Читать книгу Die Foxworth-Saga 1-3 - V.C. Andrews - Страница 25
An einem regnerischen Nachmittag
ОглавлениеChris stand am Fenster und hielt mit beiden Händen die schweren Vorhänge auf. Der Himmel war bedeckt, und es regnete in dichten Schleiern. In unserem Zimmer brannten alle Lampen, der Fernseher lief wie gewöhnlich. Chris wartete darauf, einen Blick auf den Zug zu erhaschen, der gegen vier vorbeikam. Wir konnten das traurige Pfeifen der Lok hören, wenn es morgens hell wurde, gegen vier Uhr nachmittags und spät nachts, falls wir dann noch wach waren. Sehen konnte man den Zug immer nur ganz kurz. Er fuhr in so weiter Ferne vorbei, daß er nur wie eine Spielzeugeisenbahn aussah.
Chris war in seiner Welt, ich in meiner. Im Schneidersitz saß ich auf dem Bett, das ich mir mit Carrie teilte, und schnitt Bilder aus einer Möbelzeitschrift aus, die Mammi mir eines Tages zum Lesen mitgebracht hatte, bevor sie fortgegangen war, um so lange nicht mehr zu uns zu kommen. Ich schnitt sorgfältig Abbildungen aus der Zeitschrift aus, die ich in ein großes Notizbuch klebte. So plante ich mir mein Traumhaus, wo ich für immer glücklich mit einem großen, starken, dunkelhaarigen Mann leben würde, der nur mich liebte und keine tausend anderen an meiner Seite.
Ich hatte mir mein Leben bereits genau zurechtgeplant: Erst kam meine Karriere; wenn ich dann reif war, mich von der Bühne zurückzuziehen, würde ich einen Mann und Kinder haben, so daß andere eine Chance bekamen, meinen Platz als Künstlerin einzunehmen ...
»Chris«, sagte ich und starrte seinen Rücken an, »warum sollen wir hier warten und warten, bis Mammi eines Tages zurückkommt, oder hoffen, daß der alte Mann da unten irgendwann stirbt? Jetzt, wo wir wieder bei Kräften sind, warum planen wir da keine Flucht?«
Er sagte kein Wort, aber ich konnte sehen, wie seine Hände fester in die Vorhangfalten griffen.
»Chris ...«
»Ich will nicht davon sprechen!« brach es aus ihm heraus.
»Warum stehst du denn da und wartest darauf, den Zug vorbeifahren zu sehen, wenn du nicht daran denkst, hier wegzukommen?«
»Ich warte nicht auf den Zug! Ich sehe einfach mal nach draußen, das ist alles!«
Er preßte sein Gesicht gegen die Scheibe, so daß jeder zufällige Besucher draußen herausgefordert wurde, ihn zu entdecken.
»Chris, komm doch bitte vom Fenster weg. Es könnte dich jemand sehen.«
»Das ist mir ganz egal!«
Mein erster Impuls war, zu ihm zu laufen, ihn in den Arm zu nehmen und sein Gesicht mit den tausend Küssen zu bedecken, die ihm von Mammi fehlten. Ich würde seinen Kopf an meine Brust ziehen und ihn so in den Haaren kraulen, wie sie es immer getan hatte, und dann würde aus ihm wieder der fröhliche, sonnige Optimist werden, der keine Tage voll dumpfer Wut durchmachte, wie ich sie erlebte. Aber ich war klug genug zu wissen, daß ich tun könnte, was ich wollte, es würde nicht wie von unserer Mutter sein. Sie wollte er. Er hatte alle seine Träume, seine Hoffnungen und sein Geschick an diese eine Frau geknüpft – Mammi.
Seit über zwei Monaten war sie nun fort! Hatte sie gar nicht begriffen, daß ein Tag hier drinnen länger war als ein Monat im normalen Leben? Machte sie sich keine Sorgen um uns, fragte sie sich nicht, wie es uns ging? Glaubte sie wirklich, daß Chris immer und ewig zu ihr stehen würde, auch wenn sie uns ohne jede Entschuldigung, ohne jeden Grund oder jede Erklärung allein ließ? Glaubte sie wirklich, daß Liebe, die man sich einmal erworben hatte, nie von Zweifeln und Ängsten zerstört werden konnte, so daß sie durch nichts wieder zu heilen war?
»Cathy«, sagte Chris plötzlich, »wohin würdest du gehen, wenn du es dir frei aussuchen könntest?«
»In den Süden«, antwortete ich, »an irgendeinen warmen, sonnigen Strand, der sanft von der Brandung umspült wird ... keine hohen Surf-Wellen mit weißen Kronen ... keine graue See, die gegen Klippen donnert ... ich möchte dorthin, wo kein Wind mir ins Gesicht bläst. Ich möchte nur eine warme Brise spüren, die mir sanft in den Haaren spielt und in den Ohren wispert, während ich auf sauberem weißem Sand liege und den Sonnenschein trinke.«
»Doch, doch«, stimmte er wehmütig zu, »das klingt sehr gut, so wie du es erzählst. Nur, daß mir ein paar hohe Wellen nichts ausmachen würden; ich würde gerne auf einem Surfbrett hoch auf dem Wellenkamm reiten. Das müßte so ähnlich sein wie Skilaufen.«
Ich legte meine Schere zur Seite, meine Zeitschriften, meinen Klebstoff und konzentrierte mich ganz auf Chris. Er mußte auf so viele Sportarten verzichten, die er liebte, während wir hier oben eingesperrt waren. Es machte ihn älter und düsterer, als er eigentlich war. Er verpaßte seine Jugend. Oh, wie sehr ich ihn trösten wollte! Und ich wußte nicht, wie und womit.
»Komm vom Fenster weg, Chris, bitte!«
»Laß mich in Frieden! Dieses Zimmer hier kotzt mich so verdammt an! Tu dies nicht, tu das nicht! Rede nicht, bevor du nicht angesprochen wirst – iß jeden Tag brav diesen verdammten Fraß, von dem nie etwas warm genug ist oder frisch – ich glaube, sie gibt uns dieses Zeug mit voller Absicht, damit wir nie etwas haben, an dem wir Freude finden können, nicht einmal ein gutes Essen. Dann denke ich an all das Geld – die Hälfte davon für Mammi, die andere für uns. Und ich sage mir, egal, was kommt, das ist es wert! Dieser alte Mann da unten kann nicht ewig leben!«
»Alles Geld auf der Welt ist nicht die Zeit unseres Lebens wert, die wir hier verlieren!« fuhr ich ihn an.
Er wirbelte herum, das Gesicht gerötet. »Du hast gut reden! Du kannst dich vielleicht mit deinen Talenten über Wasser halten, aber vor mir liegen viele Jahre, die ich studieren muß! Du weißt, daß Daddy von mir erwartet hat, daß ich Medizin studiere, und das werde ich auch! Aber wenn wir weglaufen und uns irgendwo verstecken, dann kann ich niemals Medizin studieren – das weißt du ganz genau! Sag mir doch, wie ich das Geld für uns verdienen soll, wenn wir von hier weg sind – los, zähl mir die anderen Jobs auf außer Tellerwäscher, Obstpflücker, Bürobote, die ich finden kann – gibt es irgendeine Arbeit, bei der ich die Oberschule besuchen kann und anschließend noch jahrelang die Universität? Und ich werde dazu noch dich und die Zwillinge haben, für die ich genauso den Lebensunterhalt verdienen muß wie für mich – eine komplette Familie für einen Sechzehnjährigen!«
Brennende Wut stieg in mir hoch. Er traute mir nicht zu, auch nur das Geringste beizusteuern! »Ich kann ja auch arbeiten gehen!« rief ich aufgebracht. »Wir können es uns aufteilen. Chris, als wir am Verhungern waren, hast du mir vier tote Mäuse gebracht und gesagt, in Notzeiten gibt Gott einem besondere Fähigkeiten und zusätzliche Kräfte. Gut, das glaube ich. Wenn wir hier raus sind und auf uns allein gestellt, dann werden wir auf irgendeine Art schon unseren Weg machen, und du wirst auch dein Medizinstudium schaffen! Ich werde alles tun, was ich kann, damit du den verdammten ›Dr. med.‹ vor deinen Namen bekommst!«
»Was kannst du schon tun?« fragte er auf eine verletzende, haßerfüllte Art. Bevor ich antworten konnte, öffnete sich die Türe hinter uns, und herein kam die Großmutter. Sie blieb an der Schwelle stehen, ohne weiter ins Zimmer zu treten, und fixierte Chris. Und er, stur und nicht gewillt, sich noch auf irgend etwas einzulassen, lehnte es ab, darauf auch nur zu reagieren. Er ging nicht vom Fenster weg, sondern wandte ihr den Rücken zu und starrte wieder hinaus.
»Junge!« fuhr sie ihn an. »Geh von diesem Fenster weg – auf der Stelle!«
»Mein Name ist nicht ›Junge‹. Ich heiße Christopher. Sie können mich mit meinem richtigen Namen anreden oder es ganz bleiben lassen – aber nennen Sie mich nie mehr ›Junge‹!«
Sie spie gegen seinen Rücken: »Ich hasse diesen Namen! Es war der Name deines Vaters. Aus Herzensgüte habe ich mich seiner angenommen und mich für ihn eingesetzt, als seine Mutter starb und er kein Zuhause mehr hatte. Mein Mann wollte ihn hier nicht haben, aber ich fühlte Mitleid für einen Jungen, der keine Eltern und kein Vermögen mehr hatte und dem es an so vielem fehlen würde. Deshalb drängte ich meinen Mann, seinem jungen Halbbruder einen Platz unter unserem Dach zu geben. Und so kam euer Vater hierher ... brillant, gutaussehend, und zog aus unserer Großzügigkeit seine Vorteile. Hinterging uns! Wir schickten ihn auf die besten Schulen, kauften ihm von allem das Beste, und er stahl uns unsere Tochter, seine eigene Halbnichte! Sie war alles, was uns damals noch geblieben war ... das einzige Kind ... und sie brannten nachts durch und kamen zwei Wochen später zurück, lächelnd, glücklich und verlangten von uns, daß wir ihnen alles verziehen. In jener Nacht bekam mein Mann seinen ersten Herzanfall. Hat eure Mutter euch das erzählt – daß sie und dieser Mann an der Herzkrankheit ihres Vaters schuld sind? Er warf sie hinaus – sagte ihr, sie solle nie wiederkommen – und dann brach er zusammen.«
Sie hielt inne, schnappte nach Luft und faßte sich mit ihrer kräftigen, von Diamanten blitzenden Hand an die Kehle. Chris drehte sich vom Fenster weg und starrte sie an, genau wie ich. Das war mehr, als sie je mit uns gesprochen hatte, seit sie uns die Treppe herauf hierhergeführt hatte, vor einer halben Ewigkeit.
»Wir sind nicht dafür verantwortlich, was unsere Eltern getan haben«, erklärte Chris flach.
»Du bist dafür verantwortlich, was du und deine Schwester getan haben!«
»Was haben wir für Sünden begangen?« fragte er. »Glauben Sie ernsthaft, wir können jahrelang in einem Zimmer zusammenleben, ohne uns gegenseitig anzusehen? Sie haben mitgeholfen, uns hierherzubringen. Sie haben diesen Flügel abgeschlossen, damit das Personal nichts merkt. Sie wollen, daß wir irgend etwas Schlechtes tun, bei dem Sie uns erwischen können. Sie wollen, daß Cathy und ich den Beweis liefern, daß die Ehe unserer Eltern etwas Böses war! Sehen Sie sich doch an, wie Sie da in Ihrem eisengrauen Kleid stehen und sich fromm und selbstgerecht vorkommen, während Sie kleine Kinder verhungern lassen!«
»Hör auf!« schrie ich, entsetzt von dem, was sich auf dem Gesicht der Großmutter abzeichnete. »Chris, kein Wort mehr!«
Aber er hatte schon zuviel gesagt. Sie stürmte hinaus, während mir das Herz bis zum Hals klopfte. »Wir gehen auf den Dachboden«, sagte Chris ruhig. »Die Alte ist zu feige für die Treppe. Da oben sind wir sicher, und wenn sie wieder versucht, uns auszuhungern, klettern wir an der Bettlaken-Leiter nach draußen und verschwinden.«
Die Tür ging wieder auf. Die Großmutter marschierte herein, eine grüne Weidenrute in der Hand und grimmige Entschlossenheit in den Augen. Sie mußte die Rute irgendwo in der Nähe bereitgehalten haben, um sie so schnell wie möglich holen zu können. »Versteckt euch auf dem Dachboden«, fauchte sie und griff Chris beim Oberarm, »und keiner von euch bekommt die nächste Woche etwas zu essen! Und ich werde nicht nur dich durchprügeln, wenn du dich wehrst, sondern auch deine Schwester und die Zwillinge!«
Es war Oktober. Im November wurde Chris siebzehn. Mit der riesigen alten Frau verglichen, war er immer noch nur ein Schuljunge. Er überlegte, was Widerstand einbringen würde, sah zu mir und den Zwillingen, die sich wimmernd aneinanderklammerten, und erlaubte der Großmutter dann, ihn in Richtung auf das Badezimmer zu zerren. Sie schob ihn hinein und schloß hinter sich die Tür ab. Ich hörte, wie er sich ausziehen und über den Badewannenrand legen mußte.
Die Zwillinge rannten zu mir und verbargen ihre Köpfe in meinem Schoß. »Mach, daß sie damit aufhört!« bettelte Carrie. »Sie darf Chris nicht schlagen!«
Er gab keinen Ton von sich, während die Rute ihm auf die nackte Haut gepeitscht wurde. Ich hörte das Übelkeit erregende Klatschen der Weidenrute, die sich in ungeschütztes Fleisch fraß. Und ich fühlte jeden Schlag am eigenen Körper! Chris und ich waren uns im letzten Jahr so nahegekommen, daß wir wie eine Person fühlten. Er war meine andere Hälfte, das, was ich gerne gewesen wäre, stark und furchtlos und in der Lage, die Rute ohne einen Schrei auszuhalten. Ich haßte diese Frau. Ich saß auf dem Bett, die Zwillinge in den Armen, und in mir stieg ein solcher Haß auf, daß ich nicht mehr wußte, was ich anderes tun sollte, als laut loszubrüllen. Er bekam die Schläge, und ich schrie seinen Schmerz heraus! Ich hoffte, daß Gott es hörte. Ich hoffte, daß die Dienstboten es hörten! Ich hoffte, daß der sterbende Großvater es hörte!«
Sie kam aus dem Badezimmer, die Peitsche in der Faust. Hinter ihr folgte Chris, ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Er war totenbleich. Ich konnte nicht aufhören zu schreien.
»Halt den Mund!« herrschte sie mich an und knallte vor mir mit der Peitsche. »In dieser Sekunde bist du still, oder du bekommst dasselbe!«
Ich konnte nicht aufhören zu schreien, auch nicht, als sie mich vom Bett hochzog und die Zwillinge beiseite stieß, die mich verteidigen wollten. Cory versuchte, ihr ins Bein zu beißen. Ein Schlag, und er rutschte über den Boden. Danach ging ich ins Badezimmer, meine Hysterie einigermaßen unter Kontrolle. Auch ich mußte mich ausziehen. Ich stand da und blickte auf ihre Diamantbrosche, diese Brosche, die sie immer unter dem Kinn trug. Siebzehn winzige Edelsteine zählte ich darauf. Ihr graues Taftkleid durchzogen feine rote Nadelstreifen, der weiße Kragen war handgehäkelt. Ihr Blick ruhte mit einem Ausdruck hämischer Befriedigung auf den kurzen Haarstoppeln, die mein Kopftuch über der Stirn freiließ.
»Ausziehen, oder ich reiß dir die Sachen runter!«
Ich begann mich auszuziehen und knöpfte mir langsam die Bluse auf. Ich trug damals keinen BH, aber ich hätte einen gebraucht. Ich merkte, wie sie auf meine Brüste starrte und meinen flachen Bauch und die schlanke Taille musterte, bevor sie den Blick abwandte, als hätte ich sie beleidigt. »Eines Tages zahle ich dir das heim, Alte«, sagte ich. »Es kommt der Tag, an dem du hilflos bist und ich die Peitsche in der Hand halten werde. Und dann wird es Essen in der Küche geben, von dem du nie etwas abbekommen wirst, denn wie du unentwegt sagst, Gott sieht alles, und Er sorgt auf seine eigene Art für Gerechtigkeit, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Großmutter!«
»Nie wieder sprichst du mit mir!« knirschte sie. Dann lächelte sie böse, denn sie war sicher, daß der Tag niemals kommen würde, an dem ich Macht über sie haben könnte. Ich hatte mir für meine Worte den dümmsten Augenblick ausgesucht, den es geben konnte, und sie zahlte mir jedes Wort auf der Stelle heim. Während mir die Rute in mein zartes Fleisch biß, weinten vor der Tür die Zwillinge. »Chris, mach, daß sie aufhört! Laß sie Cathy nicht weh tun!«
Ich fiel neben der Wanne auf die Knie, rollte mich zu einer Kugel zusammen, um mein Gesicht, meine Brüste und meine verwundbarsten Stellen zu schützen. Wie eine Wilde drosch sie auf mich ein, bis die Weidenrute ihr durchbrach. Der Schmerz brannte wie Feuer. Als die Rute brach, dachte ich, nun wäre es zu Ende, aber sie griff sich eine langstielige Badebürste und schlug mir damit auf den Kopf und die Schultern. Sosehr ich mich auch bemühte, nicht zu schreien und dem tapferen Beispiel von Chris zu folgen, jetzt mußte es heraus. Ich brüllte: »Du bist keine Frau! Du bist ein Monster! Etwas Unmenschliches und Gottloses!« Der Lohn dafür war ein gewaltiger Schlag gegen meine rechte Schläfe. Alles wurde schwarz.
Langsam kehrte ich ins Bewußtsein zurück, alles tat mir weh, und mein Kopf schien mir von Schmerz gespalten. Vom Dachboden hörte ich leise das »Rosen-Adagio« aus dem Ballett Dornröschen. Selbst wenn ich hundert Jahre alt werden sollte, niemals vergesse ich diese Musik und was ich fühlte, als ich die Augen aufschlug und Chris sah, wie er sich über mich beugte, Wundcreme auftrug und mich verband, während ihm Tränen in den Augen standen. Er hatte die Zwillinge zum Spielen auf den Dachboden geschickt, zum Blumenmalen, Basteln, damit sie irgend etwas taten, was sie von den Vorgängen hier unten ablenkte. Nachdem er mit den bescheidenen Mitteln unserer Badezimmerapotheke alles für mich getan hatte, was er tun konnte, kümmerte ich mich um seinen blutigen Rücken. Keiner von uns trug etwas auf der Haut. Kleidung hätte nur an den Wunden gerieben. Die schlimmsten Verletzungen hatte ich von dem Bürstenstiel, mit dem sie zuletzt so wild auf mich eingeschlagen hatte. Am Kopf hatte ich einen großen Bluterguß, und Chris fürchtete, ich könnte eine Gehirnerschütterung haben.
Als wir uns verarztet hatten, legten wir uns nebeneinander auf die Seite, so daß wir uns ins Gesicht sehen konnten. Unsere Blicke versenkten sich ineinander. Er streichelte mir auf die weichste und liebevollste Art die Wange. »Oh, Bruder, Bruder, macht das Spaß«, sang ich als Parodie eines bekannten Schlagers. »Wir führen das Leben an der Nas’ ... den Doktor spielen, das tust du, und ich verdien’ uns die Miete dazu ...«
»Hör auf!« schrie er gequält auf und sah mich hilflos an. »Ich weiß, daß es meine Schuld war! Ich habe am Fenster gestanden. Sie hätte dich nicht auch schlagen müssen!«
»Das macht nichts, früher oder später wäre sie auf jeden Fall mit der Rute auf mich losgegangen. Vom ersten Tag an hat sie vorgehabt, uns aus irgendeinem albernen Grund blutig zu schlagen. Mich wundert bloß, daß sie so lange mit der Prügelei gewartet hat.«
»Als sie mich schlug, hörte ich dich schreien – und ich mußte dann überhaupt nicht mehr schreien. Du hast für mich geschrien, Cathy, und es hat mir geholfen. Ich habe keine eigenen Schmerzen gespürt, nur deine.«
Vorsichtig nahmen wir einander in die Arme. Unsere nackten Körper rieben sich aneinander, meine Brüste preßten sich gegen Chris’ Rippen. Dann murmelte er meinen Namen, wickelte mir das Tuch vom Kopf und breitete mein langes Haar um mich aus. Er nahm meinen Kopf in seine Hände und hob ihn sanft nahe an seine Lippen. Es war ein so seltsames Gefühl, von ihm geküßt zu werden, während ich nackt in seinen Armen lag ... und es war nicht recht. »Laß es«, flüsterte ich ängstlich, während ich spürte, wie sein Geschlecht hart und groß wurde. »Das ist genau das, was sie von uns denkt.«
Er lachte bitter, bevor er mich losließ und sagte, ich wüßte gar nichts. Woran sie denkt, das sei etwas anderes, als sich ein bißchen zu küssen, und wir hatten uns nie mehr als einen Kuß gegeben, niemals.
»Und werden es auch niemals«, sagte ich, doch nur schwach.
In dieser Nacht schlief ich in Gedanken an seinen Kuß ein und nicht an die Schläge. In uns beiden tobte ein Wirbelsturm von Gefühlen. Etwas, das tief in meinem Inneren geschlafen hatte, war erweckt worden, so wie Dornröschen vom Kuß ihres Prinzen erwacht war – einem langen Kuß zwischen Liebenden.
So endeten alle Märchen – mit einem Kuß und einem »und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende«. Aber für mein »Happy End« mußte es ein anderer Prinz sein.