Читать книгу Die Foxworth-Saga 1-3 - V.C. Andrews - Страница 20
Christophers Forschungsgang und seine Folgen
ОглавлениеPlötzlich griff mich jemand roh an den Schultern und schüttelte mich wach. Benommen und verwirrt starrte ich mit furchtsamen Augen eine Frau an, die ich kaum als meine Mutter erkannte. Sie funkelte mich mit wildem Blick an und verlangte mit wütender Stimme: »Sag mir, wo dein Bruder ist!«
Völlig verblüfft, daß sie überhaupt so reden und aussehen konnte, wie sie es im Augenblick tat, so völlig außer Fassung, kroch ich vor ihrem Angriff zurück ins Bett und drehte den Kopf zur Seite, um in das andere Bett sehen zu können. Leer. O Himmel, er war zu lange weggeblieben.
Sollte ich lügen? Ihn beschützen und sagen, er wäre auf dem Dachboden? Nein, dies war unsere Mutter, die uns liebte. Sie würde schon verstehen. »Chris wollte sich die anderen Zimmer hier in diesem Stockwerk ansehen.«
Ehrlichkeit war jetzt doch wohl die beste Taktik. Und wir hatten unsere Mutter noch nie angelogen, genausowenig, wie wir uns selbst ja auch nicht gegenseitig anlogen. Nur die Großmutter, und das nur, wenn es unbedingt nötig war.
»Verdammt! Verdammt! Verdammt!« fluchte sie. Ihr Gesicht rötete sich in einem Anfall neuer Wut, die sich nun gegen mich wandte. Mit Sicherheit würde sie ihr kostbarer Ältester, den sie liebte wie keinen anderen von uns, niemals ohne meinen teuflischen Einfluß hintergehen. Sie schüttelte mich, bis mir schwindlig wurde.
»Wegen heute nacht werde ich euch nie, niemals wieder erlauben, daß ihr aus irgendeinem Grund oder besonderem Anlaß diesen Raum verlaßt! Ihr habt mir beide euer Wort gegeben – und ihr habt es gebrochen. Wie soll ich euch jemals wieder vertrauen können? Und ich dachte, auf euch sei Verlaß! Ich dachte, ihr liebtet mich und würdet mich nie hintergehen!«
Meine Augen weiteten sich noch mehr. Hatten wir sie hintergangen? Ich war davon schockiert, wie sie sich aufführte – mir kam es eher so vor, als habe sie uns verraten und nicht umgekehrt.
»Mammi, wir haben doch nichts Böses gemacht. Wir waren ganz still in dem Schrank. Ständig kamen Leute an uns vorbei, aber niemand hat was gemerkt. Wir waren wirklich leise. Niemand weiß, daß wir hier sind. Du darfst nicht sagen, du würdest uns nie mehr hier rauslassen. Du mußt uns hier rauslassen! Du kannst uns doch nicht für immer einschließen und versteckt halten.«
Sie starrte mich auf eine seltsame, erboste Weise an, ohne zu antworten. Ich dachte, sie würde mich schlagen, aber sie löste ihre Hand von meiner Schulter, wirbelte herum und wollte gehen. Ihr Chiffonkleid umwehte wie riesige Flügel ihren Körper und fächerte mir den süßen, blumigen Duft ihres Parfüms zu, das sich überhaupt nicht mit ihrer wilden Wut vertrug.
Gerade als sie das Zimmer verlassen wollte, um offenbar selbst die Jagd nach Chris aufzunehmen, öffnete sich die Tür, und mein Bruder stahl sich schnell herein. Er schloß leise die Tür und drehte sich dann zu mir um. Seine Lippen öffneten sich, um etwas zu sagen. Und erst in diesem Moment entdeckte er unsere Mutter und machte das komischste Gesicht.
Aus irgendeinem Grund leuchteten seine Augen diesmal nicht auf, wie sonst jedes Mal, wenn er Mammi zu Gesicht bekam.
Mit schnellen, zielbewußten Schritten war Mammi an seiner Seite. Ihre Hand hob sich, und sie verpaßte ihm eine harte, wütende Ohrfeige. Dann, noch bevor er sich von seinem Schock erholen konnte, hob sich Mammis Linke, und die andere Wange bekam ihren Zorn auch noch zu spüren.
Chris’ bleiches und erstarrtes Gesicht wies nun zwei große rote Flecken auf.
»Wenn du so etwas jemals wieder versuchst, Christopher Foxworth, dann werde ich nicht nur dich, sondern auch Cathy mit einer Rute auspeitschen.«
Was Chris noch an Farbe im Gesicht gehabt hatte, verschwand bei diesen Worten völlig. Die geröteten Spuren der Schläge wirkten danach wie blutige Handabdrücke auf seinen kalkweißen Wangen.
Ich fühlte, daß ich blaß wurde; mein Blut schien sich in meinen Füßen zu sammeln. Während meine ganze Kraft dahinschmolz, begann hinter meinen Ohren etwas pulsierend zu stechen. Ich starrte noch immer die Frau an, die eine Fremde geworden zu sein schien, eine Frau, die wir nicht kannten – und die ich bestimmt nicht kennenlernen wollte. War das unsere Mutter, die normalerweise nur lieb und zärtlich mit uns sprechen konnte? War das die Mutter, die soviel Verständnis für das Elend unserer langen, langen Gefangenschaft hatte? Hatte dieses Haus bereits etwas mit ihr »gemacht« – sie verändert? Dann überkam es mich mit aller Deutlichkeit ... all die kleinen Dinge fügten sich zu einem Bild zusammen ... ja, sie wurde bereits eine andere. Längst kam sie nicht mehr so oft zu uns wie am Anfang, nicht mehr jeden Tag, ganz bestimmt nicht mehr zweimal am Tag wie zu Beginn unseres Aufenthalts. Oh, was war ich entsetzt und verängstigt. Mir war, als habe man uns alles, auf das wir unser Vertrauen und unsere Hoffnung gestützt hatten, unter unseren Füßen weggezogen – und zurück waren nur die Geschenke geblieben, Spielsachen und Bücher.
Sie mußte in Chris’ schockiertem Gesichtsausdruck etwas bemerkt haben, etwas, das ihre heiße Wut schnell verrauchen ließ. Sie zog ihn in ihre Arme und bedeckte sein bleiches, fleckiges Gesicht mit kleinen schnellen Küssen, die versuchen sollten zu lindern, was sie ihm an Schmerzen zugefügt hatte. Küß ihn nur, streich ihm durch das Haar, streichel ihm die Wangen, laß ihn an deinen weichen, vollen Brüsten alles vergessen, denn das Gefühl, an dieses rosige, zarte Fleisch gepreßt zu werden, muß selbst einen Knaben von seinem zarten Alter auf andere Gedanken bringen.
»Es tut mir leid, mein Schatz«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen und in der Stimme. »Verzeih mir, bitte, verzeih mir. Sei doch nicht so verängstigt. Wie kannst du denn vor mir Angst haben? Ich habe das nicht wirklich gemeint, das mit dem Peitschen. Ich liebe dich. Du weißt das. Ich würde dir oder Cathy so etwas nie antun. Habe ich euch jemals geprügelt? Ich bin nicht mehr ich selbst, jetzt, wo alles nach meinen Vorstellungen läuft – nach unseren Vorstellungen. Du kannst nur jetzt nichts tun, was im letzten Augenblick noch alles für uns verderben könnte. Das darfst du nicht. Deshalb habe ich dich geschlagen.«
Sie nahm sein Gesicht in die Hände und küßte ihn voll auf den Mund, dessen Lippen von ihren Händen zusammengedrückt wurden. Und die Diamanten und Rubine an ihrer Hand blitzten und blitzten ... Signalfeuer, Warnlichter, die irgend etwas bedeuteten. Und ich saß da und sah zu und wunderte mich und fühlte ... fühlte, oh, ich hätte nicht sagen können, wie ich mich fühlte, außer verwirrt und durcheinander und sehr, sehr jung. Und die Welt um uns herum war klug und alt; so alt.
Natürlich verzieh er ihr, genau wie ich ihr verzieh. Und natürlich wollten wir erfahren, was nach ihren Vorstellungen lief und nach unseren.
»Bitte, Mammi, erzähl uns, was los ist – bitte.«
»Ein anderes Mal«, sagte sie und hatte es furchtbar eilig, zurück auf die Party zu kommen, bevor sie vermißt wurde. Noch mehr Küsse für beide von uns. Dabei fiel mir auf, daß ich noch nie mit meiner Wange die Zartheit ihrer Brüste gespürt hatte.
»Ein anderes Mal, vielleicht morgen, dann kann ich euch alles in Ruhe erzählen«, versprach sie, gab uns schnell noch ein paar Extraküsse und versorgte uns mit noch ein paar beruhigenden Worten, die unsere Aufregung dämpfen sollten. Sie beugte sich über mich hinweg, um auch Carrie noch einen Kuß zu geben, und huschte dann hinüber zu Cory.
»Du bist mir nicht mehr böse, Christopher, nicht wahr?«
»Klar, Mammi, ich habe schon verstanden. Wir hätten in diesem Zimmer bleiben müssen. Ich hätte diesen Erkundungsgang niemals machen dürfen.«
Sie lächelte und sagte: »Frohe Weihnachten, ich bin bald wieder bei euch.« Dann ging sie und schloß die Tür hinter sich ab.
Unser erster Weihnachtstag in unserem Versteck war vorbei. Die große Uhr in der Halle schlug gerade eins. Wir hatten ein Zimmer voller Geschenke, einen Fernseher, das Schachspiel, das wir uns gewünscht hatten, ein rotes und ein blaues Dreirad, dazu jede Menge Süßigkeiten, und Chris und ich waren auf einer herrlichen Party gewesen – in gewisser Weise jedenfalls. Und doch war da noch etwas anderes Neues in unser Leben gekommen, eine Facette im Charakter unserer Mutter, von der wir nie zuvor etwas bemerkt hatten. Für einen kurzen Augenblick oder zwei schien Mammi genauso gewesen zu sein wie unsere Großmutter!
In der Dunkelheit lagen wir zusammen in einem Bett, mit Carrie auf der einen Seite von mir und Chris auf der anderen. Wir hielten uns im Arm. Er roch anders als ich. Mein Kopf lag auf seiner jungenhaften Brust, die mir sehr knochig vorkam. Ich konnte sein Herz klopfen hören und dazu die ferne Musik, die noch immer durch das Haus geisterte. Chris hatte eine Hand in meinem Haar vergraben und drehte sich wieder und wieder eine meiner Locken um die Finger.
»Chris, erwachsen zu werden ist eine furchtbar komplizierte Sache, was meinst du?«
»Kommt mir so vor.«
»Ich habe immer gedacht, wenn man ein Erwachsener wird, weiß man automatisch, wie man mit jeder Situation fertig wird. Man würde nie zweifeln, was wichtig und was falsch ist. Ich hätte nie gedacht, daß Erwachsene einfach genauso ins Schwimmen kommen wie wir manchmal.«
»Wenn du an Mammi denkst, die hat es nicht so gemeint mit dem, was sie gesagt und getan hat. Ich glaube, auch wenn ich mir da nicht sicher bin, daß es irgendwie so ist: Sobald man als Erwachsener in das Haus seiner Eltern zurückkehrt, um mit ihnen zu leben, wird man wieder zu einem Kind gemacht und genauso abhängig. Ihre Eltern ziehen sie in die eine Richtung – und wir in die andere –, und jetzt hat sie auch noch diesen Mann mit dem Bart, der sie in seine Richtung ziehen wird.«
»Ich hoffe, sie heiratet nie wieder! Wir brauchen sie mehr als dieser Mann.«
Chris sagte nichts dazu.
»Und dieser Fernseher, den sie uns gebracht hat – sie hat gewartet, bis ihr Vater ihr einen geschenkt hat, um ihn uns zu geben, obwohl sie uns doch schon vor Monaten einen hätte kaufen können, statt der vielen Kleider, die sie für sich selbst gekauft hat. Und der Schmuck erst! Sie trägt immer neue Ringe und neue Broschen und Ohrringe und Halsketten.«
Sehr langsam erklärte mir Chris mit vorsichtigen Worten die Motive für das Handeln unserer Mutter. »Du mußt das mal von einer anderen Seite sehen, Cathy. Wenn sie uns gleich am ersten Tag einen Fernseher reingestellt hätte, würden wir wahrscheinlich so fasziniert davon gewesen sein, daß wir unsere ganze Zeit nur vor dem Bildschirm verbracht hätten. Dann wären wir nie darauf gekommen, unseren Garten auf dem Dachboden zu bauen, an dem die Zwillinge soviel Spaß haben. Wir hätten nichts anderes gemacht, als den ganzen Tag vor der Röhre gesessen. Denk doch mal daran, was wir in diesen Tagen alles gelernt haben, zum Beispiel, wie man Blumen und Tiere machen kann. Ich male heute viel besser als früher, und denk auch an die Bücher, für die wir hier die Zeit hatten, sie in Ruhe zu lesen und uns zu bilden. Cathy, du selbst hast dich auch verändert.«
»Wie? Wie habe ich mich verändert? Das mußt du mir erklären.«
Er drehte den Kopf auf dem Kissen von einer Seite zur anderen und drückte damit eine Art verlegener Sprachlosigkeit aus.
»Na gut. Du brauchst mir keine Komplimente zu machen, wenn dir das so schwer fällt. Aber bevor du dieses Bett verläßt, mußt du mir alles erzählen, was du herausgefunden hast – wirklich jede Einzelheit. Laß nichts aus, nicht mal deine Gedanken. Ich will, daß du mir das Gefühl gibst, ich wäre bei dir gewesen und hätte alles an deiner Seite miterlebt.«
Er drehte den Kopf so, daß er mir direkt in die Augen sehen konnte, und sagte mit der unheimlichsten Stimme: »Du warst an meiner Seite. Ich habe dich neben mir gefühlt, du hast meine Hand gehalten und mir ins Ohr geflüstert. Und ich habe noch schärfer durch die Dunkelheit gespäht, damit du alles sehen konntest, was ich auch sah.«
Dieses gigantische Haus, das von dem kranken Scheusal dort unten beherrscht wurde, hatte ihn eingeschüchtert. Ich hörte es deutlich aus seiner Stimme heraus. »Es ist ein unglaublich großes Haus, Cathy, wie ein Hotel. Es gibt endlos viele Zimmer. Alle mit den teuersten Möbeln ausgestattet, aber man kann ihnen ansehen, daß sie nie benutzt werden. Ich habe allein auf diesem Flur vierzehn Räume gezählt, und ich glaube, dabei habe ich bestimmt ein paar kleinere übersehen.«
»Chris!« rief ich enttäuscht. »Erzähl es nicht auf diese Art! Laß mich fühlen, daß ich dort an deiner Seite war. Fang noch mal an, und erzähl genau, was du erlebt hast, von der Sekunde an, in der du unser Zimmer verlassen hast.«
»Schön«, seufzte er, als wenn er gerne darauf verzichtet hätte, »ich schlich mich also den dunklen Korridor von diesem Flügel hinunter bis dahin, wo der Gang den großen zentralen Rundbau trifft, nicht weit von der Stelle, an der wir uns in dem Schrank versteckt haben. Ich interessierte mich nicht weiter dafür, den Nordflügel in seinen einzelnen Räumen zu erkunden. Sobald ich in einen Bereich kam, in dem ich Leute treffen konnte, mußte ich vorsichtig sein. Das Fest unten erreichte gerade seinen Höhepunkt. Der Lärm war noch lauter, und alle klangen betrunken. Ein Mann sang ein albernes Lied. Es klang zu komisch, irgendwas über zwei fehlende Vorderzähne, die er zurückhaben wollte. Ich schlich mich zur Balustrade und sah in den Festsaal hinab auf all die Leute. Sie sahen eigenartig aus, alles so verkürzt, und ich beschloß, mir das gut zu merken, damit ich die Perspektive richtig hinbekomme, wenn ich einmal Leute aus der Vogelperspektive zeichnen will. Die Perspektive ist bei einem Gemälde außerordentlich wichtig.«
Sie war überall außerordentlich wichtig, wenn man mich fragte.
»Natürlich hielt ich nach unserer Mutter Ausschau«, fuhr er fort, nachdem ich ihn drängte weiterzuerzählen, »aber die einzigen Leute dort unten, die ich erkennen konnte, waren unsere Großeltern. Der Großvater fing an müde auszusehen, und während ich ihn noch beobachtete, kam eine Krankenschwester und schob ihn aus dem Saal. Ich sah genau hin, denn so bekam ich eine Ahnung, in welcher Richtung sein Zimmer hinter der Bibliothek liegt.«
»Trug sie eine weiße Uniform?«
»Natürlich. Woher hätte ich sonst wissen sollen, daß es eine Krankenschwester war?«
»Okay, mach weiter. Laß nichts aus.«
»Also, als der Großvater kaum draußen war, verschwand auch die Großmutter aus dem Saal, und dann hörte ich Stimmen, die sich mir die Treppe herauf näherten. Du hast nie jemanden schneller flitzen sehen als mich! Mich in den Schrank zu quetschen, hätte ich nicht mehr rechtzeitig geschafft, deshalb drückte ich mich in eine dunkle Ecke neben einer Rüstung auf einem Podest. Weißt du, diese Rüstung war ja wohl für einen ausgewachsenen Mann gefertigt worden, und doch könnte ich wetten, daß sie schon für mich viel zu klein war. Ich hätte es gerne mal ausprobiert. Was nun die näher kommenden Stimmen anging, es war Mammi, die dort die Treppe heraufkam, und mit ihr dieser dunkelhaarige Mann mit dem Schnurrbart.«
»Was haben sie gemacht? Was wollte sie da?«
»Sie sahen mich in meiner Ecke nicht. Vermutlich, weil sie mit sich selbst zu sehr beschäftigt waren. Der Mann wollte ein bestimmtes Bett sehen, das Mammi in ihrem Zimmer hat.«
»Ihr Bett – er wollte ihr Bett sehen? Warum?«
»Es ist ein ganz besonderes Bett, Cathy. Er sagte zu ihr: ›Nun zier dich nicht, du hast jetzt lange genug damit gewartete Seine Stimme klang, als wollte er sie aufziehen. Dann fügte er hinzu: ›Es ist Zeit, du zeigst mir endlich das berühmte Schwanenbett, von dem ich soviel gehört habe.‹ Offenbar machte Mammi sich Gedanken, wir könnten immer noch in dem Schrank versteckt sein. Sie warf einen unsicheren Blick in diese Richtung und wirkte nicht sehr begeistert. Aber sie stimmte zu und sagte zu ihm: ›Gut, Bart – aber wir können nur einen kurzen Moment dort bleiben. Du weißt, was sonst jeder hier denken wird, wenn wir zu lange zusammen wegbleiben.« Und er kicherte und spottete wieder: ›Nein, ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was jeder hier sich dann denkt. Sag mir, was man vermuten wird.‹ Für mich klang das wie eine Herausforderung, es könne doch egal sein, was alle anderen dächten. Es machte mich wütend, ihn so reden zu hören.« Und an diesem Punkt hielt Chris inne, und sein Atem wurde schwerer und schneller.
»Du verschweigst mir etwas«, sagte ich sofort. Ich kannte ihn wie ein Buch, das man schon hundertmal gelesen hat. »Du beschützt sie. Du hast etwas gesehen, was du mir nicht erzählen willst. Das ist unfair. Du weißt doch, daß wir uns am ersten Tag, als wir hierhergekommen sind, versprochen haben, immer offen und ehrlich zueinander zu sein – also sag mir, was du gesehen hast.«
»O Mensch«, wand er sich. Er drehte den Kopf so, daß ich ihm nicht mehr in die Augen sehen konnte. »Was für einen Unterschied machen schon ein paar Küsse?«
»Ein paar Küsse?« legte ich los. »Du hast gesehen, wie er Mammi mehr als einmal hintereinander geküßt hat? Was für Küsse? Handküsse – oder richtige Küsse auf den Mund?«
Die Brust, auf der meine Wange lag, wurde von heißem Blut durchschossen. Ich spürte es durch seinen Schlafanzug hindurch. »Es waren leidenschaftliche Küsse, waren sie das?« Ich spuckte es förmlich aus, schon davon überzeugt, bevor er es noch bestätigen konnte. »Er küßte sie, und sie ließ sich küssen, und vielleicht hat er sogar ihre Brüste gestreichelt und ihren Po, so wie ich es einmal von Daddy gesehen habe, als er dachte, er wäre mit Mammi allein im Zimmer! Hast du das gesehen, Christopher?«
»Was macht das für einen Unterschied?« fragte er mit belegter Stimme. »Was immer er auch tat, sie schien nichts dagegen zu haben, auch wenn ich mich sehr elend dabei fühlte.«
Mir wurde auch schlecht bei dem Gedanken. Mammi war doch erst seit acht Monaten Witwe. Aber manchmal können acht Monate so lang wie acht Jahre sein, und was hatte man letzten Endes von der Vergangenheit, wenn die Gegenwart so aufregend und angenehm war ... denn jede Wette wäre ich darauf eingegangen, daß dort noch einiges mehr vorgegangen war, von dem Chris mir nie erzählen würde.
»Also, Cathy, ich weiß nicht, was du dir jetzt denkst. Jedenfalls befahl Mammi ihm, damit aufzuhören, sonst würde er nicht ihr Schlafzimmer sehen dürfen.«
»O Junge, ich denke mir, er wird ganz schön handgreiflich gewesen sein!«
»Küsse«, sagte Chris und starrte zu unserem Weihnachtsbäumchen hinüber, »nur Küsse und ein bißchen Streicheln, aber ihre Augen strahlten dabei auf, und dann fragte dieser Bart sie, ob das Schwanenbett nicht einmal einer französischen Kurtisane gehört hätte.«
»Was ist denn, um Himmels willen, eine französische Kurtisane?«
Chris räusperte sich. »Ich habe das Wort im Lexikon nachgeschlagen, und es bezeichnet eine Frau, die Königen und Aristokraten zu Gefallen ist.«
»Zu Gefallen ist? Womit ist sie ihnen denn zu Gefallen?«
»Was reiche Männer eben gerne von Frauen haben«, antwortete er schnell und hielt mir die Hand auf den Mund, während er weitersprach. »Natürlich wies Mammi die Idee von sich, in diesem Haus könnte es ein solches Bett geben. Sie sagte, ein Bett mit einem sündigen Ruf wäre hier längst bei Nacht verbrannt worden und man hätte dazu für seine Erlösung gebetet. Das Schwanenbett habe ihrer Großmutter gehört, und als sie ein kleines Mädchen gewesen sei, habe sie sich nichts mehr gewünscht als das Schlafzimmer ihrer Großmutter. Aber ihre Eltern wollten ihr diesen Raum nicht geben, weil sie fürchteten, der Geist ihrer Großmutter könnte auf die kleine Corinna einen unguten Einfluß haben, denn diese Großmutter war nicht gerade eine Heilige gewesen und eine Kurtisane auch nicht gerade. Und dann lachte Mammi, es klang hart und bitter, und erzählte Bart, ihre Eltern würden sie inzwischen für so verdorben halten, daß nichts sie noch schlimmer machen könnte, als sie schon sei. Weißt du, als ich das hörte, fühlte ich mich noch elender. Mammi ist nicht verdorben – Daddy hat sie geliebt ... sie waren verheiratet ... und was verheiratete Leute in ihren Schlafzimmern machen, geht niemand etwas an.«
Ich atmete tief durch. Chris wußte immer alles – absolut alles!
»Na, Mammi sagte dann: ›Einmal kurz hineinschauen, Bart, und dann zurück zur Party.‹ Sie verschwanden einen sanft beleuchteten, einladend wirkenden Gang hinunter zu einem anderen Flügel, und so bekam ich eine ungefähre Ahnung, wo Mammis Zimmer lagen. Ich spähte nach allen Seiten, bevor ich mich aus meinem Versteck wagte, und huschte dann zur ersten geschlossenen Tür, die ich fand. Ich dachte mir, daß dahinter ein Zimmer sein müßte, in dem niemand war, denn sonst hätte wie bei den anderen Räumen in der Nähe des Festsaales die Tür offengestanden, und das Licht wäre angewesen. Drinnen lehnte ich mich mit dem Rücken an die hinter mir wieder geschlossene Tür und starrte in die Dunkelheit. Ich wollte, wie du es immer machst, die Atmosphäre des Raumes intuitiv erfassen, den Geruch und das Gefühl in mich aufnehmen. Ich hatte ja meine Taschenlampe dabei und hätte sie anknipsen können, aber ich wollte ausprobieren, wie du es immer schaffst, vorsichtig und mißtrauisch zu sein, wenn für mich alles ganz normal und in Ordnung wirkt. Wäre das Licht angewesen oder hätte ich die Taschenlampe benutzt, vielleicht wäre mir dann der unnatürlich fremdartige Geruch in dem Raum gar nicht aufgefallen. Ein Geruch, der mir übel werden ließ und mich irgendwie erschreckte. Mann, und dann stellten sich mir echt die Haare zu Berge!«
»Was – wie?« rief ich und stieß seine Hand weg, mit der er mein Mundwerk dämpfen wollte. »Was hast du gesehen? Ein Monster?«
»Monster? Klar, da kannst du darauf wetten, daß ich Monster gesehen habe! Dutzende von Monstern! Jedenfalls sah ich wenigstens ihre Köpfe, die dort an den Wänden aufgereiht hingen. Von überall her glitzerten mir grüne, gelbe und rubinrote Augen entgegen. Das Licht, das durch die Fenster fiel, hatte eine blaue Farbe wegen des Schnees draußen. Es brach sich auf den schimmernden weißen Zähnen und auf den Fängen eines Löwen, der sein Maul zu einem lautlosen Brüllen aufgerissen hatte. Er hatte eine zottelige Mähne, die ihn noch größer wirken ließ – und er wirkte gequält und zornig. Und aus irgendeinem Grund tat er mir leid, enthauptet, ausgestopft und aufgehängt – zu einem Dekorationsstück gemacht, wo er doch hätte frei durch die Savanne jagen sollen.«
O ja, ich verstand, was er meinte. Meine Qual hier war inzwischen auch ein ganzer Berg von Wut geworden.
»Es war ein Jagdzimmer, Cathy, ein riesiger Raum voller Trophäen. Es gab einen Tiger und einen Elefantenkopf mit hoch erhobenem Rüssel. Auf der einen Wand waren die wilden Tiere Afrikas und Asiens zur Schau gestellt, und auf der anderen Seite die Trophäen der amerikanischen Großwildjagd: ein Grizzly-Bär, ein Braunbär, ein Büffel, ein Berglöwe und so weiter. Fische oder Vögel sah ich nirgends, als wären sie keine angemessene Beute für den Jäger, der diesen Raum mit seinen Trophäen dekoriert hatte. Es war ein unheimliches Zimmer, und trotzdem wünschte ich mir, du könntest es auch sehen. Du mußt es einfach einmal sehen!«
Ach je – was machte ich mir schon aus einem Jagdzimmer? Ich wollte etwas über die Leute wissen – über ihre Geheimnisse. Das interessierte mich.
»Es gab einen riesigen Kamin, und darüber hing das lebensgroße Porträt eines jungen Mannes in Öl, der so sehr Daddy glich, daß ich hätte weinen können. Aber es war nicht Daddys Porträt. Als ich näher trat, sah ich einen Mann darauf, der unserem Vater sehr ähnelte – bis auf die Augen. Er trug eine khakifarbene Jagduniform und stützte sich auf sein Gewehr. Ich verstehe ein wenig vom Malen, und deshalb wußte ich sofort, daß dieses Gemälde ein Meisterwerk war. Der Künstler hatte es geschafft, in ihm die Seele des Jägers einzufangen. Du hast noch nie solche harten, kalten, grausamen und gnadenlosen blauen Augen gesehen. Sie genügten mir, um sicher zu sein, daß dies nicht unser Vater sein konnte, noch bevor ich dann die kleine Plakette unten am Rahmen las. Es war das Porträt von Malcolm Neal Foxworth, unserem Großvater. Das Datum zeigte, daß unser Vater fünf Jahre alt gewesen sein mußte, als dieses Bild gemalt wurde. Du weißt ja, als Daddy drei gewesen ist, hatte man ihn und seine Mutter Alicia aus Foxworth Hall verjagt, und sie mußten danach in Richmond leben.«
»Erzähl weiter.«
»Na, ich hatte auf jeden Fall sehr viel Glück, denn ich habe mir danach so viele Zimmer angesehen, wie ich konnte, ohne daß mich jemand entdeckte. Schließlich fand ich auch Mammis Raum – oder besser ihre Suite von Zimmern. Man muß zwei Stufen zu einer Doppeltür hochsteigen, um in ihr Reich zu gelangen. Junge, als ich da reingesehen habe, dachte ich, ich wäre in einem Palast. Die anderen Räume hatten mich schon etwas Prächtiges erwarten lassen, aber Mammis Zimmer sind unvorstellbar! Und es mußten die Räume unserer Mutter sein, denn auf dem Nachttisch stand Daddys Foto, und es roch dort nach ihrem Parfüm. In der Mitte des Zimmers stand auf dem Podest das berühmte Schwanenbett! Oh! Was für ein Bett! Du hast noch nie so was gesehen! Es hat einen elfenbeinernen Kopf, der sich einem zuwendet, so daß es aussieht, als wolle der Schwan ihn sich gerade unter den ausgebreiteten Flügel stecken. Ein schläfriges, rotes Auge blinzelt einen an. Die Flügel schwingen sich sanft um ein fast ovales Bett – ich habe keine Ahnung, woher sie dafür die Bettücher bekommen, es sei denn, sie werden speziell angefertigt. Der Designer hat es so eingerichtet, daß die Federspitzen der Flügel die Bettvorhänge wie Finger zurückhalten. Das ist wirklich ein Bett – alles rosa, violett und purpur bezogen und bespannt, nur feinste Seide. Sie muß sich wie eine Prinzessin fühlen, wenn sie darin schlafen geht. Der Teppich ist so dick, daß man bis zu den Knöcheln darin versinkt, und um das Bett liegt noch zusätzlich ein weißes Fell. Die Lampen sind über einen Meter groß, aus Kristall und mit Gold und Silber verziert. Zwei haben schwarze Blenden. Es gibt eine elfenbeinerne Chaiselongue mit rosenfarbenem Seidenpolster. Und am Fußende des großen Schwanenbetts – ob du es glaubst oder nicht – stand ein Baby-Schwanenbett. Stell dir das vor! Quer vor das Fußende gestellt. Ich starrte es an und fragte mich, warum irgend jemand ein großes, breites Bett mit einem kleineren Bett davor braucht. Es muß einen guten Grund dafür geben, abgesehen davon, daß man das kleinere für ein Nickerchen nehmen könnte, wenn man das große nicht in Unordnung bringen will. Cathy, du mußt dieses Bett einfach selbst einmal sehen!«
Ich wußte, daß er noch eine Menge mehr gesehen hatte, von dem er mir aber nichts erzählte. Das würde ich mir später selbst ansehen. Soviel bekam ich jedenfalls mit, daß ich begriff, warum er so ausführlich über das Bett redete – nämlich, um andere Sachen verschweigen zu können.
»Ist dieses Haus hier schöner als unser Haus in Gladstone?« fragte ich. Für mich war unser Haus im Ranchstil mit acht Zimmern und zweieinhalb Bädern immer das beste gewesen, das ich mir vorstellen konnte.
Er zögerte. Es dauerte einige Zeit, bevor er die richtigen Worte gefunden hatte, denn er gehörte nicht zu denjenigen, die drauflosreden. In dieser Nacht wog er seine Worte besonders sorgfältig ab, und schon das sagte mir eine ganze Menge. »Dies ist kein schönes Haus. Es ist groß, es ist prachtvoll, und es ist vornehm. Aber ich würde es nicht schön nennen.«
Ich glaube, ich wußte, was er sagen wollte. Schönheit hatte auch etwas mit Gemütlichkeit und Wohnlichkeit zu tun – Pracht, Größe und Vornehmheit dagegen gar nicht.
Und jetzt war uns nur noch übriggeblieben, »Gute Nacht« zu sagen – und »Laß dich nicht von den Foxworth-Wanzen beißen«.
Ich gab ihm einen Kuß auf die Wange und stieß ihn aus dem Bett. Diesmal beschwerte er sich nicht, daß Küsse nur etwas für Babys und alberne Mädchen seien. Schon hatte er sich neben Cory in sein Bett gekuschelt, einen knappen Meter von mir entfernt.
In der Dunkelheit schimmerte der kleine Weihnachtsbaum mit seinen winzigen bunten Lichtern – wie die Tränen, die ich in den Augen meines Bruders schimmern sah.