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Mammis Geschichte

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Nach dem Abgang der Großmutter wußten wir nicht, was wir sagen, was wir tun und wie wir uns fühlen sollten, außer unglücklich und elend. Mein Herz schlug mir bis zum Halse, während ich Mammi dabei zusah, wie sie ihre Bluse wieder überstreifte, zuknöpfte und in den Rock steckte. Dann drehte sie sich um und versuchte uns mit zuckenden Mundwinkeln anzulächeln. Wie arm war ich damals dran, daß ich noch in einem solchen Lächeln den Strohhalm fand, an den man sich als Ertrinkender klammert. Chris blickte zu Boden. Seine qualvolle Ruhelosigkeit zeigte sich in den endlosen Bewegungen seines Schuhs, der unablässig der Linie eines Teppichmusters folgte.

»Nun hört mal zu«, sagte Mammi mit gezwungener Munterkeit, »es waren nur Schläge mit einer dünnen Weidenrute, und es tat gar nicht so weh. Für meinen Stolz war es schlimmer als für meinen Rücken. Es ist so demütigend, wie ein Sklave oder ein Haustier geschlagen zu werden, und auch noch von den eigenen Eltern. Aber ihr braucht nicht zu fürchten, daß es noch einmal zu so etwas kommt, das passiert nie wieder. Doch um die fünfzehn Jahre mit eurem Vater noch einmal erleben zu dürfen, würde ich mich hundertmal so viel schlagen lassen – für die Zeit mit eurem Vater und mit euch. Nur daß sie mir befohlen hat, euch dies zu zeigen, tut mir wirklich weh ...«

Sie setzte sich auf ein Bett und breitete die Arme aus, so daß wir uns an sie kuscheln konnten. Diesmal war ich sehr vorsichtig, mich nicht zu eng an sie zu drücken, um ihr nicht weh zu tun. Sie hob sich die Zwillinge auf den Schoß, und dann begann sie zu erzählen. Was sie zu sagen hatte, fiel ihr schwer, in Worte zu fassen. Und uns fiel es schwer, diese Worte zu hören und zu begreifen.

»Ich möchte, daß ihr mir genau zuhört und euer ganzes Leben lang kein Wort von dem vergeßt, was ich euch heute zu sagen habe.« Sie unterbrach sich und sah zögernd im Zimmer umher. Dabei starrte sie auf die hellen Tapeten der Wände, als seien die Mauern durchsichtig, und sie könne von hier aus in jedes Zimmer dieses gigantischen Hauses sehen. »Dies ist ein eigenartiges Haus, und die Menschen, die in ihm leben, sind noch viel seltsamer – nicht das Personal, aber meine Eltern. Ich hätte euch warnen sollen. Meine Eltern sind sehr religiös, fanatisch religiös. An Gott zu glauben ist eine gute und richtige Sache. Aber wenn man seinen Glauben sich selbst immer wieder durch Bibelworte bestätigt, die man sich für jeden Zweck passend aus dem Alten Testament zusammensucht, dann ist das Heuchelei, und genau so sieht die Religiosität meiner Eltern aus.

Mein Vater liegt im Sterben, o ja. Aber jeden Sonntag bringt man ihn in die Kirche. Entweder in seinem Rollstuhl, wenn er sich gut genug dafür fühlt, oder, wenn es ihm schlechter geht, auf einer Bahre. Er spendet seinen Zehnten – ein Zehntel seines jährlichen Einkommens, eine beträchtliche Summe also. Natürlich ist er deshalb der Gemeinde jederzeit willkommen. Er hat den Bau der Kirche finanziert, er hat die Kirchenfenster aus prachtvollem buntem Glas gekauft, er bestimmt den Pfarrer und was der Pfarrer predigt, denn er will sich seinen Weg in den Himmel mit Gold erkaufen. Und falls der heilige Petrus bestechlich sein sollte, wird mein Vater dort oben bestimmt Einlaß finden. Von der Kirche wird er schon zu Lebzeiten wie ein Gott oder ein wahrer Heiliger behandelt. Und sonntags kommt er dann nach Hause und fühlt sich völlig gerechtfertigt, in allem, was er tut oder je getan hat, weil er seiner Kirchenpflicht gehorcht, seinen Zehnten zahlt und deshalb vor der Hölle sicher ist.« Sie holte tief Luft und fuhr fort.

»Während ich mit meinen beiden älteren Brüdern hier aufwuchs, wurden wir im wahrsten Sinne des Wortes in die Kirche gezwungen. Selbst wenn wir so krank waren, daß der Arzt uns ins Bett schickte, mußten wir in die Kirche gehen. Wir wurden mit Religion vollgestopft bis zum Erbrechen. Tu Gutes, tu Gutes, tu Gutes – das hörten wir von morgens bis abends. Jeden Tag erfuhren wir, daß die normalen Vergnügungen anderer Menschen für uns Sünde waren. Meine Brüder und ich durften nicht schwimmen gehen, denn dann hätten wir auf sündige Weise in Badeanzügen unsere Körper entblößt. Kartenspiel und viele andere Spiele waren uns verboten, weil sie das Glücksspiel und das Wetten förderten. Wir durften nicht tanzen gehen, denn dabei hätten unsere reinen Körper in zu engen Kontakt mit Körpern des anderen Geschlechts kommen können. Wir wurden ständig angewiesen, unsere Gedanken unter Kontrolle zu halten, damit sie sich nicht lüsternen, sündigen Vorstellungen zuwandten, denn sie sagten uns, daß der schlechte Gedanke so schlimm sei wie die schlechte Tat. Oh, ich könnte noch lange fortfahren, alles aufzuzählen, was uns verboten war – es schien, daß für unsere Eltern alles, was Spaß machte und Freude bereitete, sündig und verdorben war. Und in der Jugend steckt in uns etwas, das rebelliert, wenn man das Leben zu streng diszipliniert. Wir wollten genau die Dinge unbedingt tun, die uns immer vorenthalten wurden. Unsere Eltern wollten aus uns Engel auf Erden oder Heilige machen, statt dessen wurden wir nur schlimmer, als normale Kinder gewesen wären.«

Meine Augen wurden groß. Gebannt hing ich an Mammis Lippen. Wir alle waren gebannt, selbst die Zwillinge.

»Eines Tages«, erzählte unsere Mutter weiter, »kam ein wunderschöner junger Mann, um bei uns zu wohnen. Sein Vater war mein Großvater, der starb, als dieser junge Mann gerade drei Jahre alt war. Seine Mutter trug den Namen Alicia, und sie hatte meinen Großvater mit sechzehn Jahren geheiratet, als dieser bereits fünfundfünfzig Jahre alt war. Als sie dann den Jungen zur Welt brachte, hätte sie eigentlich lange mit ihm Zusammenleben können, aber unglücklicherweise starb sie sehr jung. Mein Großvater hieß Garland Christopher Foxworth, und als er starb, hätte die Hälfte seines Vermögens an seinen jüngsten Sohn fallen sollen, der damals erst drei Jahre alt war. Aber Malcolm, mein Vater, verschaffte sich die Kontrolle über den Besitz seines Vaters, indem er sich zum Vermögensverwalter ernennen ließ, denn ein Dreijähriger konnte das natürlich nicht selbst übernehmen, und Alicia hatte in dieser Sache nichts zu sagen. Nachdem mein Vater erst einmal den ganzen Besitz in seine Gewalt gebracht hatte, warf er Alicia mit ihrem kleinen Sohn einfach raus. Sie gingen zurück nach Richmond, zu Alicias Eltern, und dort lebte sie, bis sie zum zweitenmal heiratete. Sie hatte ein paar wirklich glückliche Jahre mit einem jungen Mann, den sie seit ihrer Kindheit liebte, und dann starb auch der. Zweimal verheiratet und zweimal verwitwet, ihre eigenen Eltern inzwischen auch tot, stand sie ganz allein mit ihrem Sohn da. Eines Tages entdeckte sie einen Knoten in ihrer Brust, und ein paar Jahre später starb sie an Krebs. So kam ihr Sohn, Garland Christopher Foxworth der Vierte, schließlich hierher, um bei uns zu leben. Wir nannten ihn niemals anders als Chris.« Sie zögerte und drückte uns mit ihren um unsere Schultern gelegten Armen enger an sich. »Wißt ihr, von wem ich da erzähle? Könnt ihr euch schon denken, wer dieser junge Mann war?«

Ich spürte eine Gänsehaut. Das war also der geheimnisvolle Halbonkel. Und ich flüsterte: »Daddy ... du redest von Daddy.«

»Ja«, sagte sie und seufzte schwer.

Ich beugte mich vor, weil ich das Gesicht meines älteren Bruders sehen wollte. Er saß so still da, mit dem merkwürdigsten Ausdruck im Gesicht und Augen aus Glas. Was mochte hinter seiner Stirn vorgehen?

Mammi sprach weiter: »Euer Vater war mein Halbonkel, aber er war nur drei Jahre älter als ich. Ich erinnere mich genau, wie ich ihn das erstemal gesehen habe. Ich wußte, daß er kommen würde, dieser junge Halbonkel, von dem ich nie viel gehört oder gesehen hatte, und ich wollte einen guten Eindruck machen. Deshalb bereitete ich mich den ganzen Tag vor, drehte mir die Haare auf, badete und zog mein hübschestes und beeindruckendstes Kleid an. Ich war damals vierzehn Jahre alt – und in diesem Alter fängt ein Mädchen an, etwas von seiner Macht über die Männer zu spüren. Und ich wußte, daß ich von den meisten Männern und Jungen für eine Schönheit gehalten wurde. Ich glaube, auf eine bestimmte Art war ich zu dieser Zeit damals einfach reif, mich zu verlieben.

Euer Vater war siebzehn. Es war spät im Frühling, und er stand unten mitten in der Halle mit zwei Koffern, die er neben seinen schäbigen Schuhen abgesetzt hatte – seine Kleider sahen recht abgetragen aus und zu klein geworden. Meine Mutter und mein Vater standen bei ihm, aber er drehte sich nach allen Seiten und starrte alles an, verblüfft von dem Reichtum, der da zur Schau gestellt wurde. Ich selbst hatte nie darauf geachtet, wie wertvoll bei uns alles eingerichtet war. Ich akzeptierte meine Umgebung einfach so, wie sie war, ein Teil meines späteren Erbes, und bevor ich heiratete und ein Leben ohne Reichtümer zu führen begann, hatte ich kaum ein Bewußtsein davon, in was für einem außergewöhnlichen Haus ich aufgewachsen war.

Ihr müßt wissen, mein Vater ist ein ›Sammler‹. Er kauft alles, was als einzigartiges Kunstwerk gelten kann – nicht weil er die Kunst liebt, sondern weil er es liebt, etwas Wertvolles zu besitzen. Er würde gerne alles besitzen, wenn das möglich wäre, und besonders alle schönen Dinge. Es kam mir immer so vor, als sei ich auch ein Stück aus seiner Sammlung von Kunstgegenständen ... und er wolle mich nur für sich alleine haben, nicht aus Freude an mir, sondern damit andere keine Freude an etwas hatten, das ihm gehörte.«

Meine Mutter erzählte mit erröteten Wangen, den Blick ins Leere gerichtet, als schaue sie zurück auf jenen besonderen Tag, an dem ein junger Halbonkel in ihr Leben trat und es so veränderte.

»Euer Vater kam so unschuldig zu uns, so vertrauensvoll und so ... lieb. Er war so verwundbar, denn er hatte bisher nur ehrliche Zuneigung und wahre Liebe und natürlich viel bescheidenere Lebensumstände erlebt. Aus einem Haus auf dem Lande mit vier Zimmern kam er in dieses riesige, reiche Haus, und er dachte, er hätte sein Glück gemacht und sei im Himmel auf Erden gelandet. Er sah meinen Vater und meine Mutter mit tiefer Dankbarkeit an. Ah! Es tut mir immer noch weh, daran zu denken, wie ahnungslos diese Dankbarkeit tatsächlich war. Denn die Hälfte aller Reichtümer, die er sich gerade ansah, hätte eigentlich ihm gehören müssen. Meine Eltern taten ihr Bestes, ihn deutlich spüren zu lassen, daß er nur der ›arme Verwandte‹ war.

Ich sah ihn dort in einem Sonnenstrahl stehen, der durch die hohen Fenster der Halle fiel, und ich blieb auf halber Höhe der Treppe stehen. Sein goldenes Haar hatte eine Aura von silbernem Glanz in diesem Licht. Er war schön, nicht einfach nur gutaussehend, nein, ein wirklich schöner Mann – es gibt da einen Unterschied, wißt ihr. Wahre Schönheit strahlt aus dem Inneren eines Menschen nach außen, und er besaß sie.

Ich machte ein leises Geräusch, das ihn den Kopf heben ließ, und seine blauen Augen leuchteten auf – oh, wie ich mich an diesen Blick erinnern kann. Und dann, als wir einander vorgestellt wurden, erlosch das Leuchten in seinen Augen wieder, denn er war enttäuscht. Ich stellte mich als seine Halbnichte heraus und damit völlig tabu für ihn. Aber an diesem Tag war der Funke zwischen uns beiden übergesprungen, und dieser Funke wurde zu einer immer heller brennenden Flamme, bis wir unsere Gefühle füreinander nicht länger verleugnen konnten.

Ich will euch nicht in Verlegenheit bringen, indem ich unsere Liebesgeschichte jetzt in allen Einzelheiten erzähle«, sagte sie, als sie merkte, wie Chris zur Seite sah und ich unruhig auf dem Bett umherrutschte. »Lassen wir es damit bewenden, daß es bei uns Liebe auf den ersten Blick war. So etwas gibt es hin und wieder tatsächlich. Vielleicht brauchte auch euer Vater damals gerade Liebe und Zuneigung besonders, denn er fühlte sich sehr allein, und mir ging es genauso, denn meine beiden älteren Brüder waren zu diesem Zeitpunkt bereits tödlich verunglückt. Freunde hatte ich nur sehr wenige, denn niemand war gut genug für die Tochter eines Malcolm Foxworth. Ich war sein liebstes Stück, sein kostbarster Besitz. Wenn mich jemals ein Mann von ihm fortnehmen sollte, dann würde er dafür sehr, sehr viel bezahlen müssen. Euer Vater und ich trafen uns deshalb heimlich irgendwo im Garten, zunächst nur, um stundenlang miteinander zu reden und uns von unseren Problemen und Ängsten zu erzählen. Bald gestanden wir uns dann aber unsere Liebe, und wir wollten heiraten. Ob das nun gut oder schlecht sein mochte, war uns egal. Und wir wußten, daß wir so bald wie möglich aus diesem Haus entkommen mußten, aus der Herrschaft meiner Eltern, bevor es ihnen gelang, uns zu ihren Ebenbildern zu formen – denn genau das hatten sie mit uns vor, auch mit ihm. Wißt ihr, sie wollten aus eurem Vater einen anderen Menschen machen und ihn so dafür zahlen lassen, daß seine Mutter die verabscheute Ehe mit dem alten Foxworth eingegangen war. Sie haben ihm alles gegeben, materielle Dinge jedenfalls, das muß ich zugeben. Sie behandelten ihn wie ihren eigenen Sohn, denn er mußte ihnen die beiden toten Söhne ersetzen. Sie schickten ihn nach Yale auf die Universität, und er erwies sich als brillanter Student. Du hast deine Intelligenz von ihm, Christopher. Er hatte schon nach drei Jahren seinen Abschluß – aber er konnte später nie sein Diplom vorzeigen, weil sein richtiger Name darauf stand, den wir vor der Welt verbergen mußten. Es war besonders hart für uns in den ersten Jahren unserer Ehe, daß er seine ganze brillante College-Erziehung verleugnen mußte.«

Sie machte eine Pause. Nachdenklich blickte sie erst Chris, dann mich an. Sie drückte die Zwillinge fest und küßte sie auf ihr helles Haar; ein Stirnrunzeln erschien über ihren traurigen Augen. »Cathy, Christopher, ihr seid diejenigen, von denen ich erwarte, daß sie mich verstehen können. Die Zwillinge sind noch zu klein. Ihr versucht doch zu verstehen, wie es damals mit mir und eurem Vater war?«

Ja, ja, nickten Chris und ich.

Sie hatte in meiner Sprache gesprochen, der Sprache der Musik und des Balletts, Romantik, und Liebe, und schöne Gesichter an wunderbaren, versteckten Treffpunkten. Eine Märchenromanze, die Wirklichkeit war!

Liebe auf den ersten Blick. Oh, das sollte mir auch passieren, ich wußte, daß es mir so gehen würde und er so schön wie Daddy sein würde, die Schönheit von innen ausstrahlend, mein Herz betörend. Man mußte Liebe finden im Leben, oder man würde dahinwelken und verdorrt sterben.

»Hört jetzt aufmerksam zu«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, und ihre Worte erhielten so besonderes Gewicht. »Ich bin hier in diesem Haus, um zu tun, was ich kann, damit mein Vater mich wieder so gern hat wie früher und mir verzeiht, daß ich seinen Halbbruder geheiratet habe. Seht ihr, sobald ich achtzehn wurde, liefen euer Vater und ich davon, und zwei Wochen später kehrten wir zurück und beichteten unseren Eltern alles. Mein Vater schlug euren Daddy mit der bloßen Faust nieder. Er tobte, er war außer sich und warf uns beide aus dem Haus. Er schrie, wir dürften uns nie wieder hier blicken lassen, niemals! Und deshalb wurde ich enterbt – und euer Vater natürlich auch, denn ich glaube doch, daß mein Vater ihm etwas hinterlassen wollte, nicht viel, aber ein bißchen schon. Der Großteil des Familienvermögens sollte an mich fallen, denn meine Mutter hatte eigenen Besitz. Dieses Geld, das sie von ihren Eltern geerbt hatte – und das ist typisch für die Foxworths –, war der Hauptgrund dafür, daß mein Vater sie heiratete, auch wenn man sie in ihrer Jugend eine hübsche Frau nannte, keine große Schönheit, aber auf eine elegante, aristokratische Art das, was man gutaussehend nennt.«

Nein, sagte ich bitter im stillen ... diese alte Frau mußte schon häßlich geboren worden sein!

»Ich werde alles versuchen, was ich kann, damit mein Vater wieder Gefallen an mir findet und mir meine Heirat mit seinem Adoptivsohn vergibt. Und um dieses Ziel zu erreichen, muß ich die Rolle der getreuen, demütigen und schwer gestraften Tochter spielen. Und manchmal geht es einem so, wenn man eine Rolle spielt, daß man deren Charakter auch in Wirklichkeit annimmt. Man wird so, wie man eigentlich nur vorgeben wollte zu sein. Deshalb will ich euch heute alles erzählen, solange ich noch die alte bin. Deshalb versuche ich heute, mit euch so ehrlich zu sein, wie man nur sein kann. Ich gebe zu, daß ich keinen starken Willen habe und auch nicht viel Eigeninitiative. Ich war nur stark, solange mir euer Vater den Rücken stärkte. Und jetzt habe ich ihn nicht mehr. Und unten, die Treppe hinunter, auf dem ersten Stock in einem kleinen Zimmer hinter der riesigen Bibliothek ist ein Mann, wie ihr es noch nie mit einem zu tun hattet. Ihr habt meine Mutter erlebt und wißt ein wenig, wie sie ist, aber meinen Vater habt ihr noch nicht kennengelernt. Und ich will auch nicht, daß er euch sieht, bevor er mir vergeben hat und die Tatsache akzeptiert, daß aus meiner Ehe vier Kinder hervorgegangen sind, Kinder seines jüngeren Halbbruders. Das wird ihm nicht leichtfallen. Aber ich denke auch, daß es ihm nicht zu schwerfallen dürfte, mir zu verzeihen, denn euer Vater ist ja nun tot, und irgendwann hört man auf, die Toten zu hassen.«

Ich wußte nicht, warum ich plötzlich solche Angst bekam.

»Um zu erreichen, daß mein Vater mich wieder in sein Testament aufnimmt, werde ich gezwungen sein, alles zu tun, was er von mir verlangt.«

»Was könnte er mehr von dir verlangen, als daß du ihm Gehorsam und Respekt beweist?« fragte Chris auf eine so düstere und erwachsene Weise, als verstünde er das alles voll und ganz.

Mammi sah ihn lange an, voller Zuneigung, und strich ihm liebevoll über das besorgte Jungengesicht. Er war ohne Zweifel eine kleine Ausgabe ihres Mannes, den sie vor so kurzer Zeit hatte beerdigen müssen. Kein Wunder, daß ihr die Tränen in die Augen traten.

»Ich weiß nicht, was er von mir verlangen wird, lieber Schatz, aber was immer es sein wird, ich werde es tun. Irgendwie muß ich ihn dazu bekommen, mich wieder in die Erbfolge einzusetzen. Aber jetzt laßt uns das alles schnell vergessen. Ich habe eure Gesichter gesehen, während ich euch davon erzählt habe. Ich will nicht, daß ihr nur einen Moment das Gefühl habt, was meine Mutter sagte, könnte wahr sein. Was euer Vater und ich getan haben, war nicht unmoralisch. Wir wurden in der Kirche getraut, wie es sich gehört, wie jedes andere junge Paar auch. Es gab nichts ›Gottloses‹ an unserer Verbindung. Ihr seid keine Satansbrut oder böse – euer Vater hätte das ›dummes Geschwätz‹ genannt. Meine Mutter will, daß ihr selbst schlecht von euch denkt, weil sie mich damit strafen kann und euch dazu. Die Menschen stellen die Regeln einer Gesellschaft auf, nicht Gott. In einigen Gegenden der Erde heiraten enge Verwandte und haben Kinder, und alle dort halten das für völlig in Ordnung. Ich will damit nicht rechtfertigen, was wir getan haben, denn man muß sich natürlich nach den Moralvorstellungen der Gesellschaft richten, in der man selbst lebt. Unsere Gesellschaft glaubt, daß nahe Verwandte nicht heiraten dürfen, weil aus so einer Ehe Kinder hervorgehen können, die geistig und körperlich nicht ... nicht ganz in Ordnung sind.«

Dann drückte sie uns halb lachend, halb weinend an sich. »Euer Großvater hat uns prophezeit, daß unsere Kinder mit Hörnern zur Welt kommen würden, mit Buckeln, mit Quastenschwänzen und Pferdefüßen – er führte sich auf wie ein Verrückter, versuchte uns zu verfluchen und aus unseren Kindern deformierte Monster zu machen, weil er uns alles Böse an den Hals wünschte! Und ist irgendeine von seinen bösen Prophezeiungen eingetreten?« rief sie laut, fast außer sich. »Nein!« beantwortete sie ihre eigene Frage. »Euer Vater und ich waren jedesmal in großer Sorge, solange ich schwanger war. Er rannte immer stundenlang in den Krankenhauskorridoren auf und ab. Und nach jeder Geburt wollte er sofort sein neues Kind sehen. Er hat die Schwestern und die Hebammen halb verrückt gemacht. Alle wart ihr prächtige, gesunde Kinder vom ersten Augenblick an. Er war so furchtbar stolz auf euch. Vier völlig gesunde Kinder. Wenn Gott uns wirklich hätte strafen wollen, hätte es vier Gelegenheiten gegeben, uns mit verkrüppelten oder schwachsinnigen Kindern zu strafen. Statt dessen gab Gott uns die besten und schönsten Kinder der Welt. Deshalb laßt euch niemals von eurer Großmutter oder irgend jemand sonst einreden, daß ihr weniger wert oder begabt oder von Gott begnadet seid als andere. Wenn es eine Sünde gegeben hat, dann war das die Sünde eurer Eltern, nicht eure. Ihr seid noch immer dieselben Kinder, die von all unseren Freunden in Gladstone bewundert und die Meißners genannt wurden. Glaubt weiter an euch selbst und an mich und an euren Vater. Auch wenn er jetzt tot ist, müßt ihr ihn weiter respektieren und lieben. Er verdient es. Er hat sich immer so sehr bemüht, euch ein guter Vater zu sein. Ich glaube nicht, daß es viele Männer gibt, die sich so um ihre Familie gekümmert haben wie er.« Sie lächelte unter Tränen. »Kommt, sagt mir, wer ihr seid?«

»Die Meißners, Daddys Meißners!« riefen Chris und ich wie aus einem Munde.

»Also werdet ihr doch nie glauben, was die Großmutter über euch gesagt hat, daß ihr eine Satansbrut seid?«

Nein! Nie, nie!

Und doch, tief in meinem Innern spürte ich, daß ich über einen Teil von dem, was ich von den beiden Frauen über uns gehört hatte, noch lange und mit schwerem Herzen brüten würde. Ich wollte gerne glauben, daß Gott seine Freude an uns hatte und ihm gefiel, wer und was wir waren. Ich mußte es glauben, brauchte diesen Glauben so dringend. Los, befahl ich mir, sag ja, genau wie es Christopher tut. Sei nicht wie die Zwillinge, die Mammi nur mit ihren großen Kinderaugen anstarren, ohne etwas zu verstehen. Sei nicht so mißtrauisch – nein!

Chris stimmte mit fester Stimme den überzeugendsten Tonfall an, den man sich bei einem Jungen seines Alters vorstellen konnte. »Ja, Mammi, ich glaube dir, was du uns erzählt hast, denn wenn Gott wirklich nicht mit eurer Ehe einverstanden gewesen wäre, dann hätte er dich und Daddy durch eure Kinder bestraft. Ich glaube, daß Gott nicht so kleinlich und nachtragend ist wie unsere Großeltern. Wie kann diese alte Frau so schlecht von uns sprechen, wenn sie Augen hat, mit denen sie sehen muß, daß wir nicht häßlich sind, nicht mißgestaltet und bestimmt nicht geistig zurückgeblieben?«

Tränen der Erleichterung flossen wie ein über die Dämme getretener Fluß in dicken Strömen über Mammis Gesicht. Sie zog Chris an ihre Brust und küßte ihn mehrmals auf die Stirn. Dann nahm sie sein Gesicht in die Hände, sah ihm tief in die Augen und vergaß uns. »Ich danke dir, Sohn, für dein Verständnis«, sagte sie mit einem heiseren Flüstern. »Vielen Dank dafür, daß du deine Eltern nicht verurteilst für das, was sie getan haben.«

»Ich liebe dich, Mammi. Was du auch getan hast oder tun wirst, ich werde es immer verstehen.«

»Ja«, murmelte sie, »das wirst du. Ich weiß, du wirst das immer.« Unsicher sah sie zu mir hinüber. Ich hatte mich ein wenig von ihr zurückgezogen, versuchte das Gehörte zu verarbeiten und abzuwägen, ja, auch über sie zu einem Urteil zu kommen. »Die Liebe kommt nicht immer nur dann, wenn man sie sich wünscht. Manchmal verliebt man sich einfach, auch ganz gegen den eigenen Willen.« Sie senkte den Kopf, griff nach den Händen meines Bruders und klammerte sich an sie. »Mein Vater himmelte mich an, als ich jung war. Er wollte mich immer nur für sich selbst haben. Ich erinnere mich daran, wie er, als ich gerade zwölf war, zu mir sagte, er würde mir sein ganzes Vermögen vermachen, wenn ich nur bis zu seinem Tod bei ihm bleiben würde.«

Plötzlich riß sie den Kopf hoch und sah mir direkt in die Augen. Sah sie etwas Fragendes darin, etwas Zweifelndes? Ihre Augen verdunkelten sich, wurden tief und schattig. »Nehmt euch an den Händen«, befahl sie entschlossen, reckte die Schultern und ließ eine von Chris’ Händen los. »Ich will, daß ihr mir das Folgende nachsprecht: Wir sind perfekte Kinder. Unser Verstand, unser Körper, unsere Gefühle sind so gesund und gottgefällig, wie es Menschen nur sein können. Wir haben soviel Recht zu leben wie jedes andere Kind auf dieser Erde.«

Sie lächelte mich an und griff nach meiner Hand. Auch Carrie und Cory mußten sich in den Familienkreis einreihen, was ihnen zu gefallen schien. »Hier oben werdet ihr ein paar kleine Rituale benötigen, damit ihr besser durch den Tag kommt, kleine Trittsteine. Ich möchte euch welche geben, an die ihr euch halten könnt, wenn ich nicht bei euch bin. Cathy, wenn ich dich ansehe, dann habe ich mich selbst vor Augen, wie ich in deinem Alter war. Hab mich lieb, Cathy, hab Vertrauen, ich bitte dich.«

Uns an den Händen haltend, sprachen wir ihr diese Sätze nach, die von nun an unsere Litanei werden sollten gegen jeden Zweifel, falls einmal welcher in uns aufsteigen sollte. Und nachdem wir geendet hatten, lächelte Mammi uns zustimmend und aufmunternd zu.

»So!« rief sie in wesentlich besserer Stimmung, die ihrer Stimme deutlich anzuhören war. »Ihr braucht nicht zu denken, daß ich nicht den ganzen Tag über an euch gedacht habe. Ich habe viel nachgedacht, besonders über unsere Zukunft, und ich bin zu dem Entschluß gekommen, daß wir hier unter der Herrschaft von meinem Vater und meiner Mutter nicht lange leben können. Meine Mutter ist eine grausame, herzlose Frau, die mich wie zufällig zur Welt gebracht hat, ohne dabei jemals Liebe für mich aufgebracht zu haben – alles, was sie an Liebe aufbringen konnte, gab sie ihren beiden Söhnen. Nachdem ich ihren Brief bekam, war ich so dumm anzunehmen, sie würde mich heute anders behandeln als früher. Ich dachte, inzwischen müßte das Alter sie ein wenig sanfter gemacht haben, und wenn sie euch erst einmal kennengelernt hätte, würde sie euch wie jede normale Großmutter als Enkel in ihre Arme nehmen, vielleicht sogar als Ersatz für ihre verlorenen Söhne. Wenn sie euch nur erst ins Gesicht gesehen hätte, hoffte ich ...« Sie schluckte und war fast wieder den Tränen nahe, als könne kein normaler Mensch etwas anderes als Liebe und Bewunderung für ihre Kinder empfinden. »Ich verstehe schon, daß sie Christopher nicht mag« – dabei drückte sie ihn wieder fest und küßte ihn auf die Wange – »denn er sieht seinem Vater so ähnlich. Und ich glaube, wenn sie dich ansieht, Cathy, dann erkennt sie mich in dir wieder, und mich hat sie immer abgelehnt – ich weiß gar nicht, warum, außer vielleicht, weil mein Vater mich so gern sah und sie das eifersüchtig machte. Aber es wäre mir nie in den Sinn gekommen, daß sie grausam zu euch oder meinen kleinen Zwillingen sein könnte. Ich habe mir vorgemacht, daß Menschen sich ändern, wenn sie älter werden, daß das Alter ihnen Reife und Verständnis gibt. Jetzt weiß ich, wie falsch diese Vorstellung ist.« Sie wischte sich die Tränen von den Wangen.

»Deshalb werde ich morgen in aller Frühe in die nächste größere Stadt fahren und mich dort bei einer Handelsschule einschreiben, um eine Ausbildung als Sekretärin anzufangen. Ich werde lernen, Schreibmaschine zu schreiben, Stenographie, ein wenig Betriebswirtschaft – alles, was eine gute Sekretärin beherrschen muß. Wenn ich mit der Ausbildung fertig bin, werde ich mir einen guten Job suchen können, der mir ein angemessenes Gehalt einbringt. Und dann habe ich wieder genug Geld, um euch alle hier aus diesem Zimmer rauszuholen. Wir werden uns irgendwo hier in der Nähe ein Apartment suchen, so daß ich meinen Vater weiter besuchen kann. Bald werden wir wieder wie früher Zusammenleben, unter unserem eigenen Dach, und wieder eine richtige, glückliche Familie sein.«

»O Mammi!« rief Chris glücklich. »Ich wußte, daß du einen Weg finden würdest! Ich wußte, daß du uns nicht hier in diesem Zimmer eingeschlossen versauern läßt!« Er beugte sich vor und warf mir einen schnellen Blick voll tiefster Befriedigung zu, als hätte er schon die ganze Zeit gewußt, daß seine geliebte Mutter alle Probleme lösen würde, wie kompliziert sie auch sein mochten.

»Vertraut mir«, sagte Mammi, lächelnd und wieder voller Zuversicht. Noch einmal küßte sie Chris.

Ich wünschte mir, ich könnte auch so sein wie mein Bruder Chris und alles, was sie sagte, für einen heiligen Eid nehmen. Aber meine verräterischen Gedanken huschten immer wieder zurück zu ihren Worten, sie hätte keinen starken Willen und nicht viel Eigeninitiative, ohne daß Daddy da sei, um ihr den Rücken zu stählen. Fast unbeabsichtigt rutschte mir die Frage von den Lippen: »Wie lange dauert es denn wohl, bis man eine gute Sekretärin ist, Mammi?«

Schnell – zu schnell, fand ich – kam ihre Antwort: »Nur eine kleine Weile, Cathy. Einen Monat vielleicht. Aber falls es doch ein bißchen länger dauern sollte, dürft ihr nicht ungeduldig werden. Ich bin nicht sehr schnell, was das Lernen von solchen Dingen angeht. Dafür kann ich nicht. Das ist nicht mein Fehler.« Sie sagte das so schnell, als hätte ich ihr genau diesen Vorwurf gemacht.

»Wenn man als Kind reicher Eltern zur Welt kommt, wird man in Privatschulen erzogen, die eigens für die Töchter der Reichen und Mächtigen eingerichtet sind. Man bekommt dort gutes Benehmen beigebracht, vornehme Etikette, ein bißchen akademisches Zeugs, damit man sich gebildet unterhalten kann, aber in erster Linie lernt man, was man für den Debütantenball braucht und wie man eine perfekte Gastgeberin ist. Ich habe nie irgend etwas Praktisches beigebracht bekommen. Ich hätte auch nie für möglich gehalten, daß ich einmal so etwas wie einen Beruf brauchen würde. Ich dachte, mein Mann würde später für mich sorgen, und wenn es keinen Mann gab, dann würde mein Vater dasein. Außerdem war ich ja schon früh in euren Vater verliebt und wußte genau, daß ich mit achtzehn sofort seine Frau werden wollte.«

Ich lernte in diesem Augenblick eine sehr gute Lektion von ihr, die ich mein Leben lang nicht mehr vergaß. Niemals würde ich zulassen, daß ich von einem Mann so abhängig wurde wie sie und nicht allein meinen Weg im Leben finden konnte, egal, wie schwer dieses Leben für mich werden würde! Aber bei alledem fühlte ich mich schlecht, verrückt, beschämt, schuldbewußt; wußte ich doch, daß die Schuld an der ganzen Misere allein meine Mutter zu tragen hatte. Aber sie konnte ja nicht ahnen, was noch vor uns lag!

»Ich gehe jetzt«, sagte sie und stand auf. Die Zwillinge brachen in Tränen aus.

»Mammi, geh nicht weg. Bleib bei uns!« Sie schlangen ihre kleinen Arme um die Beine der geliebten Mammi.

»Ich komme morgen ganz früh wieder, bevor ich zu dieser Handelsschule fahre. Wirklich, Cathy«, sagte sie und warf mir einen flehenden Blick zu, »ich verspreche, daß ich mein Bestes tun werde. Ich möchte euch genausosehr hier wieder wegbekommen, wie ihr selber hier raus wollt.«

In der Tür sagte sie dann noch, daß es gut für uns gewesen sei, ihren Rücken gesehen zu haben, denn nun wüßten wir, wie grausam ihre Mutter sein könnte. »Haltet euch in Gottes Namen strikt an ihre Regeln. Seid anständig im Badezimmer. Denkt daran, daß sie nicht nur zu mir so grausam ist.« Sie streckte uns die Arme entgegen, und wir liefen noch einmal alle zu ihr. Ihren zerschundenen Rücken vergaßen wir diesmal ganz. »Ich liebe euch alle so sehr«, schluchzte sie. »Verlaßt euch auf diese Liebe. Ich werde mich mehr anstrengen als jemals zuvor. Ich schwöre es. Ich fühle mich genauso hier gefangen wie ihr. Geht heute nacht mit frohen Gedanken ins Bett. Nichts ist so schlimm, wie es im ersten Moment aussieht. Ihr wißt doch, wie lieb ich bin, und mein Vater hat mich früher sehr gern gehabt. Das muß es doch leicht für ihn machen, mich bald wieder zu mögen, nicht wahr?«

Sicher, sicher, das mußte es. Etwas einmal sehr geliebt zu haben machte einen verwundbar für den nächsten Liebesanfall. Ich wußte das; ich war schon sechsmal verliebt gewesen.

»Und während ihr hier in euren Betten liegt, allein und in einem fremden Haus, denkt daran, daß ich euch morgen, nachdem ich mich für die Schule angemeldet habe, Spielsachen und Spiele und Bücher kaufe, mit denen ihr euch stundenlang beschäftigen könnt. Und dann dauert es nicht mehr lange, bis mein Vater mich wieder liebhat und mir alles verzeiht.«

»Mammi«, sagte ich, »hast du denn genug Geld, um Sachen für uns zu kaufen?«

»O ja«, antwortete sie schnell. »Ich habe genug, denn mein Vater und meine Mutter sind stolze Leute. Sie würden nie zulassen, daß ihre Nachbarn und ihre Freunde finden könnten, es fehlte mir an irgend etwas. Sie werden mich gut versorgen, und sie werden auch euch versorgen. Ihr werdet sehen. Und jedes bißchen freie Zeit und jeden Dollar, den ich übrig habe, werde ich darauf verwenden, daß wir so schnell wie irgend möglich zu unserem eigenen Heim kommen, wo wir wieder wie früher als Familie Zusammenleben können.«

Das waren ihre Abschiedsworte. Sie warf uns noch ein paar Küsse zu, dann schloß sie die Tür hinter sich ab.

Unsere zweite Nacht hinter einer verschlossenen Tür.

Nun wußten wir soviel mehr ... zu viel vielleicht.

Chris und ich gingen sofort zu Bett, nachdem unsere Mutter uns wieder verlassen hatte. Er grinste zu mir herüber, als er sich seinen Platz neben Cory suchte, der bereits fest schlief. Auch Chris sah schon recht schläfrig aus. Er schloß die Augen und murmelte: »Gute Nacht, Cathy. Laß dich nicht von den Foxworth-Wanzen beißen.«

Wie Christopher kuschelte ich mich auf der anderen Seite des Zimmers an Carrie, nahm sie in den Arm und senkte mein Gesicht sanft in ihr süßes, weiches Haar.

Aber ich fand keine Ruhe. Schon bald lag ich allein auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit. Ich spürte das große Schweigen dieses riesigen Hauses, das sich jetzt schlafen zu legen schien. Kein noch so schwaches fernes Geräusch war mehr zu vernehmen; kein Klingeln eines Telefons; kein Motor eines Küchengerätes, der sich automatisch einschaltete; kein Rumoren einer Heizung; nicht einmal ein Hund bellte draußen, und kein Auto kam vorbei, dessen Scheinwerfer vielleicht einen Hoffnungsstrahl durch die schweren Vorhänge hätten senden können.

Böse, kleine Gedanken schlichen sich in mein Bewußtsein, sagten mir, daß uns niemand haben wollte, daß wir von der Welt abgeschlossen werden mußten ... Satansbrut. Die Gedanken versuchten sich in meinem Kopf einzunisten, wollten, daß ich mich elend fühlte. Ich mußte einen Weg finden, sie zu vertreiben. Mammi, sie liebte uns, sie wollte uns bei sich haben, sie würde sich alle Mühe geben, bald als Sekretärin so viel Geld zu verdienen, wie wir brauchten. Das würde sie. Ich wußte es. Sie würde sich nicht von den Großeltern dazu zwingen lassen, uns aufzugeben und zu vergessen. Nein, sie würde uns nie im Stich lassen, nie.

Lieber Gott, betete ich, hilf Mammi, damit sie schnell lernt, wie man eine gute Sekretärin wird.

Es war furchtbar heiß und stickig in unserem Zimmer. Draußen hörte ich den Wind in den Zweigen der Bäume rascheln, aber es war zuwenig Wind, als daß wir hier drinnen etwas von ihm gespürt hätten, nur gerade genug, damit wir uns vorstellen konnten, wie wunderbar kühl es draußen wohl war. Und wie herrlich es sein würde, wenn wir nur ein Fenster weit öffnen könnten. Ich seufzte traurig und sehnte mich nach frischer Luft. Hatte Mammi uns nicht erzählt, daß die Nächte hier in den Bergen selbst im Sommer immer kühl waren? Es war Sommer, aber kühl war es ganz und gar nicht.

Durch die Dunkelheit hörte ich Chris meinen Namen flüstern. »Woran denkst du?«

»An den Wind draußen. Er hört sich an wie ein Wolf.«

»Dachte ich mir doch, daß du an irgendwas besonders Hübsches denkst. Puh, du bist genau das, was man sich bei düsteren Gedanken zur Aufheiterung wünscht.«

»Ich hab’ noch was Schönes auf Lager – da ist ein Flüstern im Wind wie von toten Seelen, die uns etwas zuraunen wollen.«

Er stöhnte leise. »Jetzt hör mal zu, Catherine Doll (das war der Bühnenname, den ich später einmal benutzen wollte), ich befehl’ dir jetzt einfach, nicht mehr dazuliegen und solche Dinge zu denken. Wir werden jede Stunde, die wir hier verbringen müssen, nehmen, wie sie kommt, und uns niemals Gedanken über die nächste machen. Auf diese Weise haben wir es viel leichter, als wenn wir ständig an Tage und Wochen und Monate denken und uns vor der Zukunft fürchten. Denk an Musik, an Tanzen, an Singen. Hast du mir nicht mal erzählt, du könntest dich nie traurig fühlen, solange du dir Musik vorstellen kannst, so daß du sie in deinen Gedanken laut hörst?«

»Woran willst du denn denken?«

»Wenn ich nicht schon so müde wäre, würde ich mir bestimmt noch zehn Bände voll Gedanken machen, aber so bin ich einfach zu müde, mir eine Antwort einfallen zu lassen. Solange ich einschlafe, denke ich an die Spiele, für die wir morgen viel Zeit haben werden.« Er gähnte und streckte sich aus. Ich hörte das Bett knarren.

»Was denkst du von all dem Gerede über Halbonkel, die Halbnichten heiraten und deshalb Kinder mit Pferdefüßen, Schwänzen und Hörnern bekommen?« Ich versuchte, in der Dunkelheit sein Gesicht zu erkennen. »Als zukünftiger Arzt und Wissenschaftler, ist so was medizinisch überhaupt möglich?«

»So was ist völliger Unsinn!« antwortete er, als wäre er eine absolute Kapazität für solche Fragen. »Wenn es wirklich so wäre, liefen überall jede Menge Teufel in der Welt herum, und die möchte ich erst mal sehen.«

»Ich sehe sie die ganze Zeit – in meinen Träumen.«

»Pah!« schnaubte er. »Du und deine verrückten Träume. Waren die Zwillinge nicht toll, richtige kleine Kämpfer? Ich war richtig stolz auf sie, als sie auf diese Riesengroßmutter losgingen. Dafür hat es dann natürlich auch anständig was gesetzt. Ich bekam richtig Angst, daß die Alte durchdrehen könnte und den Kleinen ernstlich was tut.«

»War das noch nicht schlimm genug? Sie hat Carrie an den Haaren hochgezogen, das muß ganz schön weh getan haben. Und dann hat sie Cory so geschlagen, daß er umgefallen ist. Reicht dir das nicht?«

»Na, sie hätte schon schlimmer auf sie losgehen können.«

»Ich finde, sie ist verrückt.«

»Da kannst du recht haben«, murmelte er schläfrig.

»Die Zwillinge sind doch noch halbe Babys. Cory wollte nur Carrie verteidigen – du weißt doch, wie die beiden immer aufeinander aufpassen.« Ich zögerte. »Chris, war das richtig von unserem Vater und unserer Mutter, daß sie sich ineinander verliebt haben? Hätten sie nicht etwas dagegen unternehmen können?«

»Ich weiß nicht. Reden wir darüber nicht, mir ist nicht wohl dabei.«

»Mir auch nicht. Aber ich nehme an, das erklärt, warum wir alle blond und blauäugig sind.«

»O ja,«, gähnte er, »die Meißners, das sind wir.«

»Du hast recht. Ich wollte schon immer den ganzen Tag lang mal nur Spiele spielen. Wenn Mammi uns das tolle neue Luxusmonopoly mitbringen könnte, dann hätten wir wenigstens mal die Zeit, ein Spiel bis zum Ende zu spielen.« Das hatten wir bisher nämlich nie geschafft. »Und den Zwillingen könnten wir beibringen, die Bank zu führen«, murmelte er zurück.

»Dann müssen sie aber erst mal lernen, wie man Geld zählt.«

»Das kann ja nicht so schwer sein. Foxworths haben doch eine natürliche Begabung fürs Geldzählen.«

»Wir sind keine Foxworths!« rief ich.

»Was sind wir dann?«

»Dollangangers! Und das bleiben wir auch!«

»Okay, ganz, wie du willst.« Und er sagte mir noch mal gute Nacht.

Wie letzte Nacht stand ich auf und kniete neben dem Bett, die Hände unter dem Kinn gefaltet. Leise sprach ich mein Gebet: Ich bin klein, mein Herz ist rein ... Aber irgendwie spürte ich, daß mein Herz heute alles andere als rein war. Es steckten zu viele düstere Ahnungen und Zweifel darin. Schnell bat ich um Gottes Segen für Mammi und auch für Daddy, wo immer im Himmel er jetzt sein mochte.

Als ich wieder im Bett lag, fielen mir die Plätzchen und der Kuchen ein, die die Großmutter uns eigentlich für heute abend versprochen hatte, und das Eis ... wenn wir artig wären.

Und das waren wir doch gewesen.

Jedenfalls bis Carrie losgebrüllt hatte – aber die Großmutter hatte nichts bei sich gehabt, als sie in unser Zimmer gekommen war.

Woher hatte sie gewußt, daß wir keine Süßigkeiten verdienen würden?

»Was denkst du jetzt?« fragte Chris mit schläfriger, monotoner Stimme. Ich dachte, er wäre längst eingeschlafen.

»Och, nichts Besonderes. Nur an die Süßigkeiten, die uns die Großmutter versprochen hatte, wenn wir artig wären.«

»Morgen ist ein neuer Tag, was helfen dir da die Versprechen von gestern. Und vielleicht vergessen die Zwillinge morgen auch, daß sie ›nach draußen‹ wollen. Sie haben noch kein sehr langes Gedächtnis.«

Nein, das hatten sie nicht. Daddy hatten sie schon fast vergessen, obwohl er erst im April gestorben war. Wie leicht Cory und Carrie einen Vater aufgaben, der sie so sehr geliebt hatte. Ich konnte ihn nicht vergessen. Niemals würde ich die Erinnerung an ihn aufgeben, selbst wenn ich ihn nicht mehr so klar vor mir sah ... fühlen konnte ich ihn immer.

Die Foxworth-Saga 1-3

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