerbissen mitzubringen. Man erwartete Gäste auf Foxworth Hall, und es würde ein großes Truthahnessen geben.
Wir blieben mit der freudigen Erwartung auf ein eigenes kleines Fest zurück. Schon früh am nächsten Tag begannen wir, unseren kleinen Tisch festlich für den Abend herzurichten. Mammi hatte uns Kerzen, bunte Servietten, ein weißes Tischtuch und Tischschmuck aus getrockneten Blumen dagelassen. Immer wieder arrangierten wir den Tisch neu, bis wir endlich zufrieden waren. Dann begann das lange Warten.
Es wurde später Nachmittag, bevor Mammi mit dem Essen auftauchte. Sie murmelte ein paar hastige Entschuldigungen. Sie hätte den Tisch nicht verlassen können, weil die Gäste so an ihr interessiert gewesen wären. Die mitgebrachten Köstlichkeiten waren kalt, und natürlich konnte Mammi nicht länger als ein paar Minuten bei uns bleiben. Ehe sie sich zurückzog, verdeutlichte sie uns noch einmal eindringlich, wie kompliziert ihr Leben durch uns sei. Wir dankten ihr für die Truthahnstücke mit den verschiedenen Soßen und Salaten und sahen ihr traurig nach, als sie die Tür hinter sich zuzog. Was hätten wir auch sonst tun sollen? Schließlich konnten wir nicht erwarten, daß sich unsere Situation ausgerechnet am Erntedanktag wesentlich verbesserte.
Die Zwillinge stocherten lustlos auf ihren Tellern herum und fanden an allen Soßen und Salaten irgend etwas »komisch«. Bis Mammi kam, hatten sie in der Erwartung einer großartigen Überraschung ihren Hunger nur mühsam unterdrücken können. Doch was immer sie sich unter einem Erntedankessen vorgestellt hatten, die ihnen vorgesetzten Gerichte entsprachen nicht diesen Vorstellungen. Vielleicht hatte auch Mammis ausgesprochen unfeierlicher Auftritt ihnen die Laune verdorben. Sie maulten und quengelten und hatten an allem etwas auszusetzen. Ich fand unser Mahl noch immer ganz ausgezeichnet, besonders nachdem wir wochenlang in erster Linie von Sandwiches und lauwarmer Suppe gelebt hatten.
Nach dem Dessert – wir konnten zwischen verschiedenen Puddings und Kompotts auswählen, und wir wählten so lange aus, bis nichts mehr übrig war – räumte ich den Tisch ab. Und aus mir unerklärlichen Gründen begann Chris mir zu helfen. Ich konnte es kaum fassen. Er lächelte mich entwaffnend an und küßte mich sogar auf die Wange. Junge, wenn gutes Essen das aus einem Mann machen konnte, dann würde ich die »Haute Cuisine« erlernen wollen. Er nahm sogar selbst seine Socken von der Leine, bevor er zu mir kam und mir beim Abwaschen half.
Zehn Minuten nachdem Chris und ich Geschirr und Besteck ordentlich unter dem Tisch, wo sich ein kleines Ablageregal dafür befand, verstaut und mit einem sauberen Geschirrtuch abgedeckt hatten, verkündeten die Zwillinge wie aus einem Munde: »Wir haben Hunger! Der Bauch tut uns weh vor Hunger!«
Chris saß schon wieder über einem seiner Bücher. Also stand ich vom Bett auf, legte mein Buch beiseite und gab den beiden, ohne ein Wort, Erdnußbuttersandwiches aus unserem Picknick-Korb.
Während sie mit kleinen, gezierten Bissen davon aßen, sah ich ihnen mit ehrlichem Erstaunen zu. Wie konnten sie nur an diesem widerlichen Zeug Geschmack finden, nachdem eben noch die besten Sachen vor ihnen auf dem Tisch gestanden hatten? Die Mutter für kleine Kinder zu spielen war nicht so leicht, wie es mir zunächst vorkommen wollte, und ein besonderes Vergnügen war es auch nicht immer.
»Setz dich nicht auf den Fußboden, Cory. Der Boden ist zu kalt, wozu haben wir denn Stühle?«
»Ich mag keine Stühle«, sagte Cory und nieste kräftig.
Am nächsten Tag hatte Cory einen bösen Schnupfen. Sein kleines Gesicht war heiß und gerötet. Er jammerte, daß ihm alles weh täte und er keinen Finger mehr rühren könne. »Cathy, wo ist meine Mammi, meine richtige Mammi?« Oh, wie sehr er seine richtige Mammi vermißte. Schließlich ließ sie sich dann tatsächlich blicken.
Ein Blick auf Cory genügte ihr, um besorgt die Stirn zu runzeln und ein Fieberthermometer zu holen. Sie kehrte mit unglücklichem Gesicht zurück, die erbost wirkende Großmutter auf den Fersen.
Als er das dünne Glasröhrchen im Mund hielt, blickte Cory zu seiner Mutter hoch wie zu einem goldenen Engel, der alles Übel im Handumdrehen vertreiben würde. Und ich, die Ersatzmutter, war völlig vergessen.
»Lieber Schatz, mein Süßer«, gurrte sie, und sie nahm ihn aus dem Bett auf ihren Arm und trug ihn zum Schaukelstuhl. Dort saß sie dann mit Cory auf dem Schoß und küßte ihn auf die Stirn. »Ich bin ja bei dir, kleiner Schatz. Ich habe dich doch lieb. Ich sorge für dich und mache, daß es bald gar nicht mehr weh tut. Du brauchst nur deinen Teller leer zu essen und deinen Orangensaft schön auszutrinken wie ein lieber Junge, und schon geht es dir wieder besser.«
Sie legte ihn wieder ins Bett. Dann schob sie ihm ein Aspirin in den Mund und gab ihm Wasser zu trinken, damit er es hinunterspülen konnte. Tränen verschleierten Mammis blaue Augen, und ihre schlanken weißen Hände arbeiteten nervös.
Ich kniff die Augen zusammen, als ich sah, wie sie den Blick senkte und die Lippen bewegte wie zu einem stummen Gebet.
Zwei Tage später lag Carrie neben Cory im Bett, schniefte und hustete. Ihre Temperatur stieg mit so alarmierender Geschwindigkeit, daß ich fast in Panik geriet. Selbst Chris blickte besorgt drein. Lustlos und blaß lagen die beiden Seite an Seite in dem großen Bett. Kleine Finger zogen sich die Decke bis dicht unter das runde Kinn.
Sie schienen bald aus Porzellan zu bestehen, die Haut weiß und wächsern. Die blauen Augen wurden größer und größer, während sie tiefer und tiefer in die Augenhöhlen sanken. Dunkle Schatten legten sich darum, bis die beiden wie kleine Gespenster aussahen. Wenn unsere Mutter nicht da war, flehten die beiden Augenpaare Chris und mich mit dumpfen Blicken an, etwas, irgend etwas zu tun, das Elend zu lindern.
Mammi nahm sich eine Woche frei von ihrer Sekretärinnenschule, damit sie so oft wie möglich bei ihren kranken Kleinen sein konnte. Ich haßte nur, daß die Großmutter sich ständig an die Fersen unserer Mutter heftete. Immer steckte die furchtbare Alte ihre Nase in Dinge, die sie nichts angingen, und überhäufte uns mit Ratschlägen, auf die wir gerne verzichtet hätten. Sie hatte uns ja bereits ausführlich erklärt, daß es uns gar nicht gab, daß wir nicht existierten, daß wir kein Recht hatten, auf Gottes Erde zu leben, die allein für solche reserviert war, die sie gottgefällig und rein betreten hatten wie unsere Großmutter. Kam sie nur zu uns, damit es uns noch elender ging und wir auch an der Anwesenheit unserer Mutter keinen Trost fanden?
Das Rascheln ihres bedrohlichen grauen Taftkleides, der Klang ihrer Stimme, ihr aggressiver harter Schritt, der Anblick ihrer großen weißen Hände, weich und mit schlaffer Haut, blitzende Diamantringe an den Fingern, braune Pigmentflecken auf dem Handrücken ... o ja, ein Blick auf diese Frau genügt, um sich angewidert zu fühlen.
Dann war da natürlich unsere Mutter, die oft zu uns hereingehuscht kam und alles tat, damit es den Zwillingen wieder besserging. Auch um ihre Augen lagen bald tiefe Schatten, während sie den beiden Aspirin gab mit Wasser und danach Orangensaft und sie schließlich mit heißer Hühnerbrühe fütterte.
Eines Morgens kam Mammi mit einer großen Thermosflasche voll frisch ausgedrücktem Orangensaft. »Der ist besser als der tiefgefrorene oder der aus der Büchse«, erklärte sie, »voller Vitamin C und A, und die sind besonders gut gegen Erkältungen.« Danach listete sie auf, was Chris und ich tun sollten, wie oft den Orangensaft, die Tabletten und so weiter. Wir stellten die Thermosflasche auf die Treppe zum Dachboden – im Winter ersetzte dieser Aufbewahrungsort jeden Kühlschrank.
Ein Blick auf das Thermometer in Carries Mund, und Mammis geschäftige Ruhe verwandelte sich in hektische Panik. »O Gott!« rief sie bestürzt. »Über vierzig Fieber. Ich muß sie zu einem Arzt bringen, ins Krankenhaus.«
Ich stand gerade vor dem großen Ankleidespiegel und beschäftigte mich mit meinen morgendlichen Ballettübungen, die ich wegen der arktischen Kälte auf dem Dachboden in unser Zimmer verlegt hatte. Im Spiegel konnte ich die Großmutter beobachten und starrte gebannt auf ihr Gesicht, um ihre Reaktion zu verfolgen.
Die Großmutter hatte nichts für jemand übrig, der sich nicht beherrschte und die Nerven verlor. »Mach dich nicht lächerlich, Corinna. Kinder in diesem Alter bekommen leicht mal hohes Fieber, wenn sie krank sind. Das heißt aber gar nichts. Du brauchst dich nicht darüber aufzuregen, soviel müßte dir doch klar sein. Ein Schnupfen ist nur ein Schnupfen.«
Chris fuhr von dem Buch hoch, mit dem er sich zur Zeit beschäftigte. Er glaubte, die Zwillinge hätten die Grippe, ohne allerdings eine Ahnung davon zu haben, bei wem sie sich angesteckt haben könnten.
Die Großmutter fuhr fort: »Ärzte? Was wissen die schon, wie man einen Schnupfen kuriert? Soviel wie die wissen wir auch. Gegen Schnupfen gibt es nur ein Mittel: im Bett bleiben, viel Flüssigkeit zu sich nehmen und Aspirin schlucken – was sonst wohl? Und genau das machen wir ja mit den beiden.« Sie warf mir einen wütenden Blick zu. »Hör auf, deine Beine herumzuschwingen, Mädchen. Du machst mich nervös.« Dann wandte sie ihre Worte und ihre Augen wieder unserer Mutter zu. »Also paß auf, meine Mutter hat immer gesagt, der Schnupfen kommt drei Tage, bleibt drei Tage und geht drei Tage.«
»Was ist, wenn sie Grippe haben?« fragte Chris. Die Großmutter drehte ihm den Rücken zu und ignorierte seine Frage. Sie konnte sein Gesicht nicht ausstehen, es erinnerte zu sehr an das unseres Vaters. »Ich hasse es, wenn Leute, die es eigentlich besser wissen müßten, das in Frage stellen, was ihnen alte und kluge Menschen sagen. Jeder kennt die Schnupfenregel: Drei Tage kommt er, drei steht er, drei geht er. So ist das nun mal – es wird ihnen wieder bessergehen.«
Wie die Großmutter vorausgesagt hatte, erholten sich die Zwillinge. Aber nicht in neun Tagen ... in neunzehn Tagen. Mit warmen Decken, Aspirin und viel zu trinken bekamen wir sie tatsächlich über den Berg – kein Rezept vom Arzt, keine Medikamente, die den beiden die Sache leichter gemacht hätten und die es weniger lange hätten dauern lassen. Tagsüber schliefen Carrie und Cory im gleichen Bett, nachts schlief Carrie bei mir und Cory bei seinem Bruder. Ich verstehe bis heute nicht, warum Chris und ich nicht ebenfalls krank wurden.
Die ganze Nacht sprangen wir immer wieder aus dem Bett, um Wasser zu holen oder Orangensaft. Sie schrien nach ihrer Mammi, nach Keksen, nach etwas, mit dem sie sich die Nase putzen konnten. Sie warfen sich müde und unwohl im Bett von einer Seite auf die andere, hatten Angst vor Dingen, denen sie keine Namen geben konnten und die ich nur in ihren großen, furchtsamen Augen erkannte, Augen, die mir fast das Herz brachen. Sie stellten Fragen, während sie krank waren, die sie als Gesunde nie gestellt hatten ... war das nicht eigenartig?
»Warum müssen wir den ganzen Tag hier oben in dem Zimmer sein?«
»Ist unten gar nichts mehr? Ist ›draußen‹ weggegangen?«
»Hat es sich da versteckt, wo auch die Sonne hingegangen ist?«
»Hat Mammi uns überhaupt nicht mehr nicht lieb?«
»Nicht mehr nicht ist ein falscher Ausdruck«, korrigierte ich.
»Warum sind die Wände so fusselig?«
»Sind sie fusselig?« fragte ich zurück.
»Chris, er sieht auch so fusselig aus!«
»Chris ist müde.«
»Bist du müde, Chris?«
»Schätzchen! Ich fände es prima von euch beiden, wenn ihr jetzt schlafen würdet und nicht mehr so viele Fragen stelltet. Und Cathy ist auch müde. Wir würden beide gerne ein ganz kleines bißchen schlafen. Ihr zwei seid nämlich ganz schön laut, wenn ihr schlaft, wißt ihr.«
»Wir sind gar nicht laut beim Schlafen.«
Wenn es nicht mehr auszuhalten war, nahm Chris Cory auf den Arm und setzte sich mit ihm in den Schaukelstuhl. Ich setzte mich dann mit Carrie auch noch auf Chris’ Schoß, und so schaukelten wir mitten in der Nacht stundenlang vor uns hin und erzählten lange Geschichten. In manchen Nächten lasen wir den beiden auch bis vier Uhr morgens Geschichten vor. Wenn sie weinten und nach ihrer Mammi schrien, bemühten wir uns, so gut wir konnten, Vater und Mutter zu spielen, und sangen ein Kinderliedchen nach dem anderen. Wir schaukelten so lange mit dem Stuhl, daß die Dielenbretter zu knarren begannen, was mit Sicherheit in den unteren Stockwerken nicht zu überhören war.
Und währenddessen hörten wir den Wind über den Hügeln heulen. Er fegte durch die kahlen Baumskelette, rüttelte an den Fenstern und wisperte beständig von Sterben und Tod. Er ächzte und seufzte auf dem Dachboden, brauste und winselte und versuchte uns in allen Tonlagen daran zu erinnern, daß wir hier nicht in einer sicheren Zuflucht waren.
Wir lasen so viel laut vor und sangen so lange, daß Chris und ich heiser wurden und vor Erschöpfung selbst fast bettreif. Jede Nacht beteten wir auf den Knien zu Gott, er möge es unseren Kleinen doch wieder bessergehen lassen. »Bitte, lieber Gott, laß sie wieder so werden, wie sie immer gewesen sind!«
Der Tag kam, an dem der Husten nachließ und die übermüdeten Augen sich endlich zu einem langen erholsamen Schlaf schlossen. Aber es dauerte qualvoll lange, bis die beiden sich auch nur einigermaßen erholt hatten. Als sie schließlich wieder »in Ordnung« waren, unterschieden sie sich erheblich von dem robusten, munteren Paar, das wir gewohnt waren. Cory, der schon vorher nicht gerade sehr gesprächig gewesen war, sagte nun so gut wie überhaupt nichts mehr. Carrie, die früher stundenlang mit Begeisterung ihrem eigenen Geschnatter zugehört hatte, wurde nun so still, wie sonst Cory gewesen war. Doch als ich nun die Stille erlebte, die ich mir früher so oft gewünscht hatte, sehnte ich mich danach, wieder Carries endloses Vogelgezwitscher, ihre fortwährende Unterhaltung mit Puppen, Spielzeugautos, Eisenbahnen, Kopfkissen, Pflanzen, Schuhen, Schlafanzügen und Möbeln zu hören.
Ich überprüfte ihre Zunge und fand, daß sie bleich und weißlich aussah. Beunruhigt richtete ich mich auf und sah auf die beiden Kleinen, die da vor mir nebeneinander unter einer Decke lagen. Warum hatte ich mir nur gewünscht, sie würden sich älter geben und ihre Kleinkinderart ablegen? Die lange Krankheit hatte sie nun tatsächlich älter gemacht – über Nacht. Sie hatte ihnen dunkle Ringe um die blauen Augen gelegt und ihnen die gesunde Babyfarbe von den Gesichtern gestohlen. Das Fieber und der Husten nahmen ihren Gesichtern alles Kindliche und gaben ihnen dafür einen abgeklärten Ausdruck, den Ausdruck der Alten und Müden, die nur noch stumm dalagen und denen es gleich war, ob die Sonne aufging oder die Nacht sich herabsenkte für immer. Sie machten mir Angst. Diese gespenstischen Gesichter verfolgten mich in meinen Träumen und verwandelten sie in Träume vom Tod.
Und der Wind heulte unablässig in den Nächten.
Schließlich standen sie wieder auf und begannen langsam im Zimmer umherzulaufen. Beine, die einmal so pummelig und rosig gehüpft und gesprungen waren, wirkten jetzt so dünn und kraftlos wie Strohhalme. Jetzt krochen die Zwillinge nur noch, statt zu laufen, und sie lächelten, statt zu lachen.
Erschöpft fiel ich mit dem Gesicht nach unten auf mein Bett und grübelte und grübelte und grübelte – was konnten Chris und ich nur tun, um aus ihnen wieder die zauberhaften, fröhlichen, verspielten Kleinkinder zu machen? Es gab nichts, mit dem wir ihnen hätten helfen können, auch wenn wir gerne unsere eigene Gesundheit dafür gegeben hätten.
»Vitamine!« sagte Mammi, als Chris und ich ihr die ungesunde Wandlung der Zwillinge klarzumachen versuchten. »Vitamine sind genau das, was ihnen fehlt – und euch beiden auch. Von heute an muß jeder von euch täglich eine Vitaminkapsel schlucken.« Während sie das sagte, hob sich ihre schlanke, elegante Hand, um routiniert ihre wundervoll frisierte, schimmernde Haarpracht zurechtzustreichen.
»Bekommt man frische Luft und Sonnenschein jetzt aus Kapseln?« fragte ich vom Bett nebenan, wo ich mich ausgestreckt hatte. Ich fixierte meine Mutter, die sich weigerte zu sehen, was hier wirklich fehlte. »Wenn jeder von uns täglich eine Vitaminkapsel schluckt, gibt uns das unsere strahlende Gesundheit zurück, die wir einmal hatten, als wir noch ein normales Leben lebten und den größten Teil unserer Zeit an der frischen Luft verbrachten?«
Mammi trug Rosa – sie sah in Rosa besonders hübsch aus. Es gab ihren Wangen einen rötlichen Schimmer und ihrem Haar einen warmen Glanz.
»Cathy«, antwortete sie und warf mir einen tadelnden Blick zu, während sie versuchte, ihre unruhigen Hände zu verstecken, »warum willst du es mir immer so schwer machen? Ich tue doch mein Bestes für euch. Das tue ich wirklich. Ja, wenn du die Wahrheit wissen willst, mit Vitaminen kann man all die Gesundheit von frischer Luft aufnehmen – genau dafür werden sie schließlich hergestellt.«
Ihre Begriffsstutzigkeit schmerzte mich nur noch mehr. Meine Augen suchten Chris, der den Kopf gesenkt hatte und allem zuhörte, ohne selbst etwas dazu zu sagen. »Wie lange wird unsere Gefangenschaft noch dauern, Mammi?«
»Nur noch kurze Zeit, Cathy, nur noch ein bißchen länger – glaub mir!«
»Noch einen Monat?«
»Möglich.«
»Könntest du es nicht irgendwie schaffen, dich mit den Zwillingen hier rauszuschleichen, und, sagen wir mal, mit ihnen einen Nachmittag in deinem Auto durch die Gegend fahren? Du könntest es doch bestimmt so einrichten, daß die Dienstboten nichts davon mitbekommen: Ich glaube, das wäre eine große Hilfe. Chris und ich wollen gar nicht mit.«
Sie wirbelte herum und starrte meinen älteren Bruder an, um zu sehen, ob er etwa an diesem Plan beteiligt war. Aber seine Überraschung war ihm überdeutlich vom Gesicht abzulesen. »Nein! Keinesfalls! Ein solches Risiko kann ich nicht eingehen! In diesem Haus arbeiten acht Hausangestellte, und auch wenn ihre Zimmer in einem Seitenflügel liegen, schaut immer irgendwer von ihnen aus dem Fenster, und sie würden hören, wenn ich den Wagen anlasse. Neugierig, wie sie sind, würden sie sofort nachsehen, wo ich hinfahre.«
Meine Stimme wurde eisig. »Dann sorge bitte dafür, daß wir wenigstens viel frisches Obst bekommen, insbesondere Bananen. Du weißt, wie gerne die Zwillinge Bananen essen, und sie haben keine mehr gesehen, seit wir hier hergekommen sind.«
»Morgen bringe ich euch Bananen mit. Euer Großvater mag keine Bananen.«
»Was hat der denn damit zu tun?«
»Aus diesem Grund werden in diesem Haus keine Bananen eingekauft.«
»Du fährst doch jeden Tag zu deiner Sekretärinnenschule. Halt unterwegs an und kauf uns Bananen und Rosinen. Und warum können wir nicht wenigstens hin und wieder eine Tüte Popcorn bekommen? Deshalb werden wir bestimmt nicht gleich zum Zahnarzt müssen.«
Sie nickte erfreut und versprach, für alles zu sorgen. »Und was hättest du gerne für dich selbst von mir?«
»Freiheit! Ich will hier raus! Ich habe es satt, den ganzen Tag in einem Zimmer eingeschlossen leben zu müssen. Ich will, daß die Zwillinge wieder frei atmen können und Chris genauso. Ich will, daß du ein Haus für uns mietest oder kaufst, oder, meinetwegen, stiehl eins – aber hol uns aus diesem Haus hier raus!«
»Cathy«, bettelte sie, »ich tue doch alles, was ich kann. Bringe ich euch denn nicht jedesmal neue Geschenke mit, wenn ich zur Tür hereinkomme? Was fehlt euch denn noch, außer den Bananen? Sag es mir!«
»Du hast versprochen, wir müßten nur kurze Zeit hier drinnen bleiben – inzwischen sind es schon Monate.«
Sie streckte in einer flehenden Geste die Hände aus.»Erwartest du, daß ich meinen Vater umbringe?«
Ich schüttelte hilflos den Kopf.
»Du läßt sie in Ruhe!« explodierte Chris, kaum daß sich die Tür hinter seiner Göttin geschlossen hatte. »Sie versucht nur, das Beste für uns zu tun! Hör auf, auf ihr herumzuhacken! Es ist ein Wunder, daß sie es überhaupt noch aushält, so oft bei uns vorbeizusehen, wo du sie jedesmal nur mit Vorwürfen überhäufst und versuchst, sie fertigzumachen! Woher weißt du, daß sie nicht unter alldem furchtbar leidet? Glaubst du, sie ist glücklich bei dem Gedanken, daß ihre vier Kinder in einem Zimmer eingeschlossen sind und nur auf einem Dachboden spielen können?«
Es war schwer, bei einem Menschen wie unserer Mutter zu sagen, was er dachte und was er fühlte. Ihr Ausdruck war immer ruhig, beruhigend, obwohl sie oft müde wirkte. Ihre Kleider waren neu und teuer, und sie trug selten dasselbe Kleid zum zweitenmal, aber sie brachte auch uns ständig neue, teure Kleidungsstücke mit. Nicht daß es etwas ausgemacht hätte, wie wir herumliefen. Niemand sah uns außer der Großmutter. Und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten wir wahrscheinlich in Lumpen gekleidet sein können und ihr noch einen Gefallen damit getan.
Wenn es regnete oder schneite, gingen wir nicht mehr auf den Dachboden. Und selbst an den klaren Tagen heulte dort oben der Wind zu wild, schrie und kreischte in den Spalten und Ritzen des alten Dachgebälks.
Einmal wurde Cory nachts wach und rief nach mir. »Mach, daß der Wind weggeht, Cathy.«
Ich verließ mein Bett, in dem Carrie fest auf ihrer Seite schlief, und huschte hinüber zu Cory, neben dem ich unter die Bettdecke krabbelte. Ich nahm ihn fest in den Arm, spürte den kleinen, mageren Körper, der sich so sehr nach seiner richtigen Mutter sehnte ... und nur mich hatte. Er fühlte sich so klein und so zerbrechlich an, als könnte der wilde, böse Wind ihn wirklich fortwehen. Ich senkte mein Gesicht in seine sauberen, süßlich riechenden Locken und küßte ihn dort, so wie ich es gemacht hatte, als er ein Baby war und an die Stelle meiner Puppen getreten war. »Ich kann den Wind nicht verjagen, Cory. Nur Gott kann ihn wegschicken.«
»Dann sag Gott, daß ich den Wind nicht mag«, sagte er schläfrig. »Sag Gott, der Wind will hier reinkommen und mich wegholen.«
Ich nahm ihn noch fester in den Arm und kuschelte ihn eng an mich ... niemals, niemals würde ich den Wind meinen Cory holen lassen, nie! Aber ich wußte, was Cory meinte.
»Erzähl mir eine Geschichte, damit ich nicht mehr an den Wind denke, Cathy.«
Es gab eine ganz spezielle Geschichte, die ich mir für Cory zurechtgebastelt hatte und die ich bei jedem Erzählen weiter perfektionierte. Sie handelte von einer Märchenwelt, in der kleine Kinder in einem gemütlichen kleinen Haus mit einem richtigen Vater und einer richtigen Mutter lebten, großen, starken Eltern, die alle bösen Wesen verjagen konnten. Zu dem Haus gehörte ein riesengroßer Garten, wo richtige Blumen blühten – die Art von Blumen, die im Herbst stirbt und in jedem Frühjahr aufersteht. Es gab einen kleinen Hund namens Clover und eine kleine Katze namens Calico, und jeder liebte jeden, und niemand wurde je gepeitscht, geschlagen, angeschrien, ausgeschimpft, noch waren je irgendwelche Türen abgeschlossen oder Vorhänge zugezogen.
»Sing mir ein Lied, Cathy. Ich habe es so gern, wenn du mich in den Schlaf singst.«
Ich hielt ihn kuschelig im Arm und begann Verse zu singen, die ich mir zu einer Melodie ausgedacht hatte, die Cory ständig vor sich hin summte ... sein Lied. Ein Lied, das ihm seine Angst vor dem Wind nehmen sollte, und vielleicht auch meine gleich mit. Es war mein erster Versuch, Verse zu dichten.
Ich höre, wie der Wind von den Hügeln singt,
Sein Lied ist es, was nachts mir in den Ohren klingt.
Er flüstert mir ins Ohr ganz leis,
Doch nie versteh’ ich seine Weis’.
Ich fühle, wie es weht so fern vom Meer,
Trägt Träume mir von fernen Landen her,
Doch niemals streicht der Wind mir übers Haar,
Gibt mir nie das Gefühl, jemand ist da.
Doch einmal werd’ ich selbst die Hügel sehen,
Werd’ selber mich im Winde drehen,
Einmal wird andres Leben wirklich wahr,
Wenn ich nur lebe noch ein nächstes Jahr.
Und mein Kleiner war in meinen Armen eingeschlafen. Er atmete ruhig und gleichmäßig wie jemand, der sich in Sicherheit fühlte. Auf der anderen Seite von seinem Kopf lag Chris mit weit offenen Augen, die zur Decke starrten.
Als mein Lied zu Ende war, drehte er sich zu mir und sah mich in der Dunkelheit an. Sein fünfzehnter Geburtstag war gekommen und wieder vergangen – mit einer Torte aus der Konditorei und Eiskrem, um den besonderen Tag zu würdigen. Geschenke – die gab es ja fast jeden Tag. Eine Polaroid-Kamera hatte er inzwischen, eine neue, bessere Uhr. Großartig. Wunderbar. Wie konnte er sich so leicht zufriedengeben?
Sah er nicht, daß unsere Mutter schon nicht mehr dieselbe wie früher war? Fiel ihm nicht auf, daß sie längst nicht mehr jeden Tag kam? War er so voller Vertrauen, daß er ihr noch immer jedes Wort glaubte, ihr jede Entschuldigung, jede Ausrede abnahm?
Weihnachtsabend. Seit fünf Monaten lebten wir jetzt auf Foxworth Hall. Nicht ein einziges Mal hatten wir die unteren Etagen dieses riesigen Hauses betreten, vom Garten ganz zu schweigen. Wir hielten uns an die Regeln: Wir sprachen unser Tischgebet regelmäßig; wir knieten jeden Abend neben unseren Betten und beteten; wir benahmen uns anständig im Badezimmer; wir hielten unsere Gedanken rein, sauber und unschuldig ... aber eines schien mir beunruhigend: Unsere Mahlzeiten wurden von Tag zu Tag schlechter, was die Qualität anging.
Ich redete mir ein, daß es nichts ausmachte, wenn wir einmal ein Weihnachten nicht einkaufen gehen konnten. Es würde ein anderes Weihnachten geben, an dem wir reich sein würden, reich, reich, reich, und dann konnten wir alles nachholen. Wir konnten kaufen, was wir wollten. Wie herrlich wir in unseren tollen Kleidern aussehen würden, mit unseren geschliffenen Manieren, unseren weichen, überzeugenden Stimmen, die der Welt sagten, daß wir etwas waren ... etwas ganz Besonderes ... jemand, den man liebte, schätzte, bewunderte, den man brauchte.
Natürlich wußten Chris und ich längst, daß es keinen richtigen Weihnachtsmann gab. Aber wir wünschten, daß die Zwillinge an den Weihnachtsmann glaubten, und ihnen nicht der wunderbare Zauber dieses dicken, gemütlichen alten Mannes mit dem weißen Bart verlorenging, des Mannes, der durch die Welt huschte und allen Kindern genau das brachte, was sie sich wünschten – selbst wenn sie gar nicht wußten, was sie sich wünschten, bevor sie es in den Händen hielten.
Was wäre eine Kindheit ohne Weihnachtsmann gewesen? Jedenfalls keine Kindheit, wie ich sie mir für unsere Zwillinge wünschte. Auch für uns Eingeschlossene war Weihnachten eine Zeit, in der es viel zu tun gab – selbst wenn man begann, mißtrauisch zu werden, zu zweifeln, zu verzweifeln. Heimlich hatten Chris und ich Geschenke für Mammi gebastelt (die wirklich alles hatte) und für die Zwillinge – Plüschtiere aus Stoff, die wir mühevoll von Hand zusammennähten und dann mit Baumwolle füllten. Ich besorgte die ganze Stickerei für die Gesichter. Keine einfache Sache, denn ich mußte sie besticken, solange sie noch leere Hüllen waren. Außerdem arbeitete ich an einer Wollmütze für Chris, an der ich nur im Badezimmer eingeschlossen strickte, damit es auch wirklich eine Überraschung wurde. Die Mütze aus dicker roter Wolle wurde länger und länger und länger. Ich glaube, Mammi hatte vergessen, mir das Abnehmen beizubringen.
Dann hatte Chris einen absolut idiotischen und furchtbaren Einfall. »Laß uns doch für die Großmutter auch ein Geschenk vorbereiten. Ich finde, es ist nicht richtig, wenn wir sie auslassen. Sie bringt uns jeden Tag unser Essen, und, wer weiß, vielleicht schaffen wir es gerade mit einem Weihnachtsgeschenk, ihre Sympathie zu gewinnen. Oder das, was sie dafür hält. Überleg doch mal, wieviel einfacher und erträglicher alles für uns würde, wenn sie besser mit uns zurechtkäme.«
Ich war von der Idee fasziniert genug, um mir vorzustellen, so etwas wäre möglich. Und wir schufteten Stunde um Stunde für dieses Geschenk an eine alte Hexe, die uns haßte. Die ganze Zeit über hatte sie uns noch kein einziges Mal beim Namen genannt.
Wir spannten Leinwand auf einen Rahmen und umwickelten diesen Rahmen dann kunstvoll mit gefärbter Kordel. Die Farben immer abwechselnd, und wenn wir einen Fehler machten, fingen wir von vorne an. Sie war ein Perfektionist, und ihr würde es auffallen, selbst wenn es nur ein noch so kleiner Fehler war. Und wir würden ihr, ganz bestimmt, nie etwas Geringeres geben als unser Allerbestes.
»Weißt du«, sagte Chris, »ich glaube wirklich, daß wir noch eine Chance haben, sie irgendwie ein wenig für uns einzunehmen. Schließlich ist sie unsere Großmutter, und die Menschen verändern sich doch im Laufe der Zeit. Während Mammi sich um ihren Vater bemüht, müssen wir uns um ihre Mutter kümmern. Und selbst wenn sie sich weigert, mich anzusehen, dich sieht sie an.«
Sie sah mich nicht an, jedenfalls nicht richtig. Sie sah nur auf mein Haar – aus irgendeinem Grund war sie von diesem Haar fasziniert.
»Denk doch mal daran, daß sie uns die gelben Chrysanthemen gegeben hat, Cathy.« Er hatte recht – das allein war immerhin ein kräftiger Strohhalm, an den man sich klammern konnte.
Am späten Nachmittag kam Mammi in unser Zimmer und brachte uns einen kleinen Weihnachtsbaum in einem Holzkübel. Eine kleine Tanne – was konnte mehr nach Weihnachten riechen? Mammis Wollkleid war aus leuchtendem rotem Jersey. Es lag eng an und zeigte all die Kurven, die ich mir auch wünschte eines Tages zu haben. Sie lachte und war fröhlich und aufgekratzt, und sie steckte uns damit an, als sie uns half, den Baum zu schmücken. Kerzen und kleine Figuren hatte sie ebenfalls dabei. Dazu bekamen wir noch vier lange Strümpfe, die wir an den Bettpfosten aufhängten, damit der Weihnachtsmann sie vollstopfen konnte.
»Nächstes Jahr um diese Zeit leben wir schon in unserem eigenen Haus«, sagte sie strahlend, und ich glaubte es.
»Ja«, sagte Mammi und lächelte, daß wir alle uns ihrer Freude nicht mehr entziehen konnten, »nächstes Jahr zu Weihnachten wird das Leben für uns herrlich sein. Wir werden jede Menge Geld haben, um uns ein eigenes Heim kaufen zu können. Und alles, was ihr euch wünscht, wird euch gehören. Ehe ihr euch verseht, habt ihr die ganze Zeit hier oben und den Dachboden für immer vergessen. Die vielen Tage, die ihr so tapfer durchgehalten habt, sind dann einfach vorbei, als hätte es sie nie gegeben.«
Sie küßte uns und sagte uns, wie sehr sie uns liebte. Wir sahen ihr nach, als sie ging, und diesmal fühlten wir uns nicht allein gelassen. Sie hatte uns die Köpfe mit neuen Träumen und neuen Hoffnungen gefüllt.
Mammi kam nachts, während wir schliefen, zurück. Als ich morgens wach wurde, sah ich, daß die Strümpfe bis zum Rand gefüllt waren. Der kleine Tisch, auf dem der Baum stand, quoll über vor Geschenken. An jedem freien Fleck im Zimmer standen neue Spielsachen für die Zwillinge, all die Sachen, die zu groß und sperrig waren, um sie in Geschenkpapier zu wickeln.
Mein Blick traf den von Chris. Er zwinkerte mir zu, grinste und sprang aus dem Bett. Er griff nach den silbernen Glocken an den roten Plastikzügeln und klingelte wild damit. »Frohe Weihnachten!« rief er los. »Alles aufwachen! Carrie, Cory, ihr beiden Schlafmützen – macht die Augen auf, aufgestanden und geguckt! Seht euch an, was der Weihnachtsmann euch alles gebracht hat.«
Sie brauchten so lange, um sich von ihren Träumen zu lösen, rieben sich die verklebten Augen und starrten ungläubig auf die vielen Spielsachen, auf die wunderschön verpackten Kartons mit Namensschildern und auf die Strümpfe voller Plätzchen, Nüssen, Süßigkeiten, Obst, Kaugummi, Pfefferminzstangen und Schokoladenweihnachtsmännern.
Echte Süßigkeiten – endlich! Harte Bonbons, diese bunten Dinger aus den großen Gläsern in den Geschäften, die beste Art, schwarze Löcher in die Zähne zu bekommen. Oh, aber sie rochen und schmeckten so weihnachtlich und waren für Weihnachten einfach unerläßlich.
Cory saß in seinem Bett, ganz benommen, rieb sich noch einmal die Augen mit den kleinen Fäusten und schien die Sprache verloren zu haben.
Aber Carrie fand noch immer Worte. »Wie hat der Weihnachtsmann es denn überhaupt geschafft, uns zu finden?«
»Och, der Weihnachtsmann hat einen Zauberblick«, erklärte Chris und schnappte sich Carrie. Er hob sie sich auf die eine Schulter, und dann schwang er sich Cory auf die andere. Er tat genau das, was Daddy getan hätte. Tränen stiegen mir in die Augen.
»Der Weihnachtsmann würde niemals versehentlich ein paar Kinder übersehen«, sagte er. »Abgesehen davon weiß er, daß ihr hier seid, denn ich habe ihm einen sehr langen Brief geschrieben und ihm unsere Adresse geschickt, und dazu habe ich eine Liste mit all den Sachen gelegt, die wir gerne hätten, und die war über einen Meter lang.«
Wie albern, dachte ich. Denn eine Liste mit allem, was wir vier wollten, war ausgesprochen kurz. Wir wollten hier raus. Wir wollten unsere Freiheit.
Ich setzte mich im Bett auf und blickte in die Runde. In meiner Kehle spürte ich einen süßsauren Klumpen. Mammi hatte sich Mühe gegeben, o ja. Sie hatte ihr Bestes getan, so wie es um uns aussah. Sie liebte uns, sie kümmerte sich um uns. Schließlich mußte sie Monate dafür gebraucht haben, das alles hier einzukaufen.
Ich schämte mich für alles Böse und Häßliche, was ich von ihr gedacht hatte. Das kam davon, wenn man alles haben wollte, und sofort, und keine Geduld hatte und kein Vertrauen.
Chris sah mich fragend an. »Willst du überhaupt nicht mehr aufstehen? Bleibst du den ganzen Tag im Bett sitzen – magst wohl keine Geschenke auspacken?«
Während Cory und Carrie das Geschenkpapier aufrissen, kam Chris zu mir und streckte mir die Hand entgegen. »Komm, Cathy, genieß das einzige Weihnachten, das du je mit zwölf Jahren feiern kannst. Mach ein einzigartiges Weihnachtsfest daraus, anders als alle anderen, die du später jemals feiern wirst.« Seine blauen Augen flehten mich an.
Ich legte meine Hand in seine warme Hand und lachte. Weihnachten blieb Weihnachten, wo immer man es auch feierte und unter welchen Umständen, es war ein Tag der Freude. Wir packten alles aus und probierten unsere neuen Sachen an, während wir uns Süßigkeiten in den Mund steckten, obwohl wir noch nicht mal gefrühstückt hatten. Und der »Weihnachtsmann« hatte uns noch einen Zettel dagelassen, auf dem er uns riet, die süßen Sachen vor einer »Ihr-wißt-schon-wer« besser zu verstecken. Schließlich verursachten sie doch Karies. Selbst an Weihnachten.
Ich saß auf dem Boden in meinem neuen tollen Bademantel aus grüner Seide. Chris hatte einen aus rotem Flanell bekommen, der zu seinem Pyjama paßte. Den Zwillingen zog ich ihre kleinen blauen Bademäntel an. Ich glaube nicht, daß es vier glücklichere Kinder geben konnte als wir vier früh an diesem Morgen. Schokoladentafeln empfanden wir inzwischen als etwas teuflisch Heiliges und als noch süßer, weil sie verboten waren. Es war der siebte Himmel, diese Schokolade im Mund zu haben und ganz, ganz langsam schmelzen zu lassen, wobei ich die Augen schloß, um noch besser den Geschmack genießen zu können. Als ich zur Seite schaute, sah ich, daß Chris es genauso machte. Komisch, wie die Zwillinge ihre Schokolade aßen. Sie rissen vor Begeisterung die Augen weit auf. Hatten sie die Bonbons völlig vergessen? Es schien so, denn sie hatten offenbar bereits ein Stück Paradies im Mund. Als wir den Schlüssel im Schloß hörten, versteckten wir die Süßigkeiten blitzschnell unter dem nächsten Bett.
Es war die Großmutter. Sie kam still herein, den Picknick-Korb am Arm. Sie stellte den Korb auf den kleinen Tisch. Sie sagte nicht »Frohe Weihnachten«, sie sagte auch nicht »Guten Morgen«, sie lächelte nicht und zeigte auch sonst in keiner Weise, daß heute ein besonderer Tag war. Und wir durften ja nicht mit ihr sprechen, solange sie uns nicht ansprach.
Es war sehr ängstlich und zögernd, aber auch mit großen Hoffnungen, daß ich ihr Päckchen in die Hand nahm. Wir hatten es in rotes Geschenkpapier gepackt, das wir von einem von Mammis Geschenken genommen hatten. Unter diesem schönen Papier befand sich unser Collagegemälde, mit dem wir alle vier gemeinsam versucht hatten, das Bild eines perfekten Gartens zu erschaffen. In den alten Kisten auf dem Dachboden hatten wir die verschiedensten Stoffreste gefunden, aus denen wir leuchtend bunte Schmetterlinge zusammengeklebt hatten. Besonders der von Cory, mit gelben, grünen und schwarzen Seidenstreifen und roten Steinaugen, war schöner als jedes in der Natur vorkommende Exemplar. Unsere Bäume hatten wir aus braunen Seilresten zusammengesetzt, auf die Lederfetzen geklebt waren, so daß es wie echte Rinde aussah. In den Zweigen saßen schimmernde Vögel, die aus selbst gefärbten Daunenfedern bestanden, wie wir sie in alten Kissen gefunden hatten. Mit einer alten Zahnbürste hatten wir das Gefieder kunstvoll zurechtgetrimmt.
Ohne Übertreibung konnte man sagen, daß unser Bild wirkliche künstlerische Begabung zeigte und einzigartigen Einfallsreichtum. Unsere Komposition war wohl abgewogen und hatte doch Stil, ja Rhythmus ... und einen Zauber, der unserer Mutter die Tränen in die Augenwinkel trieb, als wir es ihr zeigten. Sie drehte uns rasch den Rücken zu, damit wir nicht sahen, daß sie weinte. Wirklich, diese Collage war bei weitem das Schönste, was wir bisher an Kunst zustande gebracht hatten.
Zitternd und aufmerksam beobachtend wartete ich auf den Moment, an dem die Hände unserer Großmutter leer waren. Da die Großmutter Chris nie ansah und die Zwillinge solche Angst vor ihr hatten, daß sie sich bei ihrer Anwesenheit in den Ecken verkrochen, blieb die Überreichung des Geschenkes an mir hängen ... vorausgesetzt, ich schaffte es, das Zittern in meinen Knien zu überwinden. Chris stieß mich kräftig mit dem Ellbogen an. »Los«, flüsterte er mir zu, »in einer Minute ist sie wieder draußen.«
Meine Füße schienen am Boden festgenagelt. Ich hielt das lange, rot eingewickelte Paket vor mir auf beiden Armen. Von meiner Haltung her mußte es wie eine heilige Opfergabe wirken. Es war schwer, ihr etwas zu geben, hatte sie uns doch nichts als Feindschaft entgegengebracht und nur auf eine Gelegenheit, uns Schmerzen zu bereiten, gewartet.
An jenem Weihnachtsmorgen schaffte sie es besonders erfolgreich, uns weh zu tun. Sie brauchte keine Rute dafür, nicht einmal ein Wort.
Ich wollte sie auf die passende Art begrüßen und sagen: »Frohe Weihnachten, Großmutter. Wir möchten Ihnen eine Kleinigkeit schenken. Sie brauchen sich nicht zu bedanken, es ist kaum der Rede wert. Nur eine Kleinigkeit, mit der wir zeigen wollen, wie sehr wir das Essen zu schätzen wissen und das Dach über dem Kopf, das wir von Ihnen bekommen.« Nein, nein, sie würde mich für sarkastisch halten, wenn ich es so brachte. Besser ich sagte etwas wie: »Frohe Weihnachten, wir hoffen, Ihnen gefällt dieses kleine Geschenk von uns. Wir haben alle daran gearbeitet, sogar Carrie und Cory. Sie können es als Erinnerung an uns behalten, und wenn wir einmal fort sind, wissen Sie, daß wir uns Mühe gegeben haben für Sie, ganz bestimmt.«
Schon mich nur mit dem Geschenk auf den Händen in ihrer Nähe zu entdecken verblüffte sie.
Langsam streckte ich ihr unsere Weihnachtsgabe entgegen und sah ihr dabei tapfer in die Augen. Ich wollte sie nicht mit diesem Blick anbetteln. Ich wollte nur, daß sie es nahm und Gefallen daran fand und sich bedankte, selbst wenn sie dieses »Danke« mit ihrer üblichen Kälte sagte. Ich wollte, daß sie heute ins Bett ging und dabei über uns nachdachte und fand, daß wir am Ende vielleicht nicht ganz so schlecht waren. Ich wollte, daß sie die Mühe erkannte, die wir uns mit diesem Geschenk gemacht hatten, und ich wollte, daß sie sich dabei fragte, ob sie uns bisher immer richtig behandelt hatte.
In der vernichtendsten Art und Weise senkte sich der Blick ihrer kalten, haßerfüllten Augen auf das lange rote Paket. Eine große Schleife, in der ein kleiner Tannenzweig steckte, zierte das Paket, und an der Schleife hing eine Karte, auf der stand: »Für Großmutter von Chris, Cathy, Cory und Carrie.«
Ihre grauen Steinaugen verweilten lange genug bei der Karte, um sie zu lesen. Dann hob sie ihren Blick, um mir direkt in meine hoffnungsvollen, bittenden, flehenden Augen zu starren – Augen, die so sehr darum baten, eine Bestätigung zu erhalten, daß wir nicht wirklich schlecht waren, denn manchmal glaubte ich beinahe selber daran. Noch einmal wanderte ihr Blick zurück zu dem Geschenk, dann drehte sie mir entschlossen den Rücken zu. Ohne ein Wort marschierte sie zur Tür hinaus, schlug sie hart hinter sich zu und schloß sie ab. Ich blieb in der Mitte des Zimmers zurück, mit dem Ergebnis von so vielen langen Stunden harter Arbeit für Perfektion und Schönheit auf dem Arm.
Narren! Das waren wir! Verdammte Narren!
Wir würden sie nie für uns gewinnen! Für sie würden wir immer eine Satansbrut bleiben! Soweit es nach ihr ging, existierten wir einfach tatsächlich nicht.
Und es tat weh, darauf konnte man wetten, es tat verdammt weh. Bis zu meinen nackten Füßen hinunter spürte ich den Schmerz, und mein Herz wurde zu einem hohlen Ball, der Schmerz durch meine Brust pumpte. Hinter mir konnte ich Chris heftig atmen hören. Die Zwillinge begannen leise zu weinen.
Dies war der Augenblick für mich, zu zeigen, wie erwachsen ich war. Jetzt konnte ich die Haltung beweisen, die Ruhe, mit der Mammi so gut und effektiv umgehen konnte. Ich formte meine Bewegungen und meinen Gesichtsausdruck nach dem Vorbild meiner Mutter. Ich benutzte meine Hände genau, wie sie es immer tat. Ich lächelte, wie sie es tat, langsam und betörend.
Und was tat ich dann, um meine Reife unter Beweis zu stellen?
Ich knallte das Paket auf den Boden! Ich fluchte mit Worten, die ich vorher nie laut ausgesprochen hatte! Ich stampfte mit den Füßen auf das Geschenk, hörte, wie der Karton unter meinen Tritten zerbrach. Ich kreischte! Wild vor Wut sprang ich mit beiden Füßen zugleich auf das Geschenk. Ich trampelte so lange darauf herum, bis ich den Rahmen brechen und die Leinwand reißen hörte. Ich haßte Chris dafür, daß er mich überredet hatte, es gäbe eine Möglichkeit, diese Frau aus Stein für uns zu gewinnen. Ich haßte Mammi dafür, daß sie uns in diese Lage gebracht hatte. Sie hätte ihre Mutter besser kennen müssen. Sie hätte als Schuhverkäuferin arbeiten können; mit Sicherheit gab es irgend etwas, was sie hätte tun können, anstatt dieses Leben zu beginnen.
Unter diesem wilden Angriff einer Verrückten ging unser Bild buchstäblich in Fetzen. All unsere Arbeit war umsonst, umsonst!
»Hör auf«, schrie Chris. »Wir können es doch für uns selbst behalten!«
Doch als er zu mir lief, um die völlige Zerstörung aufzuhalten, war es bereits zu spät. Das Bild war kaputt. Ich war in Tränen aufgelöst.
Dann bückte ich mich weinend und sammelte die seidenen Schmetterlinge ein, die Carrie und Cory so mühevoll zusammengeklebt hatten. Soviel Mühe hatten sie sich gegeben, die Flügel herrlich anzumalen. Alles umsonst! Diese Seidenschmetterlinge würde ich mein ganzes Leben aufbewahren.
Chris nahm mich fest in den Arm. Ich schluchzte drauflos, und er versuchte mich mit väterlichen Worten zu trösten: »Es ist alles in Ordnung. Spielt gar keine Rolle, was sie tut. Wir sind im Recht, und sie ist im Unrecht. Wir haben uns Mühe gegeben. Sie nie!«
Wir setzten uns wieder zwischen die Geschenke auf den Boden, diesmal schweigend. Die Zwillinge waren still, die großen Augen voller Zweifel. Sie wollten mit ihren Geschenken spielen und trauten sich nicht, denn sie waren unsere Spiegel. In ihnen spiegelten sich unsere Gefühle – was immer das für Gefühle waren. Oh, sie so zu sehen tat mir nur noch mehr weh. Ich war zwölf. Einmal mußte ich lernen, wie man sich seinem Alter entsprechend benimmt und Haltung bewahrt, anstatt immer gleich zu explodieren wie eine Ladung Dynamit.
Unsere Mutter kam ins Zimmer, lächelte und wurde ihre Weihnachtsgrüße los. Sie trug noch mehr Geschenke auf dem Arm, ein großes Puppenhaus, das einmal ihr gehört hatte ... und davor ihrer furchtbaren Mutter. »Dieses Geschenk ist nicht vom Weihnachtsmann«, erklärte sie und setzte das Puppenhaus sehr behutsam auf dem Boden ab. Und jetzt, das schwöre ich, gab es wirklich keinen freien Fleck mehr im ganzen Zimmer. »Es ist mein Geschenk für Carrie und Cory.« Sie drückte sie beide, küßte sie auf die Wangen und erzählte ihnen, nun könnten sie »zu Hause« spielen und »Eltern« und »Gastgeber und Gastgeberin«, genau wie sie es gespielt hatte, als sie ein Kind von fünf Jahren gewesen war.
Falls ihr auffiel, daß von uns keiner recht begeistert über dieses großartige Puppenhaus war, ließ sie es sich nicht anmerken. Mit Lachen und vergnügtem Charme hockte sie sich auf die Fersen und erzählte uns, wie sehr sie in ihrer Kindheit an diesem Puppenhaus gehangen hatte.
»Außerdem ist es sehr wertvoll«, sprudelte es aus ihr heraus. »Auf dem Antiquitätenmarkt brächte ein Puppenhaus wie dieses hier ein kleines Vermögen. Schon die Miniaturporzellanpuppen mit den beweglichen Gliedern sind unbezahlbar. Ihre Gesichter sind alle handgemalt. Die Puppen passen maßstabgetreu zum Haus, genau wie die Möbel, die kleinen Gemälde – alles. Das Haus wurde von einem englischen Künstler in Handarbeit hergestellt. Jeder Stuhl, jeder Tisch, jede Lampe, jeder Kerzenleuchter – alles sind Reproduktionen von echten antiken Stücken. Soviel ich weiß, hat der Mann zwölf Jahre lang daran gearbeitet. Seht euch an, wie genau die Türen eingepaßt sind, sie lassen sich alle öffnen und schließen – was man von dem Haus, in dem ihr jetzt hier lebt, nicht gerade sagen kann«, fuhr sie fort. »Alle Schubladen kann man herausziehen. Da, seht nur, es gibt sogar einen winzigen Schlüssel, mit dem man den Schreibtisch abschließen kann. Einige Türen kann man in die Wände schieben – Schiebetüren. Ich wünschte mir immer, dieses Haus hier hätte solche Türen; ich weiß gar nicht, warum sie außer Mode gerieten. Und schaut euch die handgeschnitzten Zierleisten um die Decken an, und die Holztäfelungen im Eßzimmer und in der Bibliothek – und die klitzekleinen Bücher auf den Regalen. Ob ihr es glaubt oder nicht, wenn ihr eine Lupe hättet, könntet ihr in diesen Büchern sogar lesen!«
Mit geübten, vorsichtigen Fingern demonstrierte sie uns alle Einzelheiten dieses Puppenhauses, das nur die Kinder reichster Leute jemals zu besitzen hoffen konnten.
Chris mußte natürlich eines der winzigen Bücher herausziehen und es so nah wie möglich an seine zusammengekniffenen Augen halten, um herauszubekommen, ob man es wirklich mit einem Mikroskop lesen konnte. (Es gab eine ganz bestimmte Sorte von Mikroskop, die er hoffte eines Tages für seine Forschungen zu besitzen – und ich hoffte, diejenige zu sein, die ihm so ein Mikroskop schenken sollte.)
Ich kam nicht umhin, das Geschick und die ungeheure Geduld zu bewundern, die es gebraucht haben mußte, so kleine Möbel zu erschaffen. In der Eingangshalle des elisabethanischen Hauses stand ein Flügel. Der Flügel hatte einen Seidenbezug, der golden abgesäumt war, zum Schutz gegen Staub. Auf dem Tisch im Eßzimmer stand eine winzige Vase mit künstlichen Blumen. In einer silbernen Schale auf dem Buffet lagen Früchte aus Wachs. Von der Decke hingen zwei Leuchter, in deren Halterungen echte kleine Kerzen steckten. In der Küche standen Bedienstete in weißen Schürzen und bereiteten das Dinner vor. Ein Butler in weißer Livree stand neben der Eingangstür und empfing die ankommenden Gäste, während in der Halle die wunderbar herausgeputzten Damen steif neben befrackten pokergesichtigen Männern standen.
Die Treppe hinauf im Kinderzimmer waren drei Kinder, und ein Baby lag in der Wiege, die Arme ausgestreckt, als wollte es auf den Arm genommen werden. Hinten war noch ein Nebengebäude angesetzt, und die Kutsche darin! Und in den Ställen standen zwei Pferde! Phantastisch! Wie konnte man auch nur träumen, daß jemand so etwas Winziges bauen konnte? Meine Augen sprangen zu den Glasfenstern, berauschten sich an den feinen weißen Gardinen und den schweren Seidenvorhängen. Teller standen auf dem Tisch und Silberbesteck dazu, und in den Küchenschränken gab es Töpfe und Pfannen – alles so winzig, daß sie kaum größer als grüne Erbsen waren.
»Cathy«, sagte Mammi und legte ihren Arm um mich, »schau dir diesen kleinen Teppich an. Das ist ein echter Perser, aus reiner Seide geknüpft. Und der Teppich im Eßzimmer ist ein Orientale, alles speziell angefertigt.« Und weiter und weiter beschrieb sie die außergewöhnlichen Qualitäten dieses unglaublichen Spielzeugs.
»Wie kommt es, daß alles noch so neu aussieht, wenn das Haus doch schon so alt ist?« wollte ich wissen.
Eine dunkle Wolke legte sich über Mammis Gesicht. »Als es noch meiner Mutter gehörte, wurde es in einem großen Glaskasten aufbewahrt. Sie durfte es sich ansehen, aber sie konnte nie etwas davon anfassen. Als ich es dann bekam, nahm mein Vater einen Hammer und zertrümmerte den Glaskasten, und er erlaubte mir, mit allem zu spielen – unter der Bedingung, daß ich ihm auf die Bibel schwor, nichts zu zerbrechen.«
»Hast du das geschworen, und hast du wirklich nichts kaputtgemacht?« fragte Chris.
»Ja, ich habe es geschworen, aber es ist mir trotzdem was kaputtgegangen.« Sie senkte den Kopf, so daß wir ihre Augen nicht mehr sehen konnten. »Es gab da noch eine andere Puppe, einen sehr hübschen jungen Mann, und von dem ist der Arm abgebrochen, als ich seinen Anzug ausziehen wollte. Ich wurde verprügelt, nicht nur, weil ich etwas zerbrochen hatte, sondern auch, weil ich hatte sehen wollen, was unter seinem Anzug war.«
Chris und ich saßen still da, aber Carrie machte sich über das Puppenhaus her und zeigte an jeder Einzelheit größtes Interesse, besonders an den Puppen in ihren bunten alten Kostümen. Das Baby in der Wiege hatte es ihr am meisten angetan. Weil seine Zwillingsschwester so begeistert war, kam auch Cory dazu, um mit ihr gemeinsam die Schätze des Puppenhauses zu erforschen.
Jetzt wandte Mammi ihre Aufmerksamkeit allein mir zu. »Cathy, du sahst so bedrückt aus, als ich reinkam. Warum? Haben dir die Geschenke nicht gefallen?«
Weil ich nicht antworten konnte, ergriff Chris für mich das Wort. »Sie ist unglücklich, weil die Großmutter das Geschenk nicht angenommen hat, das wir für sie gebastelt haben.« Mammi streichelte mir die Schulter, vermied aber, mir in die Augen zu schauen. Chris meinte weiter: »Und wir möchten dir herzlich für alles danken – es gibt nichts, was du vergessen hättest, dem Weihnachtsmann für uns aufzutragen. Und ganz besonderen Dank für das wunderbare Puppenhaus. Ich glaube, unsere Zwillinge werden daran mehr Freude haben als an irgend etwas sonst.«
Ich blickte lange zu den beiden Dreirädern, die die Zwillinge bekommen hatten, damit sie ihre dünnen, schwachen Beine trainieren konnten, indem sie auf dem Dachboden herumfuhren. Für Chris und mich hatte es Rollschuhe gegeben, die wir aber nur in dem alten Klassenzimmer benutzen durften, denn dort war ein richtiger Boden eingezogen, der den Lärm weitgehend dämpfte.
Mammi stand vom Boden auf und lächelte geheimnisvoll, bevor sie uns verließ. Als sie gerade zur Tür raus war, rief sie über die Schulter, in zwei Minuten wäre sie wieder da – und dann gab sie uns das beste Geschenk von allen – einen kleinen tragbaren Fernseher! »Mein Vater hat mir den für mein Schlafzimmer gegeben. Und ich wußte sofort, wer an diesem Ding die meiste Freude haben würde. Jetzt habt ihr ein echtes Fenster zur Welt draußen.«
Gerade die richtigen Worte, um mich wieder zu den wildesten Hoffnungen anzustacheln. »Mammi!« rief ich. »Dein Vater hat dir so ein teures Geschenk gemacht? Heißt das, er mag dich vielleicht wieder? Hat er dir deine Heirat mit Daddy verziehen? Können wir jetzt nach unten kommen?«
Ihre blauen Augen wurden wieder dunkel und besorgt, und es lag keine Freude in ihrem Ton, als sie uns bestätigte, daß ihr Vater tatsächlich umgänglicher geworden sei – er hatte ihr ihre Sünde gegen Gott und die Gesellschaft vergeben. Dann sagte sie etwas, das mir das Herz hüpfen ließ. »Nächste Woche wird mein Vater mich von seinem Rechtsanwalt wieder in sein Testament aufnehmen lassen. Er wird mir alles hinterlassen, selbst das Haus soll mir gehören, nachdem meine Mutter gestorben ist. Er hat nicht vor, ihr Geld zu hinterlassen, denn sie hat von ihren Eltern ein eigenes Vermögen geerbt.«
Geld – das war mir längst völlig egal. Alles, was ich wollte, war, hier rauszukommen! Und plötzlich war ich sehr glücklich – so glücklich, daß ich meiner Mutter den Arm um den Hals schlang und sie küßte und an mich drückte. Das war der beste Tag, seit wir in dieses Haus gekommen waren ... dann merkte ich, daß Mammi ja noch nicht gesagt hatte, wir können die Treppe hinuntergehen. Aber einen Schritt waren wir auf dem Weg in die Freiheit weitergekommen.
Unsere Mutter setzte sich auf ein Bett und lächelte – mit den Lippen, nicht mit den Augen. Sie lachte über ein paar komische Sachen, die Chris und ich ihr erzählten, und es war ein gellendes, hartes Lachen, nicht die Art, wie sie sonst lachte. »Ja, Cathy, ich bin die pflichtbewußte, gehorsame Tochter geworden, die euer Großvater immer haben wollte. Er sagt etwas, ich gehorche. Er befiehlt, ich springe. Schließlich habe ich also geschafft, ihm zu gefallen.« Sie hielt abrupt inne und blickte zu den zugezogenen Doppelfenstern, durch die bleiches Licht hereinfiel. »Tatsächlich gefalle ich ihm sogar so gut, daß er heute abend für mich eine Party gibt, die mich bei alten Freunden und in der lokalen Gesellschaft wieder einführen soll. Es wird eine große Sache, denn wenn meine Eltern einladen, sparen sie an nichts. Sie selbst stehen natürlich über solchen Dingen, aber es macht ihnen nichts aus, an Leute, die die Hölle nicht fürchten, die besten Alkoholika auszuschenken. Es wird also hoch hergehen, und für den Tanz ist ein kleines Orchester engagiert.«
Ein Fest! Eine Weihnachtsparty! Mit einem Orchester, das zum Tanz aufspielte! Einem großen Büffet! Und Mammi wurde wieder in das Testament aufgenommen. Hatte es schon jemals einen so wundervollen Tag gegeben?
»Können wir zuschauen?« riefen Chris und ich fast wie aus einem Munde.
»Wir sind auch ganz leise.«
»Wir verstecken uns, so daß uns niemand zu Gesicht bekommt.«
»Bitte, Mammi, bitte. Es ist schon so lange her, daß wir andere Menschen gesehen haben, und wir sind noch nie auf einer Weihnachtsparty gewesen.«
Wir bettelten und bettelten, bis sie schließlich nicht mehr widerstehen konnte. Sie zog mich und Chris mit sich in eine Ecke des Zimmers, in der die Zwillinge uns nicht hören konnten, und dort flüsterte sie: »Es gibt einen Platz, an dem ihr zwei euch verstecken und Zusehen könnt. Aber mit den Zwillingen ist es zu riskant. Sie sind noch zu klein, als daß man sich auf sie verlassen könnte, und ihr wißt ja, daß sie nicht länger als zwei Sekunden still an einem Fleck bleiben. Carrie würde am Ende vor Entzücken losschreien und jeden auf sich aufmerksam machen. Also gebt mir euer Ehrenwort, daß ihr den beiden nichts davon sagt.«
Wir versprachen es. Natürlich würden wir ihnen nichts erzählen, selbst wenn wir kein Ehrenwort gegeben hätten. Wir liebten unsere beiden Kleinen, und wir hätten ihnen nie damit weh getan, ihnen zu sagen, daß sie an irgendeiner schönen Sache nicht teilnehmen durften.
Wir sangen Weihnachtslieder, nachdem Mammi gegangen war, und der Tag ging recht angenehm vorbei. Wir waren guter Laune, auch wenn es in unserem Picknick-Korb nichts Besonderes zu essen gab: Schinkenbrote, die die Zwillinge nicht mochten, und kalte Truthahnscheiben, die noch immer eisig waren, als wären sie gerade aus der Gefriertruhe geholt worden. Reste vom Erntedanktag.
Als es dann früh Abend wurde, saß ich lange ruhig da und sah Carrie und Cory zu, die glücklich mit dem Puppenhaus spielten, die kleinen Porzellanpuppen von einem Zimmer ins andere stellten und die unschätzbar wertvollen Miniaturmöbel verrückten.
Komisch, wieviel man durch ein totes Objekt lernen kann, das einmal einem kleinen Mädchen gehört hatte, dem nie erlaubt gewesen war, es auch nur zu berühren. Dann kam ein anderes kleines Mädchen, und das Puppenhaus wurde ihm geschenkt, und der Glaskasten wurde zerschlagen, so daß dieses kleine Mädchen das Puppenhaus berühren konnte – und bestraft werden konnte, wenn es etwas zerbrach.
Ein Gedanke kam mir und ließ mich frösteln: Ich fragte mich, was Carrie und Cory wohl zerbrechen würden und welche Strafe es dann für sie gab.
Ich schob mir einen Schokoladenriegel in den Mund und versuchte, mir damit meine ruhelosen, bösen Gedanken zu versüßen.
* Das amerikanische Erntedankfest wird am letzten Donnerstag im November gefeiert, also später als bei uns. (Anm. d. Ü.)