Читать книгу Die Foxworth-Saga 1-3 - V.C. Andrews - Страница 16
Endlose Stunden
ОглавлениеDie Tage schleppten sich dahin. Eintönig, langsam.
Was fängt man mit seiner Zeit an, wenn man sie im Überfluß besitzt? Was soll man sich ansehen, wenn man sich schon stundenlang alles Sehenswerte angesehen hat? Worauf sollte man seine Gedanken lenken, wenn Tagträume leicht zu gefährlichen Vorstellungen ausarteten? Ich konnte mir vorstellen, wie ich draußen wild und frei durch die Wälder rannte und dabei das trockene Laub aufwirbelte. Ich träumte davon, in dem nahe gelegenen See zu schwimmen oder durch einen kühlen Gebirgsbach zu waten. Aber meine Tagträume waren nur wie Spinnweben, die man mit einer schnellen Handbewegung in Fetzen haut. Schnell befand ich mich wieder in der Realität. Wo lag Glück für mich, Glücklichsein? Im Gestern, im Heute, im Morgen? Nicht in dieser Stunde, nicht in dieser Minute oder Sekunde. Wir hatten eine Sache, und nur diese eine, die einen kleinen Freudenschimmer in unser Leben brachte: die Hoffnung.
Chris sagte, es sei ein kapitales Verbrechen, Zeit zu vergeuden. Zeit war kostbar. Niemand hatte je Zeit genug oder lebte lange genug, um genug zu lernen. Irgendwo draußen hastete eine hektische, betriebsame Welt durch ihren Alltag. Doch zu dieser Welt gehörten wir nicht mehr. Wir hatten Zeit im Überfluß, endlose Stunden, Millionen Bücher zu lesen, Zeit, unserer Phantasie Flügel wachsen zu lassen. Der kreative Genius entsteht in Zeiten der Muße, wenn man das Unmögliche erträumt, und er läßt dann später das Unmögliche Wirklichkeit werden. Meinte Chris jedenfalls.
Mammi kam regelmäßig bei uns vorbei, wie sie es versprochen hatte, und sie brachte uns Gesellschaftsspiele und Spielsachen aller Art, damit wir uns die Zeit vertreiben konnten. Chris und ich spielten Monopoly, Schach, Scrabble, Go, und als Mammi uns ein Bridgespiel mit einer ausführlichen Anleitung besorgte, wurden wir schnell zu regelrechten Kartenhaien.
Mit den Zwillingen war es nicht so einfach, denn sie fanden in ihrem Alter noch keinen Spaß an Spielen mit festen Regeln. Nichts fesselte ihr Interesse für länger, weder die kleinen Autos und Planierraupen noch die elektrische Eisenbahn, deren Gleise Chris im ganzen Zimmer verlegte, unter den Betten durch und um den Tisch herum, bis man kaum noch irgendwohin treten konnte. Nur eins änderte sich bei den Zwillingen nicht – ihre Abneigung gegen den Dachboden. Dort oben schien ihnen alles unheimlich zu sein.
Jeden Tag standen wir früh auf. Wir hatten keinen Wecker, nur unsere Armbanduhren. Aber in meinem Körper gab es eine Art automatische Weckschaltung, die mich selbst dann nicht länger schlafen ließ, wenn ich wollte.
Sobald wir aufgestanden waren, gingen entweder erst die Jungen oder Carrie und ich ins Bad, die Reihenfolge wechselte täglich. Wir mußten vollständig angezogen bereitstehen, wenn die Großmutter mit dem Frühstück kam.
In unser düsteres Zimmer schlich dann die Großmutter, die wir mit Habacht-Stellung empfingen. Wir warteten darauf, daß sie den Korb mit unserem Essen abstellte und schnell wieder verschwand, was sie meistens auch tat, ohne ein Wort an uns zu richten. Wenn sie etwas sagte, war es nur, um uns zu fragen, ob wir unser Tischgebet gesprochen, vor dem Einschlafen den Herrn gelobt und unsere Seite aus der Bibel gelesen hätten.
»Nein«, antwortete Christopher eines Morgens, »wir lesen keine Seite – wir lesen Kapitel. Wenn Sie glauben, daß es für uns eine Strafe ist, die Bibel zu lesen, dann vergessen Sie das. Wir finden, die Bibel ist eine faszinierende Lektüre. Sie ist blutiger, spannender und erregender als jeder Film, den wir gesehen haben. Und in ihr steht mehr über Sünde als in jedem anderen Buch, das uns je in die Hände gefallen ist.«
»Halt den Mund, Junge!« brüllte sie ihn an. »Ich habe deine Schwester gefragt, nicht dich!«
Als nächstes mußte ich eine Bibelstelle rezitieren, die ich auswendig gelernt hatte, und mit diesen Zitaten ärgerten wir sie jedesmal, denn wenn man lange genug sucht, findet man in der Bibel den passenden Spruch für praktisch jede Gelegenheit. An dem besagten Morgen sagte ich: »Warum habt ihr Gutes mit Bösem vergolten? 1. Moses 44,4.«
Sie verzog das Gesicht, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte hinaus, natürlich nicht, ohne hinter sich abzuschließen. Ein paar Tage später fuhr sie Chris an, ohne ihn dabei anzusehen: »Sage mir etwas aus dem Buch Hiob auf. Und versuche nicht, mir weiszumachen, du würdest in der Bibel lesen, wenn du sie überhaupt nicht kennst! Ich durchschaue euch!«
Chris schien gut vorbereitet und ließ sich nicht irremachen. »Hiob 28,12: Wo will man aber die Weisheit finden? Und wo ist die Stätte des Verstandes? – Hiob 28,28: Siehe, die Furcht des Herrn, das ist Weisheit; und meiden das Böse, das ist Verstand – Hiob 31,35: O hätte ich einen, der mich anhöret! Siehe, der Allmächtige antwortet mir, und siehe die Schrift, die mein Ankläger geschrieben. – Hiob 32,9: Die großen Männer sind nicht die weisesten, und die Alten verstehen nicht das Recht.« Er hätte endlos so weitergemacht, aber die Großmutter war schon rot vor Wut. Nie wieder verlangte sie von Chris, etwas aus der Bibel aufgesagt zu bekommen. Schließlich hörte sie auch auf, mich zu fragen, denn auch ich fand immer eine beißende Stelle, die auf unsere eigene Lage anspielte.
Gegen sechs Uhr abends tauchte Mammi bei uns auf, meist atemlos und sehr in Eile. Sie kam stets mit Geschenken beladen, neuen Büchern und neuen Spielen. Nach wenigen Minuten mußte sie immer schnell in ihre Zimmer, um sich zu baden und für das Dinner fertigzumachen, wo sie von einem Butler und mehreren Hausmädchen an der großen Tafel unseres Großvaters bedient wurde. Nach dem, was sie uns atemlos erzählte, waren oft Gäste zum Abendessen auf Foxworth Hall eingeladen. »Ein großer Teil von Großvaters Geschäften werden beim Lunch und beim Dinner abgewickelt«, erfuhren wir.
Toll war es, wenn sie es schaffte, uns pikante kleine Canapés und schmackhafte Hors d’oeuvres von der Tafel mitzubringen, aber nie gab es Süßigkeiten, denn davon hätten wir Karies bekommen können –
Nur samstags und sonntags konnte sie länger als ein paar Minuten bei uns bleiben. Dann setzte sie sich mit an unseren kleinen Tisch und aß zusammen mit uns den kalten Lunch aus Großmutters Picknick-Korb. Sie klopfte sich auf den Bauch und meinte: »Schaut nur, wie fett ich werde. Erst das Mittagessen mit meinem Vater und danach statt des Mittagsschlafes ein zweites Lunch mit euch.«
Die gemeinsamen Mahlzeiten mit Mammi waren wunderbar für uns, denn sie erinnerten an die Zeit, als wir noch alle zusammen mit Daddy als Familie lebten.
An einem Sonntag kam Mammi direkt von draußen zu uns. Sie roch nach Sommer und frischer Luft und brachte uns Vanille-Eis und einen Schokoladekuchen mit. Das Eis war fast geschmolzen, aber wir fanden es trotzdem köstlich. Wir bettelten, sie solle doch diese eine Nacht bei uns bleiben. Sie könne ja zwischen Carrie und mir schlafen. Es wäre so schön, sie einmal wieder morgens beim Aufwachen bei uns zu haben. Aber sie meinte nach einem langen Blick über das düstere Schlafzimmer kopfschüttelnd: »Tut mir leid, aber das geht wirklich nicht. Seht ihr, die Mädchen würden sich wundern, warum mein Bett nicht benutzt wurde. Und drei in einem Bett ist zuviel, da könnte keiner vernünftig schlafen.«
»Mammi«, fragte ich, »wie lange dauert es noch? Wir sind schon zwei Wochen hier – und es kommt mir wie zwei Jahre vor. Hat der Großvater dir immer noch nicht verziehen, daß du Daddy geheiratet hast? Hast du ihm inzwischen von uns erzählt?«
»Mein Vater hat mir einen seiner Wagen gegeben«, antwortete sie auf eine Art, die mir sehr ausweichend vorkam. »Und ich glaube, er beginnt langsam mir zu verzeihen, sonst würde er mir doch keinen Wagen geben, mich an seinem Tisch essen und in seinem Haus leben lassen. Aber ich habe noch nicht die Nerven gehabt, ihm zu beichten, daß es da noch vier versteckte Kinder gibt. Ich muß diese Sache sehr vorsichtig angehen, und ihr müßt Geduld haben.«
»Was würde er tun, wenn er von uns wüßte?« bohrte ich weiter, ohne Chris’ Stirnrunzeln und seine warnenden Blicke zu beachten. Er hatte mich bereits gemahnt, daß Mammi bestimmt bald nicht mehr jeden Tag hereinschauen würde, wenn ich sie ständig mit solchen unangenehmen Fragen überhäufte. Ob ich das wollte?
»Gott allein weiß, was mein Vater tun würde«, flüsterte sie furchtsam. »Cathy, versprich mir, daß du nicht versuchst, das Hauspersonal auf euch aufmerksam zu machen! Ihr müßt weiter so leise sein wie bisher. Er ist ein grausamer, herzloser Mann mit furchtbarer Macht. Laßt mich sorgfältig den richtigen Zeitpunkt aussuchen, an dem ich glaube, daß er in der Verfassung ist, von euch zu erfahren.«
Sie ging gegen sieben Uhr, und kurz danach lagen wir in den Betten. Wir gingen früh schlafen, denn wir mußten früh aufstehen. Und je mehr man schläft, desto kürzer erscheinen einem die Tage. Sobald es zehn Uhr durch war, schleppten wir jeden Morgen die Zwillinge auf den Dachboden hinauf. Die Erforschung dieses gigantischen Dachbodens war noch die interessanteste Art, die Zeit totzuschlagen. Neben zwei alten Pianos, die bei den Versuchen, sie zu stimmen, endgültig den Geist aufgaben, entdeckten wir auch mehrere alte Grammophone und stapelweise alte Platten. Eins der Grammophone funktionierte noch einigermaßen. Chris zog es auf, und dann hörten wir die verrückteste Musik, die mir bis dahin zu Ohren gekommen war. Enrico Caruso – aber zu schnell oder zu langsam. Es dauerte eine Weile, bis wir die richtige Umdrehungszahl herausfanden.
Selbst dann klang Carusos Stimme immer noch furchtbar schrill und gequält, so daß wir nie begreifen konnten, warum er so berühmt gewesen war. Aber aus irgendeinem verrückten Grund war Cory von diesen alten Platten begeistert.
Cory fand solchen Spaß an dem Grammophon, mit dem er bald allein umgehen konnte, daß er den ganzen Tag auf dem Dachboden damit verbrachte, alte Platten abzuspielen. Doch Carrie war schwieriger. Sie verlor an allem schnell den Spaß, wirkte immer rastlos und unzufrieden, suchte ständig nach einer neuen Beschäftigung, und wehe, wenn uns nichts einfiel. Es wurde erst besser mit ihr, als sie lernte, allein die enge, steile Speichertreppe hinabzuklettern. Danach verließ sie uns oft und ging in unser Zimmer hinunter, um dort alleine und ungestört mit ihren Puppen zu spielen, denen sie auf einem Spielzeugofen Essen kochte und es auf einem winzigen Plastikgeschirr servierte.
Zum erstenmal erlebten wir, daß Cory und Carrie es schafften, einige Stunden voneinander getrennt zu spielen. Und Chris fand, das sei ein gutes Zeichen. Oben auf dem Dachboden lauschte Cory verzaubert seiner Musik, während Carrie zufrieden ihrer Puppenfamilie die Leviten las.
Oft und lange zu baden war eine andere beliebte Art, die Zeit zu verkürzen, und wenn man sich dabei noch jedesmal die Haare wusch, dauerte es noch länger. Oh, wir waren die saubersten Kinder der Welt. Nach dem Mittagessen schliefen wir immer so lange, wie die Zwillinge es zuließen. Chris und ich veranstalteten Wettbewerbe im Apfelsinenschälen. Sieger wurde, wer die längste Schale abpellen konnte. Weil die Zwillinge sie nicht mochten, entfernten wir auch die winzigsten weißen Schalenreste, so daß wir mit einer Apfelsine gut und gerne eine halbe Stunde beschäftigt waren.
Unser gefährlichstes und lustigstes Spiel war, die Großmutter nachzuahmen. Immer hatten wir Angst, sie könnte plötzlich die Türe aufreißen und einen von uns in dem schmutzigen grauen Tuch vom Dachboden ertappen, das ihre graue Taftuniform darstellen sollte. Chris und ich brachten es zu wahren Meisterstücken der Imitationskunst. Besonders Chris erwies sich darin als genial.
»Kinder!« schnappte Chris, während er neben der Tür stand und einen unsichtbaren Picknick-Korb in der Hand hielt. »Seid ihr auch anständig, wohlerzogen, gottesfürchtig und sauber gewesen? Dieses Zimmer ist ja ein Schweinestall! Mädchen – du da hinten – das Kissen unter dir anständig zurecht, das du so unanständig zerknautschst, bevor ich dir mit dem bloßen Blick meiner Augen die Stirn versenge!«
»Gnade, Großmutter!« rief ich, fiel auf die Knie und rutschte mit gefalteten Händen kniend zu ihr. »Ich bin todmüde, weil ich den ganzen Dachboden geschrubbt habe, wie du mir befohlen hast. Deshalb habe ich gewagt, meinen unwürdigen Leib auf diesem Kissen auszuruhen.«
»Ausruhen?« fuhr mich die Großmutter an, der dabei fast das Kleid von den Schultern rutschte. »Es gibt kein Ausruhen für die Schlechten, die Gottlosen und die Unwürdigen – für sie gibt es nur Arbeit und Mühsal, bis sie gestorben sind und für immer über dem Höllenfeuer schmoren!« Dann hob er die Arme unter dem grauen Tuch in einer unheimlichen Geste, die den Zwillingen wohlige Schauer über den Rücken jagte, und verschwand, hokuspokus, wie eine Hexe. Statt der furchtbaren Großmutter stand plötzlich ein grinsender Chris vor uns.
Die ersten Wochen vergingen wie Sekunden, die sich zu Stunden dehnten, sosehr wir auch bemüht waren, uns die Zeit nicht lang werden zu lassen. Es waren unsere Zweifel und unsere Ängste, unsere Hoffnungen und unsere Erwartungen; die uns ständig in einem Zustand angespannter Erwartung hielten, ohne daß wir uns je wirklich ablenken konnten. Wir warteten und warteten, doch wir kamen der Zeit unserer von Mammi verheißenen Befreiung nicht näher.
Inzwischen kamen die Zwillinge wie selbstverständlich zu mir, wenn sie sich gestoßen oder einen Splitter vom morschen Holz des Dachbodens unter der Haut hatten. Die Splitter zog ich ihnen vorsichtig mit einer Pinzette, Chris desinfizierte die Wunden und klebte die bunten Kinderpflaster auf, von denen die beiden immer so begeistert waren. Ein Tropfen Blut am kleinen Finger reichte aus, damit sie stundenlang auf den Arm genommen werden wollten und ich mit ihnen tröstende Kinderliedchen singen mußte ... Heile, heile, Gänschen, wird alles wieder gut ... Ich küßte sie, wenn sie schmusen wollten, und brachte sie ins Bett. Die kleinen Arme legten sich immer wieder um meinen Hals und drückten mich fest. Ich wurde geliebt, sehr geliebt ... und sehr gebraucht.
Unsere Zwillinge führten sich oft mehr wie Dreijährige als wie fünf Jahre alte Kinder auf. Weniger wegen ihrer Art zu sprechen als wegen der Art, wie sie sich die Augen rieben und schmollten, wenn ihnen irgendwas nicht paßte. Sie hielten auch, um jemanden zu zwingen, etwas Bestimmtes für sie zu tun, die Luft an, bis sie blaurot im Gesicht wurden und ihren Willen bekamen. Besonders ich war für diese Drohung anfällig. Chris hielt es für unmöglich, daß sich jemand auf so eine Art selbst ersticken könnte, und reagierte einfach nicht darauf. Trotzdem war es immer ganz schön unangenehm, die beiden blau anlaufen zu sehen.
Chris nahm mich zur Seite und sagte: »Wenn sie sich das nächstemal wieder so aufführen, möchte ich, daß du sie einfach nicht beachtest, und wenn du dazu ins Badezimmer gehen und die Tür hinter dir zumachen mußt. Glaub mir, so schnell stirbt man nicht.«
Genau das tat ich dann – und die beiden starben tatsächlich nicht. Danach hörten sie mit dieser Art von Erpressungsversuchen auf, die sie vorher besonders beim Essen angewandt hatten, wenn ihnen etwas nicht schmeckte. Und es schmeckte ihnen fast nie etwas, mit wenigen Ausnahmen. Obst zum Beispiel.
Obst brachte dafür andere Schwierigkeiten. Während Cory es nicht immer schaffte, seine Blase unter Kontrolle zu halten, bekam Carrie jedesmal Durchfall, wenn sie Obst gegessen hatte. Nur Zitrusfrüchte vertrug sie. Deshalb haßte ich die Tage, an denen sich Pfirsiche oder Weintrauben in unserem Korb fanden. Carrie dagegen schätzte Obst, trotz seiner unangenehmen Wirkung, über alles. Man kann mir glauben, daß ich jedesmal erbleichte, sobald ich Äpfel, Trauben oder Pfirsiche in unserem Korb entdeckte, denn ich wußte, daß ich es sein würde, die den ganzen Tag die schmutzigen Höschen auswaschen durfte. In den seltensten Fällen schaffte ich es, mir Carrie unter den Arm zu klemmen und wie ein Blitz mit ihr ins Bad zu rennen, wo ich sie förmlich auf das Klo warf. Chris lachte jedesmal laut los, wenn ich zu langsam war – oder Carrie zu schnell. Er hatte es einfacher, denn er hielt für Cory immer die blaue Vase griffbereit. Cory konnte nie länger einhalten, wenn er mußte, weshalb es immer großes Geschrei gab, falls gerade ein Mädchen im Bad war und hinter sich abgeschlossen hatte. Mehr als einmal ging es bei ihm in die Hose, und dann versteckte er seinen Kopf in meinem Rockschoß, weil er sich so schämte. (Carrie schämte sich nie – war schließlich mein Fehler, wenn ich nicht schnell genug sein konnte.)
»Cathy«, flüsterte Cory nach einem seiner ›Unfälle‹, »wann gehen wir denn wieder nach draußen?«
»Sobald Mammi uns sagt, daß wir dürfen.«
»Warum sagt Mammi denn nicht, daß wir dürfen?«
»Die Treppe hinunter da sitzt ein alter Mann, der nicht weiß, daß wir hier oben sind. Und wir müssen darauf warten, daß er Mammi so gern hat wie früher, damit er uns auch gern hat.«
»Wer ist der alte Mann?«
»Unser Großvater.«
»Ist er wie die Großmutter?«
»Ja, ich fürchte, das ist er.«
»Warum mag er uns nicht?«
»Er mag uns nicht, weil ... weil, na, weil er nicht ganz richtig im Kopf ist. Ich glaube, er ist im Kopf genauso krank wie am Herz.«
»Mag Mammi uns denn noch?«
O je! Das war die Frage, wegen der ich nachts nicht einschlafen konnte.
Mehr als ein Monat war seit unserem Einzug vergangen, als Mammi sich einen ganzen Sonntag lang nicht blicken ließ. Es tat weh, sie nicht bei uns zu haben. Wir wußten ja, daß sie an diesem Tag nicht in ihre Schule brauchte und sich irgendwo hier im Haus befand, vielleicht nicht einmal zehn Meter von uns entfernt.
Ich lag auf dem Boden, lang auf dem Bauch ausgestreckt, und las Jude the Obscure von Thomas Hardy. Chris war auf dem Dachboden, wo er nach neuem Lesestoff suchte, und die Zwillinge spielten in einer Ecke mit ihren Spielzeugautos.
Der Abend brach schon an, als Mammi doch noch in unser Zimmer gehuscht kam. Sie trug Tennisschuhe, weiße Shorts und eine weiße Bluse mit blauem Matrosenkragen. Ihr Gesicht war rosig von der frischen Luft. Sie sah so gesund, so unglaublich glücklich aus, während wir hier drinnen dahindämmerten und in der stickigen Hitze unseres düsteren Zimmers halb erstickten.
Segeldress – ich wußte sofort Bescheid, wie sie den Nachmittag verbracht hatte. Ich starrte sie böse an und wünschte mir, ich wäre genauso sonnengebräunt. Ihr Haar war vom Wind zerzaust, aber das stand ihr gut. Es machte sie noch schöner, wilder, mehr sexy. Und in meinen Augen war sie doch schon alt, fast vierzig. Ganz offensichtlich hatte sie diesen Nachmittag genossen wie schon lange nichts mehr seit dem Tod unseres Vaters. Aber jetzt würde es bald unten Dinner geben. Das hieß, sie mußte sich noch frisch machen und umziehen. Für uns würde heute so gut wie keine Zeit mehr bleiben.
Ich legte mein Buch weg und setzte mich auf. Es hatte mir weh getan, sie so zu sehen, und ich wollte ihr dafür auch weh tun: »Wo bist du gewesen?« Ich fragte mit einem häßlichen Unterton, fast gehässig. Was für ein Recht hatte sie, sich zu vergnügen, solange wir von diesem wunderbaren Sommer draußen ausgeschlossen blieben? Ich würde nie wieder einen Sommer mit zwölf erleben können, noch würde Chris seinen vierzehnten Sommer genießen können oder die Zwillinge ihren fünften.
Der gemeine, anklagende Unterton meiner Frage vertrieb ihr das strahlende Lächeln. Sie wurde bleich, und ihre Lippen zitterten. Vielleicht tat es ihr in diesem Augenblick leid, daß sie uns einen großen Wandkalender mitgebracht hatte, so daß wir immer genau wußten, welcher Tag gerade war. Mit dicken roten Kreuzen x-ten wir auf dem Kalender unsere Gefängnistage aus, unsere heißen, einsamen Tage voll sehnsüchtiger Hoffnungen.
Sie ließ sich in einen Stuhl fallen, schlug ihre schönen Beine übereinander und fächelte sich mit einer herumliegenden Illustrierten Kühlung zu. »Es tut mir leid, daß ich euch so lange habe warten lassen«, meinte sie mit einem um Verständnis heischenden Lächeln in meine Richtung. »Eigentlich wollte ich schon heute morgen hereinschauen, aber mein Vater wollte mich die ganze Zeit um sich haben. Für heute nachmittag hatte ich schon etwas vor, was ich nicht absagen konnte. Aber ich bin etwas früher aufgebrochen, um vor dem Dinner noch schnell bei euch vorbeizusehen.« Obwohl sie nicht verschwitzt aussah, hob sie ihren nackten Arm und fächelte sich Luft in die Achselhöhlen, als könne sie die Hitze hier kaum ertragen. »Ich bin segeln gewesen, Cathy«, erklärte sie, »meine Brüder haben mir schon als kleines Mädchen das Segeln beigebracht. Und als euer Vater zu uns kam, habe ich es ihm beigebracht. Wir haben viel Zeit zusammen auf dem See verbracht. Segeln ist fast wie fliegen ... ein wunderbarer Spaß«, endete sie lahm. Sie hatte erkannt, daß dieser Spaß uns den Spaß gekostet hatte.
»Segeln?« Ich schrie sie fast an. »Warum warst du nicht unten und hast dem Großvater von deinen Kindern erzählt? Wie lange willst du uns hier eingeschlossen halten? Für immer?«
Ihre blauen Augen wanderten nervös umher. Sie schien dicht davor, von ihrem Stuhl aufzustehen, den wir kaum benutzten und als eine Art Thron für sie reserviert hatten. Vielleicht wäre sie damals einfach aus dem Zimmer gelaufen, wenn Chris nicht in diesem Augenblick mit einem Stapel alter Lexika vom Dachboden herabgekommen wäre – Lexika, so alt, daß es in ihnen nicht mal Fernsehen oder Düsenflugzeuge gab.
»Cathy, schrei unsere Mutter nicht so an«, rügte er mich. »Hallo, Mammi. Junge, siehst du toll aus! Ich liebe dich in Segelsachen, da bist du ganz große Klasse drin.« Er setzte seinen Bücherstapel ab und ging zu ihr, um sie in den Arm zu nehmen. Ich fühlte mich verraten, nicht nur von meiner Mutter, sondern jetzt auch noch von meinem Bruder. Der Sommer ging schon bald zu Ende, und wir hatten so gut wie nichts von ihm mitbekommen. Nicht einmal in einem kleinen Garten-Swimmingpool hatten wir herumplanschen dürfen.
»Mammi!« rief ich und sprang auf, entschlossen, den Kampf um unsere Freiheit jetzt auszufechten. »Ich meine, es ist jetzt Zeit, daß du deinem Vater von uns erzählst! Ich bin krank von diesem Zimmer und dem staubigen Dachboden da oben! Ich halte es nicht mehr aus! Ich will, daß die Zwillinge endlich wieder an die frische Luft kommen, und ich will auch endlich wieder frei atmen. Ich will segeln lernen! Wenn der Großvater dir deine Heirat mit Daddy verziehen hat, warum kann er uns dann nicht auch akzeptieren? Sind wir so häßlich, so furchtbar, so dumm, daß er sich schämen müßte, uns als Enkel zu haben?«
Sie schob Chris von sich und sank müde auf den Stuhl zurück, beugte sich vor und verbarg das Gesicht in den Händen. Intuitiv wußte ich, daß sie uns jetzt eine Sache enthüllen würde, von der sie bisher nichts gesagt hatte. Ich rief Cory und Carrie zu mir und setzte sie neben mich, so daß ich die Arme um sie legen konnte. Und Chris, von dem ich eigentlich erwartete, er würde an der Seite unserer Mutter bleiben, kam zu uns herüber und setzte sich neben Cory auf ein Bett. Wir waren wieder zusammen wie bei vorausgegangenen ähnlichen Gesprächen – kleine Vögel, die auf dem Nestrand kauerten und warteten, daß ein kräftiger Sturmwind sie hinunterblies.
»Cathy, Christopher«, setzte Mammi an, den Kopf noch immer gebeugt, aber die Hände inzwischen nervös in ihrem Schoß knetend, »ich bin nicht ganz ehrlich zu euch gewesen.«
Als wenn ich das nicht schon längst geahnt hätte.
»Magst du nicht heute abend mit uns zusammen essen?« fragte ich. Instinktiv zog ich die Schraube noch weiter an, um die ganze Wahrheit aus ihr herauszupressen.
»Vielen Dank für die Einladung. Ich würde gerne bei euch bleiben, aber ich habe schon etwas vor für heute abend.«
Und das an unserem Tag, den sie immer mit uns hatte verbringen wollen. Und gestern war sie auch schon nur eine halbe Stunde bei uns gewesen.
»Der Brief damals«, murmelte sie, und ihr Kopf hob sich. Ein dunkler Schatten schien ihre blauen Augen grün zu färben. »Der Brief, den meine Mutter mir schrieb, als wir noch alle in Gladstone in unserem alten Zuhause lebten ..., der Brief, mit dem sie uns hierher einlud ..., ich habe euch verschwiegen, daß mein Vater noch eine kurze Bemerkung an den Schluß dieses Briefes geschrieben hatte.«
»Weiter, Mammi«, drängte ich, »was immer du uns erzählen willst, wir werden es schon verdauen. Nur sag uns jetzt alles.«
Unsere Mutter war eine Frau, die gelernt hatte, sich unter Kontrolle zu halten, eine kühle, beherrschte Frau, jedenfalls nach außen. Aber eins konnte sie nie beherrschen, und das waren ihre Hände. Sie verrieten immer die Gefühle unserer Mutter. Eine Hand wanderte mit mutwilligen, kapriziösen Bewegungen an ihrer Bluse auf und ab und suchte nach einer Kette, mit der sie hätte spielen können. Aber da es keine Perlenkette oder sonst einen Schmuck gab, huschte diese Hand nur gedankenlos hin und her. Die andere Hand lag in Mammis Schoß und rieb unablässig die Finger gegeneinander, als wolle sie sich ständig etwas Klebriges abwischen.
»Eure Großmutter schrieb den Brief, und sie hat ihn auch unterschrieben, aber euer Großvater fügte noch diese Bemerkung an.« Sie zögerte, schloß die Augen, wartete zwei bis drei Sekunden und sah uns dann direkt ins Gesicht. »Euer Großvater schrieb, er sei froh, daß euer Vater tot ist. Er schrieb, die Verdorbenen und die Schlechten bekämen immer, was sie verdienten. Er schrieb, das einzige Gute an meiner Ehe sei, daß aus ihr keine Teufelskinder hervorgegangen seien.«
Früher hätte ich gefragt, was Teufelskinder wohl heißen sollte. Inzwischen wußte ich Bescheid. Teufelskinder, Satansbrut, böse, gottlos und verdorben – das waren wir.
»Meine Mutter schlug mir den Plan, euch zu verstecken, auf einem nachträglich dem Brief beigefügten Blatt vor, das mein Vater nicht gelesen hat«, erzählte sie mit errötendem Gesicht stockend weiter.
»War unser Vater nur deshalb schlecht und verdorben, weil er seine Halbnichte geheiratet hat?« fragte Chris mit der gleichen kühlen und beherrschten Stimme wie unsere Mutter. »War das sein einziger Fehler?«
»Ja!« rief sie, glücklich, daß wenigstens ihr Ältester sie verstand. »Euer Vater hat in seinem ganzen Leben nur eine einzige unverzeihliche Sünde begangen – sich in mich zu verlieben. Das Gesetz verbietet Ehen zwischen nahen Verwandten, auch zwischen Onkel und Nichte, selbst wenn sie nur halb verwandt sind. Ich habe euch das alles ja schon erzählt. Ihr müßt uns das verzeihen ...« Ich wußte, was jetzt wieder kommen würde.
»Schlecht war unsere Heirat nur in den Augen von jemandem, der etwas Schlechtes darin sehen wollte«, redete sie schnell weiter, um uns fest auf ihre Seite zu ziehen. »Euer Großvater würde noch an einem Engel etwas Schlechtes finden. Er ist die Sorte Mensch, die von allen anderen ein perfektes Leben verlangen, nur von sich selbst nicht. Aber versucht einmal, ihm das ins Gesicht zu sagen. Er würde jeden niederschlagen, der so etwas wagte.« Sie schluckte krampfhaft, als würde ihr übel von dem, was sie uns nun zu sagen hatte. »Christopher, du bist ein so intelligenter und brillanter Junge, und Cathy, du bist so anmutig und eine so talentierte Tänzerin – ich dachte einfach, wenn er euch erst von Angesicht zu Angesicht sehen könnte ... Es war ein dummer Gedanke, ein hoffnungsvoller Wunsch. Aber ich habe damals fest daran geglaubt, daß mein Vater seine Einstellung zu unserer Ehe aufgeben würde, wenn ich erst eine Weile bei ihm wäre.«
»Mammi«, erwiderte ich schwach, selbst den Tränen nahe, »du sagst das so, als würdest du ihm nie von uns erzählen wollen. Er wird uns niemals mögen, ganz gleich, wie intelligent Chris ist, wie gut ich tanze oder wie süß die Zwillinge sind. Das wird ihn nicht im geringsten beeindrucken. Er würde uns immer hassen und für Teufelskinder halten, nicht wahr?«
Sie stand auf, lief zu uns und fiel wieder einmal vor uns auf die Knie. »Habe ich euch nicht von Anfang an erzählt, daß er nicht mehr lange zu leben hat? Jedesmal wenn er sich auch nur ein bißchen aufregt, wird er blau im Gesicht und muß nach Luft schnappen. Und wenn er nicht bald stirbt, dann werde ich wirklich nach einem Weg suchen, ihm von euch zu beichten. Ich schwöre euch, daß ich es versuche. Habt nur etwas Geduld und Verständnis! Was euch heute an Spaß verlorengeht, dafür werdet ihr später tausendfach entschädigt!«
Ihre feuchten Augen schnitten einem ins Herz. »Bitte, bitte. Für mich, weil ihr mich liebhabt und weil ich euch liebhab’ gebt mir noch etwas Zeit, geduldet euch noch eine kleine Weile. Es dauert nicht mehr lange, es kann nicht mehr lange dauern, und ich werde inzwischen versuchen, euch das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Und denkt doch daran, welche Reichtümer auf uns alle warten!«
»Es ist schon gut, Mammi«, sagte Chris und zog sie in seine Arme, genau wie unser Vater es getan hätte. »Was du von uns verlangst, ist wirklich nicht viel, wenn man bedenkt, wieviel wir alle dabei gewinnen werden.«
»Ja«, sagte Mammi begeistert von ihm, »nur eine kleine Weile noch, und ihr werdet alles bekommen, was das Leben euch zu bieten hat, jeden Luxus und jede Freude.«
Was sollte ich jetzt noch sagen? Wie konnte ich da Einwände machen? Wir hatten längst mehr als vier Wochen geopfert – kam es da noch auf ein paar Tage mehr an, ein paar Wochen, oder vielleicht sogar noch einen Monat?
Am Ende des Regenbogens wartet der Topf voll purem Gold. Aber Regenbogen sind aus einem schwer faßbaren, zerbrechlichen Stoff gemacht – und Gold wiegt viele Tonnen – und seit es die Welt gab, war Gold ein Grund und eine Entschuldigung für fast alles.