Читать книгу Die Foxworth-Saga 1-3 - V.C. Andrews - Страница 21
Ein langer Winter, ein langer Frühling, ein langer Sommer
ОглавлениеNiemals hat unsere Mutter etwas so Wahres gesagt wie damals das mit dem Fernseher, den sie unser Fenster in das Leben der anderen nannte. In jenem Winter wurde der Fernseher zum Mittelpunkt unseres Lebens. Wie es Behinderte, Kranke und Alte taten, richteten wir unsere Mahlzeiten, unsere Badezimmerbesuche und unseren ganzen Tagesablauf darauf ein, vor dem Fernseher anderen Leuten bei ihrem künstlichen Alltag zuzusehen. Ja, wir aßen, schliefen, kleideten uns eigentlich nur für diese anderen.
Während des Januars, des Februars und der ersten Wochen des März blieb der Dachboden so eisig kalt, daß wir ihn nicht betreten konnten. Ein Eisnebel hing dort oben zwischen dem alten Gebälk und wallte unheimlich um die alten Truhen und Schränke. Es war ein Anblick, bei dem es einem kalt den Rücken herunterlief. Selbst Chris mußte das zugeben.
Wir waren deshalb ganz zufrieden, in unserem wärmeren Schlafzimmer bleiben zu können, hockten uns gemeinsam vor den Fernseher, eng aneinandergedrückt, und starrten und starrten. Die Zwillinge liebten den Fernseher so, daß sie ihn am liebsten nie abgeschaltet hätten. Selbst wenn wir schlafen gingen, wollten sie ihn eingeschaltet lassen, damit sie wußten, daß sie am nächsten Morgen gleich mit ihm aufwachen würden. Selbst das Testbild-Geflimmer nach den Spätnachrichten wollten sie eingeschaltet haben. Besonders Cory liebte es, wach zu werden und die Leute hinter ihren Tischen sitzen zu sehen, die die Nachrichten verlasen und die Wetteraussichten verkündeten, denn bestimmt waren sie für ihn ein angenehmerer Empfang im neuen Tag als die düsteren, verhangenen Fenster.
Das Fernsehen formte uns, erzog uns, brachte uns bei, wie man schwierige Worte aussprach und schrieb. Wir lernten, wie wichtig es war, sauber und geruchlos zu sein und niemals einen Schmutzfilm auf dem Küchenboden zu haben. Nie durfte man sich das Haar vom Wind in Unordnung bringen lassen und bei Gott nur ja keine Achselnässe bekommen! Im April wurde ich dreizehn und kam langsam ins Akne-Alter. Jeden Tag untersuchte ich eingehend meine Haut danach, welche grauenerregenden Beulen sich in ihr aufwölben könnten. Wir nahmen die Werbespots wirklich beim Wort, hielten sie für einen Wegweiser, eine Werteskala, die uns durch alle Gefahren des Lebens sicher geleiten würde.
Jeder Tag, der verstrich, brachte für Chris und mich eigentümliche Veränderungen. Mit unseren Körpern geschahen eigenartige Dinge. Haare wuchsen uns an Stellen, an denen wir vorher nie welche gehabt hatten – komisch aussehende, rötliche, gekräuselte Haare, dunkler als die auf unseren Köpfen. Sie gefielen mir nicht, und ich nahm die Pinzette und rupfte bei mir jedes neue Haar aus, sobald es auftauchte. Aber es war wie beim Unkraut. Je mehr man ausrupfte, desto mehr wuchs nach. Eines Tages überraschte Chris mich dabei, wie ich ein Haar in meiner Achselhöhle besonders sorgfältig aufs Korn nahm und ihm unerbittlich mit der Pinzette zu Leibe rückte.
»Was zum Teufel machst du da?« rief er.
»Ich habe keine Lust, mich unter den Armen rasieren zu müssen, und ich will auch nicht diese Enthaarungscreme nehmen, die Mammi immer benutzt – sie stinkt!«
»Willst du damit sagen, daß du dir überall an deinem Körper die Haare ausreißt, egal, wo sie wachsen?«
»Klar, genauso. Ich mag meinen Körper eben hübsch ordentlich – auch wenn du da andere Vorstellungen hast.«
»Da kämpfst du einen verlorenen Kampf«, meinte er mit einem heimtückischen Grinsen. »Diese Haare wachsen da, wo sie hingehören. Laß sie also besser in Ruhe und hör auf, dir vorzustellen, du müßtest hübsch ordentlich wie ein kleines Mädchen aussehen. Du solltet mal damit anfangen, diese Haare als sexy zu betrachten.«
Sexy? Große Brüste waren sexy, aber keine krausen, drahtigen kleinen Haare. Aber das dachte ich nur, denn auch meine Brust wurde täglich ein kleines bißchen größer. Ich hoffte, daß Chris dies bisher nicht bemerkt hatte. Es gefiel mir ganz ausgezeichnet, daß ich langsam weibliche Formen bekam – aber nur, wenn ich sie mir ganz für mich alleine ansehen konnte. Ich wollte nicht, daß irgend jemand sonst etwas davon merkte. Doch diese vergebliche Hoffnung mußte ich bald aufgeben, denn ich sah, wie Chris’ Blicke immer öfter zu meiner Brust wanderten, und wie weit meine Blusen und T-Shirts auch sein mochten, die wachsenden kleinen Hügel reckten sich so deutlich hervor, daß sie jedes schamhafte Verstecken unmöglich machten.
In mir erwachte etwas, ich fühlte Dinge, wie ich sie zuvor nicht gekannt hatte. Seltsame Schmerzen und Sehnsüchte. Ich wollte etwas und wußte nicht, was das war. Nachts wurde ich davon wach, etwas Pulsierendes, Aufregendes war da in meinen Träumen; ein Mann war bei mir, das wußte ich, der etwas mit mir tat, von dem ich mir wünschte, er würde es einmal richtig zu Ende bringen, aber das gelang nie ... nie tat er das ... immer wachte ich zu früh auf, bevor ich jenen heißersehnten Höhepunkt erreicht hatte, zu dem der Mann mich bringen würde – wenn ich nur nicht immer aufgewacht und damit alles verdorben worden wäre.
Dann gab es da noch eine andere seltsame Sache. Ich war es, die jeden Morgen die Betten machte, sobald wir uns angezogen hatten und noch bevor die alte Hexe mit dem Frühstückskorb auftauchte. Mir fielen Flecken auf dem Bettlaken auf, die nicht groß genug dafür waren, daß Cory geträumt haben könnte, er wäre allein aufs Klo gegangen. Außerdem fanden sie sich an der Stelle, wo Chris lag. »Um Himmels willen, Chris. Ich hoffe doch, du fängst jetzt nicht auch an zu träumen, du wärst ins Bad gegangen, während du statt dessen im Bett liegst.«
Seine phantastische Geschichte über etwas, das er »nächtliche Samenergüsse« nannte, konnte ich einfach nicht glauben.
»Chris, ich meine, du solltest wirklich mal mit Mammi darüber reden, damit sie mit dir zu einem Arzt geht. Vielleicht hast du etwas Ansteckendes, und Cory fängt es sich am Ende auch noch ein, und der ist schon schlimm genug dran mit seiner Blase.«
Er warf mir einen verächtlichen Blick zu, lief dabei aber rot an im Gesicht. »Ich brauche keinen Arzt«, sagte er auf seine steifste Art. »Ich habe ältere Jungen auf dem Schulhof darüber reden hören. Was mir da passiert, ist völlig normal.«
»Es kann nicht normal sein – es ist viel zu schmuddelig, um normal zu sein.«
»Ha!« schnaubte er, und in seinen Augen leuchtete ein spöttisches Grinsen auf. »Warte nur ab! Die Zeit, wenn du dir deine Laken schmutzig machst, kommt auch bald.«
»Was meinst du damit?«
»Frag Mammi! Es wird Zeit, daß sie mit dir darüber spricht. Mir ist längst aufgefallen, daß du anfängst, dich zu entwickeln – und das ist ein sicheres Zeichen.«
Ich haßte es, daß er über alles, wirklich alles mehr zu wissen schien als ich! Woher lernte er das alles – aus ekligem, großtuerischem Gerede der Jungs auf dem Schulhof? Ich hatte auf der Mädchentoilette auch einigem ekligem Gerede zugehört, aber nie gewagt, auch nur ein Wort davon zu glauben. Es war einfach zu wildes Zeugs gewesen.
Die Zwillinge saßen fast nie auf einem der Stühle, und auf den Betten durften sie nicht sitzen, denn das hätte die Tagesdecken verknautscht, so daß nicht mehr alles tiptop gewesen wäre, wie die Großmutter das verlangte. Auch wenn sie die endlosen Familienserien im Fernsehen gerne sahen, spielten sie ständig irgendwo auf dem Boden und konzentrierten sich nur auf das Fernsehen, wenn gerade eine besonders spannende Szene gesendet wurde.
Carrie hatte ihr Puppenhaus mit den vielen kleinen Bewohnern, für die sie unablässig die Gespräche führte, so daß ich immer ihr nervtötendes Geschnatter im Ohr hatte. Ich warf ihr des öfteren verärgerte Blicke zu, aber das zeigte keinerlei Wirkung. Wenn sie nur einmal für ein paar Sekunden still gewesen wäre, damit ich in Ruhe das Fernsehen genießen konnte – aber ich fuhr sie nie an, denn dann hätte sie sofort mit einem wilden Geschrei begonnen, das nur noch schwerer zu ertragen gewesen wäre.
Während Carrie ihre Puppen von Zimmer zu Zimmer stellte, arbeitete Cory mit seinem Stabilbaukasten. Er weigerte sich stets, irgendwelchen Konstruktionsvorschlägen zu folgen, die Chris ihm machte, sondern baute sich zusammen, was ihm selbst gefiel, und das war immer etwas, was er anschließend mit seinem kleinen Hammer bearbeiten und dabei die seltsamsten, aber musikalischsten Töne hervorbringen konnte. Mit dem Fernseher, der uns ständig neue Aussichten und Leben ins Zimmer brachte, dem Puppenhaus für Carrie und dem Stabilbaukasten für Cory schafften die Zwillinge es, das Beste aus ihrem beengten Leben zu machen. Kleine Kinder sind sehr anpassungsfähig; ich kann das aus eigener Anschauung nachdrücklich bestätigen. Sicher, sie beklagten sich schon mal, besonders über zwei Dinge. Warum kam Mammi nicht mehr so oft wie früher? Das tat mir weh, sehr weh, denn was konnte ich darauf antworten? Und dann das Essen; sie mochten es nie. Sie wollten das Eis am Stiel, das die Kinder im Fernsehen lutschten, und die Hot Dogs, die die Fernsehkinder ständig aßen. Tatsächlich wollten sie einfach alles, was es an Spielsachen und Süßigkeiten für Kinder in der Werbung gab. Die Spielsachen bekamen sie immer, die Süßigkeiten nie.
Eines Nachmittags Ende März kam Mammi mit einer großen Schachtel unter dem Arm ins Zimmer. Wir waren eigentlich gewohnt, daß sie die Hände voller Geschenke hatte, wenn sie sich blicken ließ, nicht nur eines, sondern für jeden etwas. Und das seltsamste war, daß sie Chris nur kurz zunickte, der sofort zu begreifen schien, denn er stand von seinem Buch auf, schnappte sich die Zwillinge bei den beiden Händen und verzog sich mit ihnen auf den Dachboden. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Es war doch noch immer zu kalt da oben. Sollte das ein Geheimnis sein? Hatte Mammi ein Geschenk ganz allein für mich mitgebracht?
Wir setzten uns nebeneinander auf das Bett, das ich mir mit Carrie teilte, und bevor ich einen Blick auf mein ganz spezielles Geschenk werfen konnte, sagte Mammi, wir müßten jetzt ein Gespräch »von Frau zu Frau« führen.
Also, ich hatte schon in verschiedenen Fernsehfilmen von Gesprächen »von Mann zu Mann« gehört, und in solchen Gesprächen ging es meist um das Erwachsenwerden und den Sex. Ich wurde nachdenklich und versuchte, nicht allzu interessiert zu wirken, denn das wäre nicht sehr damenhaft gewesen – auch wenn ich fast vor Neugier starb.
Und erzählte sie mir nun, was ich schon seit Jahren gerne genauer wissen wollte? Mitnichten! Während ich stumm und gespannt dasaß, um nun endlich die bösen, gottlosen Dinge zu erfahren, die Jungen nach den Ansichten einer Rabengroßmutter schon von Geburt an wußten, mußte ich mir fassungslos anhören, daß ich jeden Tag anfangen könnte zu bluten.
Nicht weil ich mich verletzen würde, aus einer Wunde, nein, sondern weil der Körper einer Frau nach Gottes unbegreiflichem Ratschluß eben so funktionierte. Und um meine Verwirrung noch zu steigern, nicht genug, daß ich von nun an jeden Monat einmal bluten würde, bis ich eine Frau von fünfzig war, diese Bluterei sollte auch noch jedesmal fünf Tage dauern!
»Bis ich fünfzig bin?« fragte ich mit einer schwachen Stimme. Ich fühlte mich klein und verschreckt, so in Angst davor, sie würde tatsächlich keinen Scherz mit mir gemacht haben.
Sie schenkte mir ein liebes, zärtliches Lächeln. »Manchmal hört es auf, bevor du fünfzig bist, und bei manchen geht es auch noch ein paar Jahre länger. Es gibt da kein Gesetz. Aber irgendwann etwa in diesem Alter kommt man in die Wechseljahre. Man nennt das auch Menopause.«
»Tut es weh?« war für mich im Augenblick die wichtigste Frage.
»Deine monatliche Periode? Es könnte sein, daß du am Anfang ein paar kleinere, krampfartige Schmerzen hast, aber nichts Schlimmes. Aus meiner eigenen Erfahrung und dem, was ich von anderen Frauen gehört habe, kann ich dir sagen, je mehr du dich darüber aufregst und es dir unangenehm ist, desto mehr tut es auch weh.«
Ich hatte es gewußt! Nie konnte ich Blut sehen, ohne daß es mir dabei weh tat – außer wenn es das Blut von jemandem anderen war. Und all diese Schweinerei, diese Krämpfe, die Schmerzen nur, damit mein Uterus sich fertigmachte, um ein »befruchtetes Ei« aufzunehmen, aus dem dann ein Baby werden sollte. Dann gab Mammi mir die Schachtel, die alles enthielt, was ich für meine »Tage« brauchte.
»Oh, hör auf damit, Mammi!« rief ich. Mir war endlich eingefallen, wie ich um die ganze Sache herumkommen würde. »Du hast vergessen, daß ich vorhabe, Ballerina zu werden, und Tänzerinnen bekommen keine Kinder. Miss Danielle hat uns immer erzählt, daß man besser nicht Mutter wird. Und ich will wirklich keine Kinder, absolut nicht. Du kannst das ganze Zeugs also wieder zum Apotheker zurückbringen und dir dein Geld zurückgeben lassen, denn aus dieser ekligen Monatsgeschichte wird bei mir nichts.«
Sie lachte, drückte mich fest und gab mir einen Kuß auf die Wange. »Ich fürchte, ich habe vergessen, dir etwas zu erklären – denn es gibt überhaupt nichts, was du tun könntest, um keine Menstruation zu bekommen. Du mußt einfach akzeptieren, daß die Natur ihre besondere Art hat, ein Mädchen zur Frau reifen zu lassen. Du willst doch sicher nicht dein ganzes Leben lang ein Kind bleiben?«
Ich war hin und her gerissen. Sicher wollte ich sehr eine erwachsene Frau mit solchen Kurven wie denen von Mammi sein, trotzdem war ich einfach nicht auf den Schock vorbereitet, es dafür jeden Monat mit so einer unangenehmen Sache zu tun zu bekommen – jeden Monat!
»Und, Cathy, du brauchst dich deswegen nicht zu schämen oder zu beunruhigen oder vor diesem kleinen Unwohlsein zu fürchten – Kinder zu haben ist diesen Preis wert und etwas sehr Schönes. Eines Tages wirst du dich verlieben und heiraten, und dann wirst du deinem Mann auch Kinder schenken wollen – wenn du ihn genug liebst.«
»Mammi, es gibt da etwas, von dem du mir noch nichts erzählt hast. Wenn Mädchen solche Sachen durchmachen müssen, um Frauen zu werden, was muß Chris dann aushalten, um ein Mann zu werden?«
Sie kicherte wie ein junges Mädchen und preßte ihre Wange an meine. »Er macht auch Veränderungen durch, allerdings keine, bei denen er zu bluten anfängt. Chris muß sich bald rasieren – und das jeden Tag. Und es gibt da noch gewisse andere Dinge, mit denen er lernen muß zurechtzukommen, über die du dir keine Sorgen zu machen brauchst.«
»Was?« fragte ich, erpicht darauf zu hören, daß auch dem männlichen Geschlecht beim Erwachsenwerden einige Leiden nicht erspart blieben. »Sag mal, Chris hat dich zu mir geschickt, damit du mir das alles erklärst, nicht wahr?« Sie nickte und bestätigte meinen Verdacht, erklärte mir aber, sie habe schon lange vorgehabt, mit mir über diese Dinge zu reden. Sie sei nur nie dazu gekommen, weil unten jeden Tag so viel los wäre, daß sie gar nicht mehr wüßte, wo ihr der Kopf stünde.
»Und Chris – was muß der für Schmerzen aushalten?«
Sie lachte und schien sich über mein beharrliches Interesse an seinen Leiden zu amüsieren. »Ein anderes Mal, Cathy. Räum jetzt deine Sachen weg und benutze sie, wenn die Zeit dazu kommt. Es ist kein Grund zur Aufregung, falls es ganz plötzlich anfangen sollte, etwa während der Nacht oder bei deinen Tanzübungen. Als ich meine erste Periode bekam, war ich zwölf und gerade mit dem Fahrrad unterwegs, und weißt du, ich bin wahrhaftig sechsmal nach Hause gefahren und habe mir ein sauberes Höschen angezogen, bevor meine Mutter etwas merkte und sich die Zeit nahm, mir zu erklären, was da mit mir vorging. Ich war wütend, weil sie mich nicht früher gewarnt hatte. Sie erzählte mir nie irgend etwas über meinen Körper. Ob du es glaubst oder nicht, du wirst dich schnell daran gewöhnen, und es wird an deinen Lebensgewohnheiten überhaupt nichts ändern.«
Trotz der Schachtel mit diesen ekelhaften Sachen, die ich mir wünschte nie brauchen zu müssen – denn ein Baby kam für mich nicht in Frage –, war das ein sehr gutes, warmes Gespräch, das ich damals mit meiner Mutter führte.
Und trotzdem, als sie dann Chris und die Zwillinge vom Dachboden herunterrief und Chris küßte und mit ihm herumalberte und die Zwillinge dabei so gut wie ignorierte, begann das Gefühl der Verbundenheit, das wir eben noch geteilt hatten, schnell zu verblassen. Carrie und Cory schienen sich inzwischen in Mammis Gegenwart nicht mehr recht wohl zu fühlen. Sie liefen zu mir, kletterten mir auf den Schoß und wollten von mir in den Arm genommen werden, während sie zusahen, wie unsere Mutter mit Chris schmuste. Ich machte mir Sorgen wegen der Art, wie sie die Zwillinge in der letzten Zeit behandelte, so als würde sie einfach nicht mehr ertragen, sie sich anzusehen. Während Chris und ich in die Pubertät kamen und unaufhaltsam erwachsen wurden, stagnierten die Zwillinge in ihrer Entwicklung, die nirgendwo mehr hinzuführen schien.
Der lange kalte Winter wich endlich dem Frühling. Nach und nach wurde es auf dem Dachboden wieder wärmer. Wir gingen alle vier hinauf, um die Papierschneeflocken abzunehmen, und wir ließen leuchtende Frühlingspapierblumen aufblühen.
Im April hatte ich Geburtstag, und Mammi versäumte nicht, mit vielen Geschenken zu kommen und uns mit Eiskrem und Kuchen zu beglücken. Sie setzte sich für den Sonntagnachmittag zu uns und brachte mir bei, wie man nach Mustern stickt und was für Kreuzstiche es gibt. Mit den Sticksets, die ich von ihr bekam, hatte ich wieder etwas, das mir die Zeit ausfüllte.
Auf meinen Geburtstag folgte bald der unserer Zwillinge – ihr sechster Geburtstag. Wieder brachte Mammi Kuchen und Eiskrem mit, dazu die vielen Geschenke, zu denen auch Musikinstrumente gehörten, bei deren Anblick Corys blaue Augen aufleuchteten. Er ließ einen langen, verzauberten Blick über das Spielzeugakkordeon wandern und preßte es leicht, während er ein paar Tasten ausprobierte. Und, was soll ich sagen, er spielte tatsächlich sofort eine Melodie darauf! Keiner von uns konnte es fassen. Und dann verschlug es uns erst recht die Sprache, denn er nahm sich Carries Spielzeugklavier vor und machte es damit genauso. »Carrie hat Geburtstag, tralalala, Carrie hat Geburtstag ...«
»Cory hat ein Ohr für Melodien«, sagte Mammi schließlich und sah traurig und bedrückt aus, als sie endlich einen längeren Blick auf ihren jüngsten Sohn geworfen hatte. »Meine Brüder waren beide sehr musikalisch. Das traurige daran war nur, daß mein Vater keine Geduld für künstlerische Dinge hatte oder für eine künstlerische Ader bei Menschen – nicht nur, wenn sie Musiker waren, auch nicht bei Malern oder Dichtern, bei überhaupt niemandem. Er hielt sie für schwach und weibisch. Er zwang meinen älteren Bruder, in einer Bank zu arbeiten, die ihm gehörte, ohne sich daran zu stören, daß seinen Sohn dieser Job an widerte, der absolut nicht zu einem Menschen wie ihm paßte. Er war nach meinem Vater getauft worden, aber wir nannten ihn alle Mal. Er sah sehr gut aus, und an den Wochenenden ergriff Mal die Flucht aus diesem Leben, das er haßte, und fuhr auf seinem Motorrad in die Berge. In seiner Zuflucht da oben, einer Blockhütte, die er sich selbst gebaut hatte, komponierte er. Eines Tages ging er auf regennasser Straße zu schnell in eine Kurve. Er kam von der Straße ab und stürzte hundert Meter tief in einen Gebirgsbach. Er war zweiundzwanzig Jahre alt, als er starb.
Mein jüngerer Bruder hieß Joel. Er lief einen Tag nach Mals Begräbnis von zu Hause weg. Er und Mal hatten sich sehr nahegestanden, und ich nehme an, Joel konnte einfach nicht ertragen, daß er nun Mals Platz übernehmen und der Erbe von Vaters Finanzdynastie werden sollte. Wir erhielten eine einzige Postkarte von ihm. Sie kam aus Paris, und er schrieb, daß er eine Stelle bei einem Orchester gefunden hätte, das auf einer Europatournee sei. Das nächste, was wir von ihm hörten, vielleicht drei Wochen später, war, daß er bei einem Skiunfall in der Schweiz ums Leben gekommen war. Neunzehn ist er damals gerade gewesen. Er stürzte in eine tiefe Schlucht voller Schnee. Seine Leiche hat man bis heute nicht gefunden.«
Himmel! Was fühlte ich mich verwirrt und aufgewühlt, innerlich richtig betäubt. So viele Unfälle. Zwei Brüder tot, und Daddy auch, und alle verunglückt. Mein leerer Blick traf sich mit dem von Chris. Er lächelte nicht. Sobald unsere Mutter gegangen war, flohen wir auf den Dachboden zu unseren Büchern.
»Wir haben jedes verdammte Buch gelesen!« meinte Chris äußerst ungehalten und warf mir einen aufgebrachten Blick zu. Was konnte ich dafür, daß er jedes Buch in ein paar Stunden ausgelesen hatte?
»Wir können die Sachen von Shakespeare noch mal lesen«, schlug ich vor.
»Ich lese nicht gern Theaterstücke.«
Auch das noch! Ich liebte Shakespeare und Eugene O’Neill und alles, was dramatisch war und von mächtigen Gefühlen strotzte.
»Laß uns doch den Zwillingen das Lesen und Schreiben beibringen«, schlug ich vor, denn ich war ganz wild darauf, mit irgend etwas Neuem anzufangen. Und auf diese Art konnten wir auch den Zwillingen endlich eine neue Beschäftigung vermitteln. »Chris, damit verhindern wir, daß ihnen von dem ewigen Starren in die Röhre noch die Gehirne weich werden und sie sich die Augen verderben.«
Entschlossen schlichen wir uns die Treppen hinunter und auf die ahnungslosen Zwillinge zu, deren Augen gerade an Bugs Bunny klebten. Glücklicherweise sang Bugs Bunny schon seinen Abschiedssong.
»Wir bringen euch jetzt Lesen und Schreiben bei«, verkündete Chris.
Sie protestierten mit lautem Geschrei. »Nein!« heulte Carrie los. »Wir wollen nicht lernen, wie man liest und schreibt! Wir wollen keine Buchstaben malen! Wir wollen ›Vater ist der Beste‹ sehen!«
Chris schnappte sie sich, und ich griff mir Cory, und wir mußten sie im wahrsten Sinne des Wortes auf den Dachboden hinaufzerren. Es war, als wollte man Schlangen fangen. Und sie brüllten dazu wie gereizte Stiere vor dem Angriff.
Cory gab das Gebrüll dann auf. Er wurde ganz still, aber er griff nach allem, was in die Reichweite seiner Hände kam, und klammerte sich daran fest. Selbst mit seinen Beinen hakte er sich fest, wo immer er konnte.
Niemals haben zwei Amateurpädagogen zwei so widerwillige Schüler zu unterrichten gehabt. Aber schließlich schafften wir es mit Tricks und Drohungen und Märchen, ihr Interesse zu wecken. Vielleicht trieb sie auch nur das Mitleid mit ihren älteren Geschwistern dazu, sich sorgfältig in die Bücher zu vertiefen und sich die Buchstaben einzuprägen, bis sie die ersten Worte schreiben konnten. Wir fanden eine alte Fibel für sie, aus der sie abschreiben mußten.
Da wir keine Ahnung hatten, wie andere Kinder in diesem Alter lernten, fanden Chris und ich, daß unsere Sechsjährigen ganz erstaunliche Fortschritte machten. Und auch wenn Mammi jetzt nicht mehr jeden Tag kam wie am Anfang, oder jeden zweiten Tag, ließ sie sich doch ein- oder zweimal in der Woche sehen. Wie sehr wir darauf warteten, ihr den kleinen Brief zu geben, den Cory und Carrie völlig selbständig für sie geschrieben hatten! Die beiden hatten von uns nur gesagt bekommen, wieviel Wörter jeder zu schreiben hatte.
In fast fünf Zentimeter hohen und sehr krummen Buchstaben stand da:
Liebe Mammi,
wir lieben dich sehr
und Süßigkeiten noch mehr.
Auf Wiedersehen.
Carrie und Cory.
Mit solcher süßen Aufdringlichkeit versuchten sie Mammi die richtige Botschaft zukommen zu lassen, ohne daß wir ihnen dabei irgendwie zur Hand gegangen waren oder sie angeregt hätten. Eine Botschaft, von der sie hofften, Mammi würde sie verstehen, was sie natürlich nicht tat.
Süßigkeiten blieben zu riskant. Karies!
Die Sommerhitze legte sich wieder über uns. Wieder wurde es heiß und stickig, furchtbar stickig, aber doch seltsamerweise nicht so unerträglich wie im Jahr zuvor. Chris überlegte, daß unser Blut dünner geworden sein müsse, so daß wir die Hitze nun besser aushalten konnten.
Unser Sommer war ausgefüllt mit Büchern. Offenbar griff Mammi einfach in die Regale unten in der Bibliothek und schleppte herauf, was sie in die Finger bekam, ohne sich auch nur die Titel anzusehen oder sich gar Gedanken darüber zu machen, ob wir etwas mit den Büchern anfangen konnten, ob sie die richtige Lektüre für unser leicht zu beeindruckendes Wesen waren. Es machte auch wirklich nicht viel. Chris und ich lasen einfach alles.
Eines unserer liebsten Bücher in diesem Sommer war ein historischer Roman, der die Geschichte wesentlich interessanter machte als alles, was wir in der Schule darüber gelernt hatten. Wir waren überrascht, daß in den alten Zeiten die Frauen nicht in Krankenhäuser gingen, um Kinder zu bekommen. Sie hatten zu Hause auf einer schmalen Liege niederzukommen, damit der Doktor besser an sie herankam, als das auf einem breiten Bett der Fall gewesen wäre. Und manchmal hatte man sogar nur eine »Hebamme« als Hilfe.
»Ein Babyschwanenbett, um darauf ein Kind zur Welt zu bringen?« überlegte Chris laut, während er den Kopf hob und zur Decke starrte.
Ich wälzte mich auf den Rücken und lächelte ihm beschwörend zu. Wir waren auf dem Dachboden und lagen beide auf der alten Matratze unter dem offenen Fenster, durch das eine warme Brise wehte. »Und Könige und Königinnen, die in ihrem Schlafzimmer Hof hielten – oder in ihren Schlafgemächern, wie man das wohl nannte – und sich trauten, ganz nackt im Bett zu sitzen. Glaubst du, daß alles, was in Büchern steht, wahr sein kann?«
»Natürlich nicht! Aber vieles stimmt schon. Jedenfalls haben die Leute früher keine Nachthemden oder Schlafanzüge im Bett getragen. Sie trugen nur Mützen, um sich die Köpfe warm zu halten, und der Rest war ihnen schnuppe.«
Wir lachten beide, weil wir uns vorstellten, wie die Könige und Königinnen da nackt in ihren Betten vor ihrem ganzen Hofstaat saßen und vielleicht sogar ausländische Botschafter empfingen.
»Nackte Haut war damals nichts Sündiges, was meinst du? Damals im Mittelalter?«
»Wahrscheinlich nicht«, antwortete er.
Zum zweiten Mal hatte ich jetzt mit dem Fluch zu kämpfen, den die Natur mir sandte, um mich zur Frau zu machen. Beim ersten Mal hatte ich solche Schmerzen gehabt, daß ich fast die ganze Zeit im Bett geblieben war.
»Du glaubst nicht, daß das, was mir da gerade wieder passiert, irgendwie eklig ist?« fragte ich Chris.
Sein Gesicht grub sich in mein Haar. »Cathy, ich halte nichts, das mit dem menschlichen Körper und der Art, wie er funktioniert und sich entwickelt, zusammenhängt, für eklig oder widerwärtig. Was deine derzeitige Lage angeht, denke ich ... na, wenn es ein paar Tage im Monat braucht, um dich zu einer Frau wie unsere Mutter zu machen, dann bin ich da ganz dafür. Und wenn es weh tut und du die Schmerzen nicht magst, dann denk doch an deine Tanzerei, denn die Übungen tun auch weh, hast du mir erzählt. Und trotzdem denkst du, daß dein Tanzen diesen Preis wert ist.« Meine Arme schlangen sich enger um ihn, während er eine Pause machte. »Auch ich habe meinen Preis dafür zu bezahlen, daß ich ein Mann werde. Ich habe keinen Mann, mit dem ich über meine Situation reden könnte, so wie du mit Mammi. Ich bin ganz auf mich allein gestellt in einer sehr beengten Lage und stecke bis oben hin voll Frustrationen, und manchmal weiß ich nicht, wo ich mich hinwenden soll, um mit meinen Versuchungen fertig zu werden, und außerdem habe ich so verdammte Angst, daß ich es nicht schaffe, einmal Arzt zu werden.«
»Chris«, begann ich und wußte dabei sofort, daß ich mich mit meinen weiteren Worten auf Glatteis begab, »hast du eigentlich nie irgendwelche Zweifel an ihr?«
Ich sah sein Stirnrunzeln und sprach schnell weiter, bevor er mir irgendeine wütende Bemerkung entgegenschleudern konnte. »Kommt es dir nicht manchmal ... na, komisch vor, daß sie uns so lange hier oben eingeschlossen hält? Sie bekommt jede Menge Geld, Chris, das weiß ich bestimmt. Diese Ringe und Ketten, die sind keine billigen Imitationen, wie sie uns immer erzählt. Ich weiß, daß sie echt sind.«
Er war von mir abgerückt, sobald ich von »ihr« angefangen hatte. Er bewunderte sie als Göttin weiblicher Vollkommenheit, aber dann nahm er mich wieder in den Arm und drückte seine Wange gegen mein Haar. Seine Stimme steckte voller tiefer Gefühle. »Manchmal bin ich nicht der ewige blauäugige Optimist, wie du mich nennst. Manchmal mache ich mir genauso Gedanken darüber, was sie tut, wie du. Aber ich denke immer an die Zeit früher, bevor wir hierhergekommen sind, und dann fühle ich, daß ich ihr vertrauen muß und glauben muß und sein muß, wie Daddy gewesen ist. Erinnerst du dich noch daran, wie Daddy immer sagte: Für alles, was dir seltsam vorkommt, gibt es irgendwo eine vernünftige Erklärung. Und am Ende gehen die Dinge meist so aus, wie es gut ist. Daran versuche ich immer zu glauben – sie hat gute Gründe dafür, uns hier eingeschlossen zu lassen, anstatt uns heimlich irgendwo auf ein Internat zu schicken. Sie weiß, was sie tut, und, Cathy, ich liebe sie einfach so sehr. Ich kann mir nicht helfen. Ganz egal, was sie tun würde, ich fühle, daß ich niemals aufhören könnte, sie zu lieben.«
Er liebt sie mehr als mich, dachte ich erbittert.
Unsere Mutter kam und ging nun ohne jede Regelmäßigkeit. Einmal bekamen wie sie eine ganze Woche lang nicht zu sehen. Als sie dann endlich wieder auftauchte, erzählte sie uns, ihr Vater sei sehr krank. Ich war überglücklich, diese Neuigkeit zu hören.
»Geht es ihm schlechter?« fragte ich und spürte dabei ein wenig von einem schlechten Gewissen. Ich wußte, daß es nicht richtig war, wenn ich mir seinen Tod wünschte, aber sein Tod bedeutete die Erlösung für uns.
»Ja«, sagte sie ruhig, »es geht ihm viel schlechter. Jeden Tag kann es soweit sein, Cathy, jeden Tag. Du würdest nicht glauben, wie hinfällig er inzwischen ist und wie er leidet. Bald ist es vorbei. Und sobald es mit ihm zu Ende ist, seid ihr frei.«
O gütiger Himmel, daran zu denken, daß ich so schlecht war, mir zu wünschen, er würde auf der Stelle, noch in dieser Sekunde sterben! Gott möge mir verzeihen. Aber es war nicht gut für uns, die ganze Zeit eingeschlossen zu sein. Wir brauch ten die frische Luft, das warme Sonnenlicht, und wir fühlten uns so vereinsamt, weil wir nie ein anderes Gesicht zu sehen bekamen.
»Es kann jede Stunde passieren«, sagte Mammi und stand auf, um uns zu verlassen.
»Swing low, sweet chariot, comin’ for t’ carry me home ...« summte ich, während ich die Betten machte und auf neue Nachrichten wartete, daß unser Großvater endlich auf dem Weg in den Himmel war, falls Gold dort zählte, oder zur Hölle, falls der Teufel sich nicht bestechen ließ.
Und dann stand Mammi in der Tür. Sie sah müde aus und steckte nur schnell den Kopf herein. »Er hat die Krise überstanden ... er beginnt sich wieder zu erholen. Für diesmal. Die Tür schloß sich, und wir waren mit unseren zerschmetterten Hoffnungen wieder alleine.
Ich brachte die Zwillinge an diesem Abend ins Bett wie an allen anderen Abenden auch. Nie kam Mammi mehr herauf, um ihnen noch einen Gutenachtkuß zu geben. Ich war diejenige, die ihnen die Wangen küßte und mit ihnen das Nachtgebet sprach. Chris hatte auch seinen Teil daran. Sie liebten uns, das ließ sich leicht aus ihren großen, verschatteten blauen Augen lesen. Nachdem sie eingeschlafen waren, gingen wir gemeinsam zum Kalender und strichen wieder einen Tag durch. Der August war wieder gekommen. Ein volles Jahr lebten wir jetzt schon in unserem Gefängnis.