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Besuch im Paradies

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Langsam und vorsichtig, Hand über Hand, Fuß über Fuß kletterte Chris dem Boden entgegen. Ich lag flach auf dem Bauch am Rand des Dachs und beobachtete seinen Abstieg. Der Mond kam gerade heraus und tauchte alles in sein helles Licht, als Chris unten ankam und mir winkte. Das Zeichen für mich, jetzt war ich an der Reihe. Ich hatte beobachtet, wie er geklettert war, so daß ich seine Methode jetzt nachahmen konnte. Dabei sagte ich mir, es wäre schließlich nicht schwieriger, als an dem Seil herumzuhangeln, das wir auf dem Dachboden aufgehängt hatten. Die Knoten waren groß und kräftig, und wir hatten sie sorgfältigst alle fünfzig Zentimeter angebracht. Chris hatte mir gesagt, nicht mehr nach unten zu sehen, sobald ich mit dem Abstieg begonnen hatte, und mich ganz darauf zu konzentrieren, einen Fuß ganz sicher auf dem letzten Knoten zu plazieren, bevor ich mich tiefer tastete. In weniger als zehn Minuten stand ich neben Chris auf der Erde.

»Toll!« flüsterte er mir zu und drückte mich fest. »Du kannst das besser als ich.«

Wir befanden uns im rückwärtigen Garten von Foxworth Hall. Alle Fenster waren dunkel, nur aus den Räumen des Personals über der Garage fiel helles gelbes Licht durch die Fenster. »Wohlan, MacDuff, so führe er Uns zu den Badestätten«, sagte ich mit gedämpfter Stimme. »Wenn du weißt, wo die liegen.«

Klar wußte er den Weg. Mammi hatte uns davon erzählt, wie sie und ihre Brüder sich früher heimlich davongeschlichen hatten und mit ihren Freunden schwimmen gegangen waren.

Chris nahm mich bei der Hand, als wir uns auf Zehenspitzen von dem riesigen Haus entfernten. Es war ein eigenartiges Gefühl, draußen zu sein in der warmen Sommernacht auf dem Erdboden. Und unsere kleinen Geschwister hatten wir allein zurückgelassen in einem verschlossenen Zimmer. Als wir einen schmalen Fußsteg überquert hatten und wußten, daß wir uns nun außerhalb des Foxworth-Besitzes befanden, fühlten wir uns glücklich, ja beinahe frei. Trotzdem mußten wir vorsichtig sein und durften uns von niemandem sehen lassen. Wir liefen in den Wald zu dem See, von dem Mammi uns erzählt hatte.

Um zehn Uhr nachts hatten wir das Dach verlassen, um halb elf fanden wir die kleine Wasserfläche inmitten der Bäume. Wir hatten Angst, andere könnten dort sein und uns alles verderben, denn dann hätten wir uns wieder nur davonschleichen können; aber der See lag still da, weder vom Wind, von Booten, noch von Badenden aufgerührt.

Im Mondlicht unter dem leuchtenden, sternenklaren Himmel erblickte ich diesen kleinen See, und mir war, als hätte ich noch niemals so schönes Wasser gesehen und eine Nacht mich so mit Begeisterung erfüllt.

»Baden wir ohne alles?« fragte Chris und sah mich auf sehr bestimmte Art an.

»Nein. Wir gehen in unserer Unterwäsche schwimmen.«

Das Problem war nur, daß ich keinen BH hatte, keinen einzigen. Aber nun, wo wir schon einmal hier waren, würde mich keine alberne Prüderie davon abhalten, dieses herrliche Mondlichtwasser zu genießen. »Erster!« rief ich und rannte los zu einem kleinen Bootssteg, während ich mir dabei die Sachen vom Leib streifte. Aber als ich am Ende des Stegs ankam, hatte ich irgendwie die Eingebung, das Wasser könnte eisig kalt sein. Und ich streckte erst einmal ganz zaghaft nur den großen Zeh hinein – es war eiskalt! Ich sah zu Chris zurück, der seine Uhr abnahm und fortwarf. Jetzt kam er schnell hinter mir her! So verflucht schnell, daß er hinter mir war und mich ins Wasser stieß, bevor ich selbst den Mut für den Sprung ins Kalte hatte. Platsch – und schon war ich von Kopf bis Fuß naß und konnte mich nicht mehr Zentimeter für Zentimeter an das Wasser gewöhnen, wie ich es vorgehabt hatte!

Mich fröstelte, als ich wieder auftauchte und paddelnd nach Chris Ausschau hielt. Ich entdeckte ihn, als er gerade dabei war, einen kleinen Felsen hochzuklettern. Für einen Augenblick zeichnete sich seine Silhouette gegen den Sternenhimmel ab. Er hob die Arme und machte einen eleganten Kopfsprung zur Mitte des Sees hin. Ich schnappte nach Luft. Was, wenn das Wasser nicht tief genug war? Wenn er sich auf dem Grund den Hals brach?

Und dann, dann ... er tauchte nicht auf! O Gott ... er war tot ... ertrunken!

»Chris!« rief ich mit Tränen in den Augen und schwamm auf die Stelle zu, an der er im kalten Wasser verschwunden war.

Plötzlich wurde ich an den Beinen gepackt. Ich schrie und tauchte unter, von Chris nach unten gezogen, der jetzt kräftig mit den Beinen trat und uns beide zurück an die Wasseroberfläche brachte, wo wir lachten. Ich spritzte ihm Wasser ins Gesicht. Mir so einen gemeinen Streich zu spielen!

»Ist das nicht besser, als in diesem verdammten heißen Zimmer eingesperrt zu sein?« fragte er. Er planschte wie ein Verrückter im Wasser herum, außer sich, begeistert, wild und durchgedreht. Es war, als wäre ihm dieses bißchen Freiheit wie starker Wein zu Kopf gestiegen und er wäre völlig betrunken davon. Er schwamm im Kreis um mich herum und versuchte mich wieder an den Beinen zu packen, um mich unterzuziehen. Aber inzwischen war ich klüger. Er gab es auf, tauchte wieder auf und schwamm auf dem Rücken, dann Brustschwimmen, Kraulen, Delphin – dazu rief er jeweils den entsprechenden Namen des Schwimmstils, den er gerade vorführte. »Und jetzt das Rückenkraulen«, verkündete er und zeigte mir Schwimmtechniken, von denen ich noch nie etwas gehört hatte.

Nach einem Tauchkunststück kam er wieder an die Wasseroberfläche und trat Wasser, während er zu singen begann: »Tanze, Ballerina, tanze.« Dazu spritzte er mir Wasser ins Gesicht, was ich ihm entsprechend heimzahlte. »Tanz deine Pirouette. Vergiß den Schmerz in deinem Herz ...« Und dann hielt er mich in den Armen und lachte und schrie, und wir kämpften miteinander, begeistert, einfach wieder Kinder zu sein. Oh, es war wunderbar mit ihm im Wasser, wie mit einem Tänzer. Plötzlich wurde ich müde, furchtbar müde, so müde, daß ich mich schlapp wie ein nasses Handtuch fühlte. Chris legte den Arm um mich und half mir zurück ans Ufer.

Wir ließen uns beide auf ein Stück Wiese fallen und unterhielten uns.

»Noch einmal ins Wasser und dann zurück zu den Zwillingen«, sagte Chris, der neben mir auf dem Rücken an dem leicht ansteigenden Uferhang ruhte. Wir blickten beide hinauf zu einem Himmel voller glitzernder, funkelnder Sterne. Eine schlanke Mondsichel war aufgegangen und schimmerte silbern und golden. Sie verschwand und tauchte wieder auf und spielte mit den langgezogenen Wolkenbänken Verstecken.

»Stell dir vor, wir schaffen es nicht, zurück aufs Dach zu klettern.«

»Wir schaffen es, weil wir es schaffen müssen.«

Das war mein Christopher Meißner, der ewige Optimist, der da neben mir ausgestreckt lag, am ganzen Körper naß und glitzernd. Das Haar klebte ihm an der Stirn. Seine Nase glich der von Daddy, wie sie sich so dem Himmel entgegenreckte, seine vollen Lippen so schön geschwungen, daß er es nicht nötig hatte, sie vorzustülpen, um einen sinnlichen Mund zu haben, sein Kinn breit, stark und mit einem Grübchen, der Brustkasten kräftig ... und da war der kleine Hügel wachsender Männlichkeit zwischen seinen starken Schenkeln, der anzuschwellen begann. Etwas an den starken, gut geformten Schenkeln eines Mannes regte mich auf. Ich wandte den Kopf ab, weil ich nicht mehr in der Lage war, seine Schönheit zu betrachten, ohne daß ich mich beschämt und schuldig gefühlt hätte.

Über unseren Köpfen in den Bäumen nisteten Vögel. Von ihnen kamen leise, zwitschernde Geräusche; schläfrig klangen sie, und aus irgendeinem Grund erinnerten sie mich an die Zwillinge, und davon wurde ich traurig. Tränen stiegen mir in die Augen.

Glühwürmchen leuchteten in der Dunkelheit auf und blinkten sich mit ihren zitronenfarbenen Leuchtschwänzen zu, die Männchen den Weibchen und umgekehrt. »Chris, leuchtet das männliche Glühwürmchen, oder ist es das weibliche?«

»Da bin ich mir nicht sehr sicher«, sagte er, als wäre er nicht sehr an der Sache interessiert. »Ich glaube, sie leuchten beide, aber die Weibchen bleiben dicht am Boden, während die Männchen herumfliegen und nach ihnen Ausschau halten.«

»Meinst du, daß du also doch nicht über alles genau Bescheid weißt – du, der Allwissende?«

»Cathy, komm, laß uns nicht streiten. Ich weiß nicht alles – dazu fehlt mir eine ganze Menge.« Er wandte mir den Kopf zu, und unsere Blicke trafen sich. Es schien, als würde keiner von uns seine Augen wieder von denen des anderen lösen können.

Ein weicher Südwind kam auf und spielte mit meinen Haaren, trocknete die Tränen auf meinem Gesicht. Ich fühlte sie deutlich auf der Haut, und wieder war mir nach Weinen zumute, ohne besonderen Grund, einfach weil die Nacht so lieblich und so mild war und ich in einem Alter, das voller romantischer Sehnsüchte steckte. Und die Brise flüsterte mir Worte der Liebe ins Ohr ... Worte, von denen ich so sehr fürchtete, daß sie mir nie jemand sagen würde. Trotzdem war die Nacht unter den Bäumen neben dem im Mondlicht schimmernden Wasser so wunderbar. Ich seufzte. Es kam mir vor, als wäre ich hier schon einmal gewesen, hätte schon einmal am Seeufer im Gras gelegen. Oh, was hatte ich für seltsame Gedanken im Kopf, während die Nachtinsekten um uns summten und schwirrten und in der Ferne eine Eule rief. Sie erinnerte mich sofort wieder an jene Nacht, in der wir als Flüchtlinge hierhergekommen waren und vor einer Welt versteckt wurden, die uns nicht haben wollte.

»Chris, du bist fast siebzehn. So alt war Daddy auch, als er Mammi zum erstenmal traf.«

»Und du bist vierzehn, genauso alt wie sie damals«, antwortete er mit belegter Stimme.

»Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick?«

Er zögerte und wälzte den Gedanken eine Weile im Kopf ... seine Art, ich war da anders. »In solchen Fragen bin ich kein Fachmann. Ich weiß, daß ich in der Schule mal ein hübsches Mädchen gesehen habe und mich sofort in sie verliebt fühlte. Aber als wir uns dann unterhielten und es stellte sich heraus, daß sie eine ziemlich blöde Ziege war, fühlte ich überhaupt nichts mehr ihr gegenüber. Also, wenn zu ihrer Schönheit auch geistige und charakterliche Fähigkeiten gekommen wären, dann hätte es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick sein können, auch wenn ich gelesen habe, daß diese Art von Liebe eigentlich nur auf körperlicher Attraktivität beruhen kann.«

»Hältst du mich für blöd?«

Er feixte und strich mir übers Haar. »Ach wo. Und ich hoffe, du selbst tust das auch nicht, denn das bist du nicht. Dein Problem, Cathy, ist, daß du zu viele Talente hast. Du möchtest gerne alles sein, und das ist unmöglich.«

»Woher weißt du, daß ich gerne auch Sängerin und Schauspielerin werden möchte?«

Er lachte leise und warm. »He, du dummes Mädchen, du trittst doch neunzig Prozent deiner Zeit als Schauspielerin auf und singst für dich selbst, wenn du dich zufrieden fühlst, was leider nicht sehr oft der Fall ist.«

»Bist du denn oft zufrieden?«

»Nein.«

So lagen wir still da und blickten von Zeit zu Zeit nach etwas, das unsere Aufmerksamkeit fesselte – wie die Glühwürmchen bei ihrem Hochzeitsflug, raschelnde Blätter, treibende Wolken, das Spiel des Mondlichts auf dem Wasser. Die Nacht wirkte verzaubert und ließ meine Gedanken wieder einmal zur Natur wandern und zu den eigenartigen Wegen der Natur. Auch wenn ich von diesen Wegen nicht viel begriff, nicht wußte, warum ich nachts aufwachte, so erhitzt und voll Sehnsucht nach einer Erfüllung, die ich nicht erlangen konnte.

Ich war froh, daß Chris es geschafft hatte, mich zu diesem nächtlichen Ausflug zu überreden. Es war herrlich, wieder auf Gras zu liegen, ein kühles, erfrischendes Gefühl und vor allem das Gefühl, wieder wirklich zu leben.

»Chris«, setzte ich zögernd an, denn ich fürchtete, damit die zarte Schönheit dieser sternenerfüllten Mondnacht zu verderben, »was glaubst du, wo unsere Mutter ist?«

Er blickte weiter hinauf zum Nordstern.

»Ich habe keine Ahnung, wo sie sein könnte«, meinte er schließlich.

»Hast du keinen Verdacht?«

»Sicher. Es gäbe da verschiedene Möglichkeiten.«

»Welche?«

»Sie könnte krank sein.«

»Sie ist nicht krank. Mammi ist nie krank.«

»Sie könnte für ihren Vater auf eine Geschäftsreise gegangen sein.«

»Aber warum hat sie uns dann vorher nichts davon erzählt? Sie hätte uns doch gesagt, wann wir sie zurückerwarten können.«

»Ich weiß es nicht!« erwiderte er irritiert, als wäre ich dabei, ihm den Abend zu verderben. Und natürlich konnte er nicht mehr wissen als ich auch.

»Chris, liebst du sie noch immer so, und vertraust du ihr noch so wie früher?«

»Frag mich so was nicht! Sie ist meine Mutter. Sie ist alles, was wir haben, und wenn du von mir erwartest, daß ich hier liege und schlecht von ihr rede – das werde ich nie tun! Wo immer sie heute nacht sein mag, sie denkt dort an uns, und sie kommt zurück. Sie wird einen völlig ausreichenden Grund dafür gehabt haben, so lange fortzubleiben. Darauf kannst du dich verlassen!«

Ich konnte ihm nicht sagen, was ich wirklich dachte, nämlich, daß sie einfach die Zeit hätte haben müssen, uns vorher von ihren Plänen zu erzählen – denn das wußte er so gut wie ich.

Seine Stimme hatte einen gedämpften Klang, den sie nur annahm, wenn ihn etwas schmerzte – und nicht etwas, was körperliche Schmerzen verursachte. Ich wollte die Schmerzen heilen, die ich ihm mit meiner Fragerei zugefügt hatte. »Chris, in den Fernsehserien, da verabreden sich Jungen in deinem und Mädchen in meinem Alter mit Freunden zum Ausgehen. Weißt du, wie man sich mit einem Mädchen verabredet?«

»Klar, dafür habe ich ja genug fernsehen können.«

»Aber etwas im Fernsehen zu erleben und es selbst zu tun ist nicht dasselbe.«

»Man bekommt aber schon eine Ahnung davon, wie man sich verhält und was man zu sagen hat. Und abgesehen davon, du bist noch zu jung, um dich mit Jungen zu verabreden.«

»Jetzt will ich dir mal was sagen, Mr. Superhirn, ein Mädchen in meinem Alter ist in Wahrheit sogar ein Jahr älter als ein Junge in deinem Alter.«

»Du spinnst.«

»Ich spinne? Ich habe das in einem Illustriertenartikel gelesen, den ein Fachmann für solche Sachen geschrieben hat – ein Entwicklungspsychologe«, verkündete ich, sicher, daß ihn das beeindrucken müßte. »Er schrieb, daß Mädchen emotional viel schneller reif werden als Jungen.«

»Der Autor dieses Artikels beurteilte die ganze Menschheit nach seiner eigenen Unreife.«

»Chris, du denkst doch, du weißt alles – und niemand weiß alles!«

Er sah mir direkt in die Augen und runzelte wie so oft die Stirn. »Da hast du recht«, stimmte er mir freundlicherweise zu. »Ich weiß auch nur das, was ich irgendwo gelesen habe, und was ich in meinem Inneren fühle, das ist mir genauso unheimlich wie jedem anderen Jungen in meinem Alter. Ich bin verdammt sauer über das, was Mammi mit uns gemacht hat, und ich fühle so viele verschiedene Dinge, und ich habe keinen Mann, mit dem ich mich darüber aussprechen könnte.« Er stützte sich auf den Ellbogen hoch und beugte sich über mein Gesicht. »Ich wünschte mir, dein Haar brauchte nicht so lange, um wieder nachzuwachsen. Ich wünschte mir, ich hätte nicht daran herumgeschnitten ... hat uns ja am Ende doch nichts gebracht.«

Es wäre besser gewesen, wenn er nichts gesagt hätte, das meine Gedanken zurück auf Foxworth Hall lenkte. Ich wollte einfach nur in den Sternenhimmel sehen und den frischen Wind auf meiner Haut spüren. Meine Pyjamahose war aus dünnem weißem Batist. Sie klebte wie eine zweite Haut an mir, genau wie bei Chris seine Shorts.

»Laß uns jetzt gehen, Chris.«

Widerstrebend stand er auf und streckte mir die Hand hin. »Noch einmal ins Wasser?«

»Nein. Gehen wir zurück.«

Schweigend machten wir uns auf den Weg, fort von dem kleinen See, wanderten langsam durch den Wald und sogen noch einmal das süße Gefühl, draußen zu sein in der freien Natur, tief ein.

Dann ging es zurück zu unseren Verpflichtungen. Sehr lange standen wir still am Fuß des selbstgemachten Seils, das an einem fernen Kamin hoch über uns befestigt war. Ich dachte nicht über den Aufstieg nach, sondern fragte mich, was wir mit dieser kurzen kleinen Flucht aus unserem Gefängnis gewonnen hatten, nachdem wir jetzt wieder dorthin zurückkehrten.

»Chris, fühlst du dich jetzt anders?«

»Ja. Wir haben nicht viel gemacht, sind nur ein bißchen herumgelaufen und geschwommen, aber ich bin viel lebendiger und hoffnungsvoller als vorher.«

»Wir könnten noch heute nacht von hier fortgehen, wenn wir das wollten, ohne weiter auf Mammi zu warten. Wir könnten raufklettern, uns Trageschlaufen für die Zwillinge binden und sie runtertragen, während sie noch schlafen. Wir könnten einfach fortlaufen! Wir wären frei!«

Er antwortete mir nicht, sondern begann zum Dach hinaufzuklettern, die Bettlakenleiter fest zwischen die Beine geklemmt, während er sich Meter für Meter hocharbeitete. Sobald er oben angekommen war, folgte ich, da wir unserem Seil nicht das Gewicht von zwei Personen anvertrauen wollten. Es war viel schwerer hochzuklettern als runterzusteigen. Meine Beine schienen viel kräftiger zu sein als meine Arme. Ich griff nach dem nächsten Knoten über mir und hob das rechte Bein. Plötzlich rutschte mein linker Fuß mir ab, und ich hing frei pendelnd nur noch an meinen schwachen Armen.

Ein kurzer Schrei löste sich von meinen Lippen. Ich war mehr als zehn Meter über dem Boden!

»Halt aus!« schrie Chris von oben. »Das Seil hängt direkt zwischen deinen Beinen. Du brauchst sie nur zusammenzudrücken!«

Ich sah nicht, was ich tat. Alles, was mir blieb, war, genau seinen Anweisungen zu folgen. Am ganzen Körper zitternd, preßte ich das Seil zwischen meine Schenkel. Die Angst ließ meine Arme noch schwächer werden. Und je länger ich an dieser Stelle hing, desto mehr Angst bekam ich. Ich begann zu keuchen und mich zu verkrampfen. Und dann kamen die Tränen ... dumme Kleinmädchentränen!

»Ich kann dich fast mit den Händen erreichen!« rief Chris. »Nur noch ein kleines Stück, und ich hab’ dich. Cathy, dreh jetzt nicht durch! Denk dran, wie sehr die Zwillinge dich brauchen! Versuch es ... streng dich an!«

Ich mußte mich dazu zwingen, den Griff der einen Hand zu lösen und nach dem nächsten Knoten zu tasten. Wieder und wieder redete ich mir zu, du schaffst es, du mußt es schaffen! Meine Füße waren glitschig von dem feuchten Gras – aber die Füße von Chris mußten das auch gewesen sein, und er hatte es doch geschafft. Wenn er es schaffen konnte, dann konnte ich das auch!

Stück für Stück zog ich mich zur Dachkante hoch, wo Chris sofort nach meinen Handgelenken griff. Als ich erst seine starken Hände spürte, flutete mir eine kribbelnde Welle der Erleichterung bis in die Fußspitzen. Ein paar Sekunden später hatte er mich auf das Dach gezogen, drückte mich fest in seine Arme, und wir lachten beide dabei und weinten dann fast. Anschließend krochen wir das steile Dach hinauf zu dem Schornstein, wobei wir das Seil immer fest gepackt hielten. Hinter dem Kamin lehnten wir uns an unserem vertrauten Sonnenplatz zurück, noch immer am ganzen Körper zitternd.

Oh, diese Ironie – daß wir froh waren, wieder zurück zu sein!

Chris lag auf seinem Bett und blickte zu mir herüber. »Cathy, als wir da am Ufer lagen, da kam es mir ein oder zwei Sekunden vor wie im Paradies. Als du dann am Seil abrutschtest, da dachte ich, ich würde auch sofort sterben, wenn dir etwas passierte. Wir dürfen das nicht noch einmal wagen. Du hast nicht soviel Kraft in den Armen wie ich. Es tut mir leid, daß ich daran nicht gedacht habe.«

In der Ecke brannte unsere Nachttischlampe mit ihrem rötlichen Licht. Unsere Blicke trafen sich in dem Halbdunkel. »Es tut mir nicht leid, daß wir diesen Ausflug gemacht haben. Ich bin froh darüber. Es ist schon lange her, daß ich so deutlich gespürt habe, daß ich lebe und daß es mich wirklich gibt.«

Ich mußte jene Frage noch einmal wagen, ich mußte einfach: »Chris, was glaubst du, wo Mammi ist? Sie entfernt sich nach und nach immer weiter von uns, und sie sieht die Zwillinge gar nicht mehr an, als fürchte sie sich inzwischen davor. Aber sie ist noch nie so lange fortgeblieben. Wir haben sie jetzt über einen Monat nicht mehr gesehen.«

Ich hörte einen schweren, traurigen Seufzer. »Ganz ehrlich, Cathy, ich weiß es nicht. Sie hat mir genausowenig gesagt, wie sie dir erzählt hat – aber du kannst dich darauf verlassen, sie hat einen guten Grund dafür.«

»Aber was für einen Grund könnte sie haben, uns so ohne jede Erklärung allein zu lassen? Hätte sie uns nicht wenigstens irgend etwas sagen müssen?«

»Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.«

»Wenn ich Kinder hätte, dann würde ich sie nie auf so eine Art allein lassen. Ich würde niemals meine vier Kinder in ein abgeschlossenes Zimmer stecken und sie dort dann einfach vergessen.«

»Du wolltest doch nie Kinder bekommen, hast du das vergessen?«

»Chris, eines Tages werde ich in den Armen eines Mannes tanzen, der mich liebt, und wenn mein Mann wirklich ein Baby will, dann könnte ich schon damit einverstanden sein.«

»Klar, ich wußte sowieso, daß du deine Absichten dazu ändern würdest, wenn du älter wirst.«

»Sag mal, glaubst du, ich bin hübsch genug, daß ein Mann sich in mich verlieben könnte?«

»Dazu bist du mehr als hübsch genug.« Das klang richtig aufgebracht.

»Chris, erinnerst du dich noch daran, als Mammi zu uns gesagt hat, die Welt lebt nicht von der Liebe, sondern vom Geld? Ich glaube, das stimmt nicht. Sie hatte da nicht recht.«

»Ja? Da solltest du aber noch mal drüber nachdenken, finde ich. Warum sollte man nicht beides haben können?«

Ich dachte darüber nach. Ich dachte viel darüber nach. Ich lag auf dem Rücken und starrte hinauf zur Decke, die der Boden meines Ballettraumes war, und grübelte und grübelte über das Leben. Und aus allen Büchern, die ich je gelesen hatte, suchten meine Gedanken sich die Philosophie zusammen, an die ich bis an mein Lebensende glauben wollte.

Die Liebe, wenn sie erst kam und an meine Türe klopfte, würde für mich genug sein.

Und dieser unbekannte Autor, der geschrieben hatte, wenn man berühmt sei, hätte man nicht genug, und wenn man reich sei auch nicht, und wenn man reich und berühmt und geliebt sei ... dann wäre das immer noch nicht genug – Junge, der tat mir einfach leid.

Die Foxworth-Saga 1-3

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