Читать книгу Die Foxworth-Saga 1-3 - V.C. Andrews - Страница 23

Man wird älter und lernt dazu

Оглавление

Ein weiteres Jahr verging und unterschied sich nicht sehr von dem ersten. Mutter kam immer unregelmäßiger, aber immer mit neuen Versprechungen, die unsere Hoffnungen wach hielten und uns glauben machten, daß unsere Befreiung nur eine Sache von wenigen Wochen sein konnte. Das letzte, was wir an jedem Abend taten, war, diesen Tag mit einem großen roten Kreuz durchzustreichen.

Wir hatten jetzt drei Kalender mit diesen roten Kreuzen. Der erste war nur zur Hälfte voll. Der zweite bis zum letzten Tag durchgestrichen und der dritte nun auch schon knapp über die Hälfte rot bemalt. Und der sterbende Großvater, inzwischen achtundsechzig, stand immer kurz davor, seinen letzten Atemzug zu tun, und lebte doch weiter und weiter und weiter, während wir in unserem Gefängnis dahinvegetierten. Es schien, als würde er auch noch neunundsechzig werden.

Donnerstags hatte das Personal von Foxworth Hall Ausgang, und dann stahlen Chris und ich uns hinaus auf das schwarze Dach, legten uns auf die steile Schräge und saugten das Sonnenlicht in uns hinein und badeten uns im Licht des Mondes und der Sterne. Auch wenn es hoch und gefährlich war, es war ein richtiges »Draußensein«, bei dem wir die frische Luft auf unserer durstigen Haut spüren konnten.

An einer Stelle, wo sich die Firste von zwei Flügeln des Hauses trafen, konnten wir die Füße hinter einen mächtigen Kamin stemmen und uns recht sicher fühlen. In dieser Lage waren wir für jeden verborgen, der vom Boden aus zum Dach hinaufsah.

Weil der Zorn der Großmutter noch nie tatsächlich über uns gekommen war, wurden Chris und ich mit der Zeit sorglos. Wir waren im Badezimmer nicht immer »anständig«, noch waren wir immer völlig bekleidet. Es war schwierig, Tag für Tag so auf engstem Raum zusammenzuleben und immer die eigenen intimen Stellen vor den Augen des anderen Geschlechts zu verbergen. Und um ganz ehrlich zu sein, niemand von uns kümmerte sich darum, was er da zu sehen bekam.

Wir hätten darauf achten sollen.

Wir hätten vorsichtig sein sollen.

Wir hätten uns immer Mammis blutig geschlagenen Rücken vor Augen halten müssen und nie, nie vergessen dürfen. Aber der Tag, an dem sie ausgepeitscht worden war, schien so lange, lange her zu sein. Eine Ewigkeit her.

Da stand ich nun als Teenager und hatte mich noch nie von Kopf bis Fuß nackt gesehen, denn der Spiegel über dem Waschbecken im Bad hing viel zu hoch, als daß ich hätte viel darin sehen können. Also wartete ich ab, bis ich das Schlafzimmer für mich alleine hatte, und zog mich vor dem großen Ankleidespiegel nackt aus. Ich starrte, ich beguckte mich, und ich bewunderte mich. Was für unglaubliche Veränderungen diese Hormone doch hervorbrachten! Ohne Zweifel war ich wesentlich hübscher als damals, als ich hierhergekommen war, nicht nur mein Gesicht, meine Haare, meine Beine – viel mehr noch dieser kurvenreiche Körper. Ich drehte mich und wiegte mich in den Hüften und löste den Blick keine Sekunde von meinem Spiegelbild, während ich damit begann, einige Ballettpositionen auszuführen.

Ein ziehendes Gefühl im Nacken sagte mir, daß jemand in meiner Nähe war und mich betrachtete. Ich wirbelte plötzlich herum und überraschte Chris, der am Kleiderschrank lehnte. Er mußte leise vom Dachboden heruntergekommen sein. Wie lange stand er schon da? Hatte er all die albernen, unanständigen Sachen gesehen, die ich aufgeführt hatte? O Gott, hoffentlich nicht.

Er stand da wie versteinert. Ein seltsamer Ausdruck stand in seinen blauen Augen, als hätte er mich noch niemals zuvor ohne Kleider gesehen – und das hatte er wirklich schon oft. Vielleicht hielt er seine Gedanken, wenn die Zwillinge oben auf der Matratze mit uns die Sonnenbäder nahmen, brüderlich sauber und sah gar nicht richtig hin.

Sein Blick senkte sich von meinem erröteten Gesicht zu meinen Brüsten, dann tiefer und tiefer, bis er schließlich bei meinen Füßen ankam, und von dort wanderte er genauso langsam wieder hinauf.

Ich stand zitternd da, unsicher, und fragte mich, was ich tun konnte, um nicht in den Augen meines immer spöttischen großen Bruders als eitles Frauenzimmer dazustehen. Er schien älter zu sein, fremder, wie jemand, den ich noch nie vorher kennengelernt hatte. Aber er wirkte auch schwach, verblüfft und verunsichert, und mir kam es vor, als würde ich ihm etwas stehlen, nach dem er völlig ausgehungert war, wenn ich mich angezogen hätte.

Die Zeit schien stillzustehen, als er da am Schrank lehnte und ich vor dem Ankleidespiegel zögerte, in dem er auch meine Rückenansicht bewunderte, denn ich sah seinen Blick zwischen mir und meinem Spiegelbild hin und her wandern.

»Chris, bitte geh weg.«

Er schien mich nicht gehört zu haben.

Er starrte nur weiter auf mich.

Ich errötete von Kopf bis Fuß und fühlte, wie mir unter den Armen der Schweiß ausbrach. Mein Blut begann ganz komisch zu pulsieren. Ich fühlte mich wie ein Kind, das mit dem Finger im Marmeladenglas erwischt worden ist, eines richtigen Verbrechens schuldig und in furchtbarer Angst, für eine Kleinigkeit schlimm bestraft zu werden. Aber sein Blick, seine Augen machten mich wieder lebendig, und mein Herz begann mir furchtbar, ganz verrückt zu hämmern, voller Furcht. Aber warum sollte ich mich fürchten? Es war doch nur Chris.

Zum erstenmal fühlte ich mich über meine neuen Formen beunruhigt und schämte mich für sie. Ich griff schnell nach dem Kleid, das ich vorher ausgezogen hatte. Dahinter konnte ich mich verbergen und ihm sagen, er solle verschwinden.

»Tu das nicht«, sagte er, als ich das Kleid in die Hand nahm.

»Du solltest nicht ...«, stammelte ich und zitterte noch mehr.

»Ich weiß, daß ich nicht sollte, aber du siehst so wunderbar aus. Es ist, als wenn ich dich noch nie richtig gesehen hätte. Wie konntest du so schön werden, ohne daß ich die ganze Zeit über was davon gemerkt habe?«

Wie beantwortet man so eine Frage? Außer ihn anzusehen und mit den Augen zu bitten?

Gerade in diesem Augenblick drehte sich hinter mir ein Schlüssel im Türschloß. Schnell versuchte ich das Kleid über den Kopf zu bekommen und herunterzuziehen, bevor sie die Tür aufmachte. O Gott! Ich konnte die verdammten Ärmel nicht finden! Mein Kopf steckte in dem Gewirr des Kleides, während ich vom Hals abwärts noch immer nackt war – und sie stand im Zimmer! Die Großmutter! Ich konnte sie nicht sehen, aber ich fühlte ihre Gegenwart überdeutlich.

Schließlich hatte ich die Ärmel gefunden und riß mir schnell das Kleid über den Körper. Aber sie hatte mich schon in meiner ganzen nackten Pracht gesehen, es stand in ihren schimmernden Steinaugen. Sie wandte die Augen von mir ab und schoß einen messerscharfen Blick auf Chris ab. Er starrte noch immer einfach ins Nichts.

»So!« spie sie aus. »Habe ich euch also endlich erwischt! Ich wußte, daß es früher oder später so kommen würde.«

Das war genau wie in einem meiner Alpträume ... ohne Kleider vor der Großmutter und Gott zu stehen.

Chris trat aus dem Schatten und schoß zurück. »Uns erwischt? Wobei denn? Bei nichts!«

Nichts ...

Nichts ...

Nichts ...

Ein Wort, das hallte und echote. In ihren Augen hatte sie uns bei allem erwischt.

»Sünder!« zischte sie, während sie die grausamen Augen wieder mir zuwandte. Es gab keine Gnade in diesen Augen. »Du glaubst, du siehst hübsch aus, was? Du denkst, diese frischen jungen Kurven sind attraktiv? Du liebst dieses lange blonde Haar, das du bürstest und kämmst von morgens bis abends?« Dann lächelte sie – das furchterregendste Lächeln, das ich je gesehen hatte.

Meine Knie schlugen nervös gegeneinander, meine Hände krampften sich ineinander. Wie verwundbar ich mich fühlte – ohne Unterwäsche und mit einem weit offenen Reißverschluß im Rücken. Ich warf einen schnellen Blick zu Chris. Er kam langsam näher und suchte mit den Augen nach etwas, das sich als Waffe gebrauchen ließ.

»Wievielmal hast du deinem Bruder schon erlaubt, deinen Körper zu benutzen?« fuhr mich die Großmutter an. Ich stand einfach da, unfähig zu sprechen und ohne zu begreifen, was sie damit meinte.

»Benutzen? Was heißt das?«

Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, aus denen sie scharf zu Chris’ Gesicht spähte, dessen plötzliches Erröten verriet, daß er wußte, was sie meinte, auch wenn ich es nicht verstand.

»Was ich sagen wollte«, begann er wieder, »ist, daß wir nichts Schlechtes getan haben, wirklich nicht.« Er hatte die Stimme eines Mannes, tief und kräftig. »Schau mich ruhig an mit deinen haßerfüllten, mißtrauischen Augen! Du kannst glauben, was du willst, Großmutter, aber Cathy und ich haben keine einzige böse, sündige oder gottlose Tat begangen.«

»Deine Schwester war nackt – sie hat dir erlaubt, ihren Körper zu betrachten – also hast du dich versündigt.« Sie verpaßte mir noch einen schneidenden Blick, in dem der Haß flackerte, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Zimmer. Ich blieb am ganzen Körper zitternd zurück. Chris war furchtbar wütend auf mich.

»Cathy, warum, zum Teufel, mußt du dich ausgerechnet hier im Zimmer ausziehen? Du weißt doch, daß sie uns nachspioniert, um uns irgendwann einmal bei irgendwas zu erwischen!« Ein wilder, irrer Ausdruck erschien in seinen Augen. Er wirkte älter durch diesen Ausdruck, und schrecklich gewalttätig. »Sie wird uns bestrafen. Nur weil sie gegangen ist, ohne etwas getan zu haben, heißt das noch lange nicht, daß sie nicht zurückkommen wird.«

Ich wußte das ... wußte es. Sie würde zurückkommen – mit dem Stock!

Müde und gereizt kamen die Zwillinge vom Dachboden. Carrie setzte sich vor ihr Puppenhaus, Cory hockte sich vor den Fernseher. Er nahm seine teure Konzertgitarre und begann darauf vor sich hinzuspielen. Chris saß auf dem Bett und behielt die Tür im Auge. Ich saß sprungbereit daneben, um loszurennen, sobald sich an der Tür etwas rührte. Ich würde ins Badezimmer fliehen, mich einschließen ... würde mich ...

Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Die Klinke wurde heruntergedrückt.

Ich sprang auf, Chris an meiner Seite. Er sagte: »Geh ins Bad, Cathy, und bleib da.«

Unsere Großmutter trat ins Zimmer, groß wie ein Baum, aber sie trug keine Rute, sondern eine große Schere in den Händen, die Art von Schere, mit der man Kleiderstoffe schneidet. Sie war Chromfarben, glänzend, lang und sah sehr scharf aus.

»Setz dich, Mädchen«, fuhr sie mich an. »Ich werde dir jetzt dein Haar bis auf die Haut abschneiden – dann wirst du vielleicht nicht mehr so eitel in den Spiegel schauen.«

Boshaft und grausam war ihr Lächeln, als sie meine Überraschung merkte – das erste Mal, daß ich bei ihr ein richtiges Lächeln sah.

Meine schlimmste Angst! Lieber wäre ich ausgepeitscht worden! Meine Haut würde heilen, aber es würde Jahre und Jahre dauern, bis mir das Haar wieder so lang gewachsen war – das wunderschöne lange Haar, das ich liebte, seit Daddy mir zum erstenmal gesagt hatte, daß er langes Haar bei kleinen Mädchen furchtbar hübsch fand. O lieber Gott, woher konnte sie nur wissen, daß ich fast jede Nacht träumte, sie würde sich, während ich schlief, heimlich in unser Zimmer schleichen und mich kahlscheren wie ein Schaf? Und manchmal träumte ich nicht nur, daß ich morgens kahlköpfig und häßlich aufwachte, sondern daß sie mir auch noch die Brüste abgeschnitten hatte!

Jedesmal wenn sie mich ansah, ruhten ihre Augen auf gewissen Stellen meines Körpers. Sie schien mich nie als ganze Person zu betrachten, sondern nur als bestimmte Körperpartie, die ihren Unwillen erregte ... und sie würde alles, was ihren Unwillen erregte, zerstören!

Ich versuchte ins Bad zu rennen und mich einzuschließen. Aber aus irgendeinem Grund wollten sich meine so gut trainierten Tänzerinnenbeine nicht von der Stelle bewegen. Ich war vom Anblick dieser langen, schimmernden Schere gelähmt – und von den furchtbaren Augen der Großmutter, die mich haßerfüllt und herausfordernd anfunkelten.

In diesem Moment sagte Chris mit seiner starken Männerstimme: »Du schneidest Cathy keine einzige Strähne von ihrem Haar ab, Großmutter! Einen Schritt auf sie zu, und ich schlag’ dir diesen Stuhl über den Schädel!«

Er hatte einen der Stühle von unserem kleinen Eßtisch an der Lehne zum Schlag erhoben. Aus seinen blauen Augen schoß Feuer wie aus ihren der Haß.

Sie schenkte ihm nur einen kurzen Seitenblick, als ob seine Drohung völlig ohne Konsequenz wäre, als ob sein alberner Kraftakt niemals eine Chance böte, diesen Berg aus Stahl zu überwinden, den sie darstellte. »Nun gut. Wie ihr wollt. Du kannst es dir aussuchen, Mädchen – die Haare ab oder kein Essen und keine Milch für eine ganze Woche.«

»Die Zwillinge haben doch gar nichts Böses gemacht«, flehte ich. »Chris hat nichts getan. Er wußte nicht, daß ich nichts anhatte, als er vom Dachboden herunterkam. Es war alles mein Fehler. Ich werde eine Woche auf Essen und Milch verzichten. Das werde ich schon überleben. Und abgesehen davon wird Mammi nicht zulassen, daß du so etwas mit uns machst. Sie wird uns zu essen bringen.«

Letzteres sagte ich allerdings ohne großes Zutrauen zu meinen eigenen Worten. Mammi war schon so lange nicht mehr bei uns gewesen. Sie kam nicht mehr sehr oft. Ich würde unter Umständen ganz schön lange hungern müssen.

»Dein Haar – oder eine Woche lang kein Essen«, wiederholte sie ungerührt und unbeeindruckt.

»Du hast kein Recht zu so etwas, alte Frau«, sagte Chris und näherte sich mit dem erhobenen Stuhl. »Ich habe Cathy nur zufällig gesehen. Wir haben nichts Sündiges getan. Niemals.«

»Dein Haar, oder keiner von euch bekommt für die nächste Woche etwas zu essen«, sagte sie zu mir und ignorierte Chris wie sonst auch. »Und wenn du dich im Badezimmer einschließt oder auf dem Dachboden versteckst, dann bekommt ihr zwei Wochen lang nichts! So lange, bis du mit kahlem Kopf wieder zum Vorschein kommst!« Dann heftete sie ihren Blick in kalter, abschätzender Art für einen langen, qualvollen Moment auf Chris. »Ich glaube, du wirst derjenige sein, der seiner Schwester das lange, heißgeliebte Haar abschneidet«, sagte sie mit einem kaum merklichen bösen Lächeln zu ihm. Die Schere legte sie auf den Ankleidetisch. »Sobald ich deine Schwester ohne ihr Haar gesehen habe, bekommt ihr alle vier wieder zu essen.«

Sie ließ uns allein, schloß uns wie immer ein, ließ uns mit dem Dilemma zurück, in dem wir jetzt steckten. Chris starrte mich an und ich ihn.

Chris lächelte. »Komm, Cathy, sie blufft doch bloß. Mammi kann jede Stunde wieder bei uns auftauchen. Wir werden ihr alles erzählen ... kein Problem. Ich werde dir niemals die Haare abschneiden.« Er kam zu mir und legte den Arm um mich. »Trifft es sich da nicht auch ausgezeichnet, daß wir eine Schachtel Kekse und ein Pfund Käse auf dem Dachboden versteckt haben? Und wir haben auch noch fast das ganze Essen von heute – daran hat die alte Hexe wohl gar nicht gedacht.«

Wir aßen selten viel. An diesem Abend aßen wir noch weniger, nur für den Fall, daß Mammi heute vielleicht doch nicht vorbeischaute. Die Hälfte der Milch und die Apfelsinen hoben wir uns auf. Die ganze Nacht warf ich mich von einer Seite auf die andere und schreckte immer wieder aus dem Schlaf hoch. Wenn es mir endlich gelang einzuschlafen, bekam ich gräßliche Alpträume. Ich träumte, Chris und ich wären in einem dunklen tiefen Wald, wo wir uns verlaufen hatten und nach Carrie und Cory suchten. Mit den lautlosen Stimmen des Traumes riefen wir ihre Namen. Aber die Zwillinge antworteten nie. Wir gerieten in Panik und stürzten blindlings in die völlige Dunkelheit.

Dann ragte vor uns in der Nacht plötzlich ein Haus auf, das aus lauter Lebkuchen zusammengesetzt schien. Dazu entdeckten wir Eiskremhörnchen daran und Schokoladenriegel und all die anderen Süßigkeiten, die uns schon so lange fehlten. Ich schickte einen schnellen Gedanken zu Chris hinüber. Nein! Das ist ein Trick! Eine Falle! Wir dürfen da nicht rein!

Er antwortete: Wir müssen hinein! Wir müssen die Zwillinge retten!

Leise schlichen wir uns in das Lebkuchenhaus. Wir sahen eine frisch gebutterte Backform, und das Sofa war aus goldenem, frisch gebackenem Brot.

In der Küche stand die furchtbarste Hexe der Welt! Mit einer Hakennase, vorspringendem Kinn, eingesunkenem, zahnlosem Mund. Ihr Kopf war ein Mop von nach allen Richtungen abstehenden grauen Haarsträhnen.

Sie hielt unsere Zwillinge an den langen goldenen Haaren hoch. Gerade sollten die zwei in den heißen Ofen geworfen werden! Sie sahen beide schon ganz blau und rot aus, und ihr Fleisch verwandelte sich bereits, ohne gebacken zu werden, in Lebkuchen, und ihre blauen Augen wurden zu schwarzen Rosinen!

Ich schrie! Wieder und wieder schrie ich!

Die Hexe wandte sich zu mir um und funkelte mich mit ihren grauen Steinaugen an. Ihr eingesunkener Mund, scharf wie ein Messer, öffnete sich weit zu einem Lachen. Hysterisch lachte und lachte sie, während Chris und ich von Entsetzen geschüttelt wurden. Sie warf den Kopf zurück, und ihr weit aufgerissener Mund entblößte lange spitze Eckzähne – und dann begann sie sich auf erstaunliche, furchterregende Weise von der Großmutter in eine andere Person zu verwandeln. Aus einer Raupe wurde ein Schmetterling, während wir erstarrt dastanden und nur zusehen konnten ... und aus der Schreckensgestalt wurde ... unsere Mutter!

Mammi! Ihr blondes volles Haar wehte wie schimmernde Goldbänder, doch diese goldenen, seidenen Haarsträhnen wurden immer mehr, schoben sich über den Fußboden, ringelten sich wie Schlangen auf uns zu! Haarlocken krochen über unsere Füße, ringelten sich um unsere Beine, glitten zu unseren Kehlen ... versuchten uns zum Schweigen zu bringen, uns zu erdrosseln ... damit wir die Erbschaft nicht bedrohen konnten!

»Ich liebe euch, ich liebe euch, ich liebe euch«, wisperte sie lautlos.

Ich schreckte aus dem Schlaf hoch, aber Chris schlief fest. Die Zwillinge ebenfalls.

Verzweifelt kämpfte ich dagegen an, als ich merkte, daß der Schlaf mich wieder überkam. Ich versuchte ihn abzuschütteln, mich von dieser Schläfrigkeit frei zu machen, in der man immer tiefer sank. Und dann war ich wieder tief in meinen Träumen versunken, in Nachtmahren. Ich stürzte wild durch die Dunkelheit, fiel in einen See von Blut. Blut, so zäh und klebrig wie Teer, mit dem Geruch von Teer. Diamantenschuppige Fische mit Schwanenköpfen und roten Augen schwammen in dem Blutsee. Sie kamen zu mir und nagten an meinen Armen und Beinen, bis sie ganz gefühllos wurden. Und die Fische mit den Schwanenköpfen lachten, freuten sich, daß sie mich erledigt hatten, daß ich von Kopf bis Fuß blutig war. Seht nur! Seht nur! Sie riefen mit wimmernden Stimmen, die echoten und echoten. Es erwischt dich doch!

Der Morgen dämmerte hinter den schweren Vorhängen, die das gelbe Licht der Hoffnung aussperrten.

Carrie drehte sich im Schlaf auf die Seite und kuschelte sich näher an mich. »Mammi«, murmelte sie, »ich mag das hier nicht.« Ihr seidiges Haar auf meinem Arm fühlte sich wie Daunen an, als langsam in meine Arme und Beine das Gefühl zurückkehrte.

Ich lag still auf dem Bett, während Carrie mich ohne Unterbrechung anstupste, weil sie wollte, daß ich meinen Arm um sie legte. Was war mit mir los? Mein Kopf war so schwer. Er fühlte sich an, als hätte man ihn mit Steinen ausgestopft, die jetzt von innen gegen meinen Schädel drückten. Die Schmerzen waren so schlimm, daß ich meinte, der Schädel müsse mir von diesem Druck platzen. Meine Zehen und meine Finger fühlten sich noch immer taub an. Mein Körper schien aus Blei zu sein. Die Wände schienen mal auf mich zu fallen, dann vor mir zurückzuweichen, und nichts schien gerade Linien zu haben.

Ich versuchte, mich im großen Ankleidespiegel anzusehen, aber ich konnte meinen Kopf nicht in diese Richtung drehen. Er kam mir aufgebläht vor. Immer wenn ich mich abends auf dem Kopfkissen zurechtlegte, breitete ich mein Haar um mich aus, so daß meine Wange sich an die süß riechende Seide meiner vollen, oft gebürsteten, gesunden, starken Haarpracht kuscheln konnte. Es war eines der Gefühle, die ich besonders genoß, das Haar an meiner Wange zu spüren und mich damit in süße Träume der Liebe zu kuscheln.

Doch heute lag kein Haar mehr auf dem Kopfkissen. Wo war mein Haar?

Die Schere lag noch immer auf dem Ankleidetisch. Ich konnte sie undeutlich aus dem Augenwinkel erkennen. Nachdem ich mehrmals geschluckt hatte, um meine ausgedörrte Kehle frei zu bekommen, gelang es mir, einen kleinen Schrei auszustoßen, nach Chris, nicht nach Mammi. Ich betete zu Gott, daß mein Bruder mich hörte. »Chris«, gelang es mir schließlich herauszubringen, »mit mir stimmt was nicht.«

Mein schwaches, heiseres Gekrächze ließ Chris hochfahren, auch wenn ich nicht weiß, ob er es verstand. Er setzte sich auf und rieb sich verschlafen die Augen. »Was ist denn, Cathy?«

Ich flüsterte etwas, das ihn veranlaßte, sich in seinem zerknitterten Pyjama zu meinem Bett zu begeben. Sein von einem wirren Berg goldener Haare umrahmter Kopf beugte sich über mich und zuckte zurück. Er holte scharf Luft und gab kleine keuchende Geräusche des Entsetzens und der Überraschung von sich.

»Cathy, o mein Gott!«

Sein Schrei ließ es mir eiskalt den Rücken herunterlaufen.

»Cathy ... oh, Cathy!« stöhnte er.

Während er mich anstarrte und ich mich fragte, was er wohl sah, das ihm die Augen fast aus den Höhlen treten ließ, gelang es mir, meine bleiernen Arme zu heben und nach meinem angeschwollenen, schweren Kopf zu fühlen. Irgendwie schob ich meine Hände hoch – und dann fand ich sofort eine laute Stimme, um loszubrüllen. Richtig zu brüllen! Wieder und wieder kreischte ich wie eine Wahnsinnige, bis Chris mich in den Arm nahm.

»Hör auf, bitte, hör auf«, schluchzte er. »Denk an die Zwillinge ... verängstige sie nicht noch mehr ... schrei bitte nicht mehr so, Cathy. Sie haben doch schon soviel aushalten müssen, und ich weiß, daß du sie nicht völlig verstören willst, aber genau das passiert, wenn du weiter so brüllst und kreischst. Es ist alles nicht so schlimm, ich mach’ das Zeug weg. Ich schwöre dir bei meinem Leben, daß ich es heute noch schaffen werde, dir diesen Teer wieder aus den Haaren zu holen.«

Er fand an meinem Arm eine winzige rote Einstichstelle, wo die Großmutter mir eine Spritze mit Schlafmittel gegeben haben mußte. Und während ich dann schlief oder betäubt war, hatte sie mir die Haare mit Teer eingeschmiert. Sie mußte mein Haar vorher erst einmal zu einem sauberen Knoten zusammengebunden haben, bevor sie mit dem Teeren begonnen hatte, denn es war nicht eine einzige Strähne frei geblieben.

Chris versuchte mich davon abzuhalten, in den Spiegel zu blicken, aber ich stieß ihn weg und mußte mit eigenen Augen den furchtbaren schwarzen Klumpen sehen, den ich jetzt anstelle meines Haars auf dem Kopf trug. Wie ein riesiger schwarzer Kaugummi klebte das Zeug an mir, es war mir sogar über das Gesicht geschmiert, und über die Wangen liefen mir schwarze Tränen.

Ich sah mich, und ich wußte sofort, daß ich diesen Teer nie aus meinem Haar bekommen würde. Niemals!

Cory wurde als erster wach. Er wollte wie immer sofort zum Fenster laufen, um zwischen den Vorhängen hinauszuspähen und die Sonne zu suchen, die sich immer vor ihm versteckte.

Er riß die Augen auf, als er mich sah, und vergaß das Fenster und die Sonne. Seine Lippen öffneten sich. Seine kleinen verspielten Hände hoben sich vor das Gesicht, und er rieb sich mit seinen Fäusten die Augen. Dann starrte er mich wieder völlig ungläubig an. »Cathy«, brachte er schließlich heraus, »bist du das?«

»Das nehme ich an.«

»Warum ist dein Haar schwarz?«

Bevor ich diese Frage beantworten konnte, wachte Carrie auf. »Iiiih!« kreischte sie los. »Cathy – dein Kopf sieht aber komisch aus!« Große Tränen schimmerten in ihren Augen und liefen ihr langsam über die Wangen. »Ich mag deinen Kopf so nicht!« schluchzte sie und weinte dann los, als hätte sie den Teer auf dem Kopf.

»Beruhige dich, Carrie«, sagte Chris im normalsten Tonfall der Welt. »Das ist nur Teer, was Cathy da in den Haaren hat – und wenn sie in die Wanne geht und sich das Haar shamponiert, sieht es bald wieder genauso aus wie immer. Während Cathy das jetzt tut, möchte ich, daß ihr beide die Orangen zum Frühstück eßt und ein bißchen Fernsehen guckt. Später frühstücken wir dann alle zusammen richtig, sobald Cathy die Haare sauber hat.« Er erwähnte die Großmutter nicht einmal, aus Angst, den Kleinen damit noch mehr Angst einzujagen, als unsere Lage ihnen auch so schon einflößen mußte. Die Zwillinge setzten sich dicht aneinandergeschmiegt vor den Fernseher, schälten sich die Apfelsinen und verloren sich im süßen Nichts von Zeichentrickfilmen und anderen Samstagmorgen-Serien voller Gewalt und Unsinn.

Chris befahl mich in eine Wanne mit heißem Wasser. In dieses fast kochende Wasser tunkte ich immer wieder meinen Kopf, während Chris sich bemühte, den Teer mit Shampoo aufzuweichen. Der Teer wurde weicher, aber er löste sich nicht, und mein Haar wurde davon nicht sauberer. Chris’ Finger kneteten eine klebrige braune Masse. Ich hörte mich selbst leise wimmernde Töne ausstoßen. Er versuchte es, oh, und wie er es versuchte, den Teer herauszubekommen, ohne dabei gleich alle Haare mit abzureißen. Ich dachte immer nur an die Schere – die schimmernde Schere, die die Großmutter auf den Ankleidetisch gelegt hatte.

Neben der Wanne kniend gelang es Chris endlich, sich mit den Fingern durch den Teerknoten zu arbeiten, aber als er die Hände zurückzog, klebten sie voller ausgerissener geschwärzter Haare. »Wir müssen die Schere nehmen!« rief ich, der ganzen Sache nach über zwei Stunden nun doch müde. Die Schere war der letzte Ausweg. Chris überlegte laut, daß es eine chemische Verbindung geben müßte, die den Teer auflösen konnte, ohne meine Haare anzugreifen. Er besaß einen sehr professionell ausgestatteten Chemiekasten, den Mammi ihm besorgt hatte. Den Deckel zierte eine beeindruckende Warnung: »Dieser Kasten ist kein Spielzeug. Er enthält gefährliche Chemikalien und ist nur für den Fachgebrauch oder Unterrichtszwecke geeignet.«

»Cathy«, meinte Chris und hockte sich auf die nackten Fersen, »ich gehe jetzt auf den Dachboden und mische eine Verbindung zusammen, mit der wir den Teer von den Haaren abbekommen.« Dann grinste er mich schüchtern an. Die Badezimmerlampe schimmerte auf dem weichen Flaum, der sich auf seiner Oberlippe kräuselte, und ich wußte, daß ihm kräftigeres, dunkleres Haar auf den unteren Körperpartien wuchs – genau wie bei mir. »Ich habe da noch eine Idee«, sagte er dann. »Du kannst mir den Rücken zudrehen und dir die Ohren zuhalten, und dann könnte das Ammoniak aus meinem Urin den Teer auflösen.«

Ich konnte mir nicht helfen, ich mußte ihn verblüfft anstarren. Dieser Tag nahm inzwischen alptraumhafte Gestalt an. In einer Wanne voll kochendem Wasser sitzen, die jemand als Toilette benutzt, und anschließend meine Haare darin waschen? Konnte das wirklich wahr sein, was Chris gerade hinter mir machte? Nein, sagte ich mir, das war nicht wirklich, nur ein böser Traum.

Aber es war Wirklichkeit. Da standen sogar die Zwillinge, Hand in Hand, musterten mich interessiert und wollten wissen, warum ich so lange brauchte.

»Cathy, was ist das für ein Zeug in deinem Haar?«

»Teer.«

»Warum hast du dir Teer in die Haare geschmiert?«

»Muß mir im Schlaf passiert sein.«

»Wo hast du denn den Teer her?«

»Vom Dachboden.«

»Warum wolltest du dir den Teer in die Haare kleben?«

Ich haßte es zu lügen! Ich hätte ihnen gerne erzählt, wer mir den Teer in die Haare geschmiert hatte, aber ich konnte es nicht. Carrie und Cory lebten sowieso schon in ständigem Schrecken vor der alten Frau. »Komm, geh wieder fernsehen, Carrie«, befahl ich, von der Fragerei irritiert und weil ich es nicht mehr aushielt, in die schmalen, hohlwangigen Gesichter mit den eingesunkenen Augen zu blicken.

»Cathy, magst du mich nicht mehr nicht?«

»Es heißt ›nicht mehr‹.«

»Nein?«

»Natürlich mag ich dich, Cory. Ich habe euch beide sehr lieb, aber ich habe mir versehentlich den Teer in die Haare geschmiert, und nun ärgere ich mich furchtbar über mich selber.«

Carrie wanderte wieder zurück zum Fernseher, und Cory folgte ihr. Sie flüsterten sich etwas in ihrer eigenartigen Kindersprache zu, die außer ihnen niemand verstehen konnte. Manchmal kam es mir so vor, als wären die beiden viel klüger, als Chris und ich ahnten.

Stundenlang saß ich in der Badewanne, während Chris Dutzende verschiedener Chemikalien zusammenbraute, die er an einer Strähne meines Haares zunächst vortestete. Er versuchte alles und ließ mich mehrfach das Badewasser wechseln, wobei es jedesmal heißer sein mußte. Ich schrumpelte wie ein alter Apfel zusammen, bis er den Teer Stückchen für Stückchen aus meinem Haar gezogen hatte. Schließlich ging der Teer ab, und eine Menge von meinem Haar gleich mit. Aber ich hatte sehr viele Haare und konnte mir erlauben, eine ganze Menge davon zu verlieren, ohne daß man einen Unterschied sehen konnte. Als es dann endlich vorbei war, wurde es schon Abend, und weder Chris noch ich hatten einen Bissen gegessen. In ein Handtuch gewickelt saß ich auf meinem Bett und trocknete mein stark ausgedünntes Haar. Was übriggeblieben war, fühlte sich spröde an. Die Haare brachen leicht ab, und ihre Farbe war fast Platinblond.

»Du hättest dir die ganze Mühe sparen können«, meinte ich zu Chris, der hungrig zwei Kräcker mit Käse verspeiste. »Sie hat bisher kein Essen gebracht, und sie wird keines bringen, bis du alles abgeschnitten hast.«

Er kam zu mir und reichte mir einen Teller mit Käse und Kräckern, dazu ein Glas Leitungswasser. »Iß und trink. Wir werden schon mit ihr fertig. Wir legen sie rein. Wenn sie uns bis morgen abend kein Essen gebracht hat, und Mammi nicht aufgetaucht ist, schneide ich dir etwas von deinem Haar über der Stirn ab. Dann wickelst du dir ein Tuch um den Kopf, als würdest du dich wegen deines Kahlkopfes schämen, und die paar fehlenden Strähnen sind bald nachgewachsen.«

Sparsam aß ich von dem Käse und den Kräckern. Ich antwortete nicht. Mit ein paar Schlucken Wasser spülte ich das karge Mahl hinunter. Dann bürstete Chris mir das ausgebleichte Haar, das soviel durchgemacht hatte. Eigenartig, wie sich die Dinge manchmal so ergaben: Mein Haar hatte niemals zuvor so geleuchtet und sich mehr wie feinste Seide angefühlt, und ich war so dankbar dafür, überhaupt noch welches zu haben. Ich lag erschöpft auf dem Bett ausgestreckt, von meinen aufgewühlten Gefühlen entnervt, und sah zu Chris, der einfach dasaß und mich betrachtete. Als ich einschlief, saß er noch immer so, und er hielt eine lange Locke meines feinen, seidigen Haares in der Hand.

Auch in dieser Nacht wurde ich immer wieder wach, wälzte mich ruhelos und gequält im Bett. Ich fühlte mich hilflos, wütend und verzweifelt.

Und dann sah ich Chris.

Er hatte noch immer die Kleidung an, die er den ganzen Tag getragen hatte. Er hatte den schwersten Stuhl im Zimmer vor die Tür geschleppt, und in diesem Stuhl saß er und döste vor sich hin, während er in einer Hand die scharfe, lange Schere hielt. Er blockierte die Tür, so daß die Großmutter nicht wieder heimlich hereinschleichen und mit der Schere ihr Werk vollenden konnte. Selbst im Schlaf schützte er mich vor ihr.

Als ich zu ihm hinüberstarrte, schlug er die Augen auf und schreckte hoch, als hätte er ein schlechtes Gewissen, weil er eingedöst war, anstatt mich zu beschützen. Im Dämmerlicht unseres abgeschlossenen Zimmers trafen sich unsere Blicke, hielten sich fest, und ganz langsam begann er zu lächeln. »Hallo.«

»Chris«, schluchzte ich, »geh ins Bett. Du kannst sie nicht für immer draußen halten.«

»Ich kann es, während du schläfst.«

»Dann laß mich auch wachen. Wir lösen uns ab.«

»Wer ist hier der Mann, du oder ich? Abgesehen davon esse ich mehr als du.«

»Was hat das denn damit zu tun?«

»Du bist einfach zu dünn, und wenn du die ganze Nacht wach bleibst, wirst du noch dünner, während ich es mir leisten kann, ein paar Pfund zu verlieren.«

Er war auch längst untergewichtig. Wir waren das alle, und sein bescheidenes Gewicht würde eine solche Großmutter nicht aufhalten können, wenn sie wirklich die Türe aufdrücken wollte. Ich stand auf und wollte mich zu ihm auf den Stuhl setzen, aber er protestierte galant.

»Pssst«, wisperte ich. »Wir beide zusammen können sie besser draußen halten, und wir können so beide schlafen.« Eng umschlungen schliefen wir zusammen ein.

Und der Morgen kam ... ohne Großmutter ... ohne Essen.

Die Tage des Hungers zogen sich endlos und elend dahin.

Nur zu bald waren der Käse und die Kräcker aufgegessen, auch wenn wir noch so sparsam damit umgingen. Und dann wurde es wirklich hart. Chris und ich tranken nur noch Wasser, und was wir noch an Milch übrig hatten, hoben wir für die Zwillinge auf.

Chris kam mit der Schere in der Hand zu mir und schnitt mir zögernd und mit Tränen in den Augen die Stirnhaare ab. Ich sah nicht in den Spiegel danach. Den noch immer langen Rest steckte ich mir zu einer Krone hoch und wickelte ein Tuch darum wie einen Turban.

Dann merkten wir, daß die Großmutter gar nicht kam, um nachzusehen.

Sie brachte uns kein Essen, keine Milch, keine saubere Bettwäsche, nicht einmal Seife oder Zahnpasta, die uns ausgegangen waren. Nicht einmal Toilettenpapier. Wie bedauerte ich jetzt, all das Geschenkpapier weggeworfen zu haben, in das Mammis Geschenke immer eingewickelt waren. Es blieb uns nichts anderes übrig, als aus den ältesten der Dachboden-Bücher Seiten herauszureißen.

Dann verstopfte sich die Toilette und lief über, und Cory begann zu schreien, als sich die ekligen Fluten in das Badezimmer ergossen. Wir hatten keinen Abflußreiniger, mit dem wir das Klo hätten bearbeiten können. In wilder Hektik überlegten Chris und ich, was wir tun konnten. Während er dann aus einem alten Mantel und Draht einen Reiniger bastelte, schleppte ich alte Kleider vom Dachboden und wischte damit die Schweinerei auf.

Irgendwie schaffte Chris es, den verstopften Abfluß wieder frei zu bekommen. Danach ging er wortlos neben mir auf die Knie, und wir wischten gemeinsam mit den Kleidern aus den Dachboden-Truhen den Boden.

Bald hatten wir genug dreckige, stinkende Lumpen, daß wir damit eine ganze Truhe vollstopfen konnten und die Geheimnisse des Dachbodens so um ein weiteres, schmutziges vermehrten.

Wir entzogen uns dem vollen Ausmaß des Schreckens, den unsere Lage mit sich brachte, indem wir möglichst wenig darüber sprachen. Wir standen auf, spritzten uns ein wenig Wasser ins Gesicht, liefen ein wenig herum und legten uns dann wieder auf die Betten, um Fernsehen zu schauen oder zu lesen, und es war uns total egal, ob sie hereinkam und sah, daß wir die Tagesdecken zerknautschten. Was kümmerte uns das jetzt noch?

Die Zwillinge nach etwas zu essen weinen zu hören brachte meiner Seele Verletzungen bei, die nie mehr heilen würden. Und ich haßte diese alte Frau – und Mammi – dafür, daß sie uns so etwas antaten!

Und wenn die Essenszeiten ohne etwas zu essen vorbeigegangen waren, schliefen wir wieder. Endlose Stunden schliefen wir. Wenn man schläft, spürt man keinen Hunger, keine Einsamkeit, keine Bitternis. Im Schlaf kann man sich einer falschen Euphorie hingeben, und wenn man aufwacht, kann einem der Schlaf vorher gleichgültig sein.

Es kam ein blasser, unwirklicher Tag, als wir lustlos alle vier auf unseren Betten lagen und das einzige Leben in der kleinen Flimmerkiste in der Ecke stattfand. Benommen und schläfrig drehte ich den Kopf, ohne besonderen Grund, nur, um zu sehen, was Carrie und Cory wohl machten. Ohne viel dabei zu empfinden, lag ich da und sah zu, wie Chris sein Taschenmesser herausnahm und sich das Handgelenk aufschnitt. Er führte Cory seinen blutenden Arm an den Mund und ließ ihn das Blut trinken, auch wenn Cory zunächst protestierte. Dann kam Carrie an die Reihe. Diese beiden, die nichts aßen, was auch nur ein bißchen »komisch« aussah oder schmeckte, tranken das Blut ihres älteren Bruders und starrten ihn dabei mit leeren, akzeptierenden Augen an.

Ich wandte mich ab. Mir wurde schlecht von dem, was er da tat, und gleichzeitig bewunderte ich, daß er es tun konnte. Er konnte für jedes Problem eine Lösung finden.

Chris kam zu mir und setzte sich neben mich auf das Bett. Er sah mich endlos lange an, dann senkten sich seine Augen zu dem Schnitt an seinem Handgelenk, der jetzt nicht mehr so blutete. Er hob sein Taschenmesser, um einen zweiten Schnitt zu machen, damit auch ich von seinem Blut trinken konnte. Ich hielt ihn zurück, entwand ihm das Messer und warf es weg. Er lief sofort hinterher, hob es auf und begann, es mit Alkohol zu säubern, trotz meiner Schwüre, niemals von seinem Blut zu trinken und ihm noch mehr von seiner Kraft zu nehmen.

»Was machen wir, Chris, wenn sie überhaupt nicht mehr kommt?« fragte ich benommen. »Sie wird uns einfach verhungern lassen.« Ich meinte natürlich die Großmutter, die wir jetzt seit zwei Wochen nicht zu sehen bekommen hatten. Und Chris hatte übertrieben, als er sagte, wir hätten ein ganzes Pfund Käse versteckt. Wir benutzten den Käse für unsere Mausefallen und waren inzwischen soweit, daß wir selbst aus den Fallen die Käseköder wieder herausgenommen hatten – für uns selbst. Jetzt waren wir seit drei Tagen ohne einen einzigen Bissen im Magen, und vier Tage lang hatten wir nur Käsebröckchen und ein paar Kräcker zu uns genommen. Die Milch, die wir für die Zwillinge aufgehoben hatten, war seit zehn Tagen schon zu Ende.

»Sie kann uns nicht verhungern lassen«, sagte Chris, während er sich neben mich legte und in seine schwachen Arme nahm. »Wir sind Idioten gewesen, ohne jedes Rückgrat, ihr zu erlauben, so etwas zu tun. Wenn sie morgen nicht kommt, klettern wir an unserer Bettlaken-Notleiter vom Dach.«

Mein Kopf lag auf seiner Brust, und ich konnte sein Herz klopfen hören. »Woher weißt du, was sie kann und nicht kann? Sie haßt uns. Sie will, daß wir sterben – hat sie uns nicht immer erzählt, daß wir gar nicht hätten geboren werden dürfen?«

»Cathy, die alte Hexe ist nicht verrückt. Sie wird uns bald zu essen bringen, bevor Mammi zurückkommt, wo immer sie auch gerade sein mag.«

Ich stand auf und verband ihm das Handgelenk. Vor zwei Wochen hätten Chris und ich die Flucht versuchen sollen, als wir beide noch genug Kraft für den gefährlichen Abstieg hatten. Wenn wir es jetzt wagten, würden wir uns zu Tode stürzen, und die Zwillinge auf unseren Rücken würden es erst recht unmöglich machen.

Aber als der nächste Morgen kam und wir immer noch nichts zu essen gebracht bekamen, schleppte Chris uns auf den Dachboden. Er und ich mußten die Zwillinge hinauftragen, denn sie waren inzwischen zu schwach, um allein zu laufen. Erschöpft ließen die Zwillinge sich in einer Ecke des Schulraumes, in die wir sie getragen hatten, auf den Boden sinken und rührten sich nicht mehr. Chris machte sich daran, Stricke zu suchen, mit denen wir uns die Zwillinge sicher auf die Rücken binden konnten. Keiner von uns erwähnte die Möglichkeit, daß wir dabeisein konnten, Selbstmord zu begehen und Mord dazu, falls wir abstürzten.

»Wir müssen es anders machen«, überlegte Chris plötzlich laut. »Ich werde zuerst gehen. Wenn ich unten angekommen bin, bindest du Cory an einem Seil fest, so fest, daß er sich nicht freistrampeln kann, und dann läßt du ihn zu mir herunter. Danach machst du es mit Carrie genauso. Und du kommst zuletzt runter. Und, um Gottes willen, streng dich mit allem an, was du hast! Bete zu Gott, daß er dir Kraft gibt – sei nicht apathisch. Sei wütend, denk an Rache! Ich habe gehört, daß die Wut einem in einer Notlage ungeheure Kräfte verleihen kann.«

»Laß mich zuerst gehen. Du bist kräftiger«, wandte ich schwach ein.

»Nein! Ich will lieber unten sein, um auffangen zu können, falls jemand zu schnell runterkommt. Und deine Arme haben nicht die Kraft dafür wie meine. Ich binde das Seil um einen Schornstein, so daß du nicht das ganze Gewicht alleine zu tragen hast. Cathy, das ist wirklich eine Notlage!«

Mein Gott, ich konnte einfach nicht glauben, was er als nächstes von mir verlangte!

Mit Entsetzen starrte ich auf die vier toten Mäuse in unseren Fallen. »Wir müssen diese Mäuse essen, um wenigstens wieder ein bißchen zu Kräften zu kommen«, erklärte er mir grimmig. »Und was man tun muß, kann man auch tun!«

Rohes Fleisch? Rohe Mäuse? »Nein«, flüsterte ich, angeekelt vom Anblick dieser steifen, toten Dinger.

Er wurde wütend und rücksichtslos, schrie mich an, ich würde alles tun, was notwendig sei, um die Zwillinge und mich am Leben zu erhalten. »Schau, Cathy, ich esse meine beiden zuerst, nachdem ich eben unten noch Salz und Pfeffer geholt habe. Und ich muß noch einen Kleiderbügel holen, mit dem ich die Knoten noch enger zusammenziehe – Hebelwirkung, weißt du. Meine Hände haben nicht mehr soviel Kraft.«

Natürlich hatten sie das nicht. Wir waren inzwischen alle so schwach, daß wir uns kaum noch rühren konnten.

Er warf mir einen kurzen, aufmunternden Blick zu. »Ehrlich, du, mit Salz und Pfeffer sind Mäuse ganz schmackhaft.«

Schmackhaft.

Er schnitt die Köpfe ab, häutete sie dann und nahm sie aus. Ich sah zu, wie er die kleinen Bäuche aufschlitzte und lange, schleimige Eingeweide herauszog, kleine Herzen und andere winzige Innereien.

Ich hätte mich übergeben, wenn ich dazu irgend etwas im Magen gehabt hätte.

Er schleppte sich quälend langsam zur Speichertreppe – und auch wenn er schwach war, zeigte mir die Langsamkeit, daß sein Appetit auf Mäuse ebenfalls nicht so überwältigend sein konnte.

Während er fort war, mußte ich unentwegt auf die gehäuteten Mäuse starren, die unsere nächste Mahlzeit abgeben sollten. Ich schloß die Augen und versuchte mich dazu zu zwingen, den Ekel vor dem ersten Bissen zu überwinden. Ich war hungrig, aber nicht hungrig genug, um dabei sehr erfolgreich zu sein.

Ich dachte dann an die Zwillinge, die mit geschlossenen Augen in der Ecke dösten, die Arme umeinandergelegt, Kopf an Kopf geschmiegt. So mußten sie sich auch in den Armen gehalten haben, als sie noch in Mammis Bauch zusammenlagen und darauf warteten, geboren zu werden, damit man sie in einem abgelegenen Zimmer einsperren und verhungern lassen konnte. Unsere beiden kleinen Schmetterlinge, die einmal einen Vater und eine Mutter gekannt hatten, von denen sie geliebt worden waren.

Und doch, da war die Hoffnung, daß die Mäuse mir und Chris genug Kraft geben würden, um sicher mit den beiden den Boden zu erreichen, und ein freundlicher Nachbar ihnen zu essen geben würde – uns allen. Vorausgesetzt, wir schafften es lebend bis vor seine Tür ...

Ich hörte die langsamen Schritte von Chris zurückkommen. Er zögerte an der Tür, halb lächelnd, seine blauen Augen trafen sich mit meinen ... und strahlten. Mit beiden Händen trug er den großen Picknick-Korb, den wir so gut kannten. Er war so vollgepackt, daß die Deckel sich nicht mehr schließen ließen.

Chris nahm zwei große Thermoskannen heraus: eine mit Gemüsesuppe, die andere mit kalter Milch. Ich fühlte mich so betäubt, fassungslos und hoffnungsvoll. War Mammi zurückgekommen und hatte uns das gebracht? Warum hatte sie uns dann nicht nach unten gerufen? Oder warum war sie nicht auf den Dachboden gekommen?

Ich nahm Cory auf den Schoß, Chris schnappte sich Carrie, und wir fütterten sie löffelweise mit der Suppe. Sie nahmen die Suppe an, so wie sie das Blut akzeptiert hatten – ein weiteres Ereignis in ihrem ungewöhnlichen Leben, mehr nicht. Wir brachen ihnen kleine Häppchen von den Sandwiches ab. Wir aßen sehr vorsichtig und langsam, denn Chris meinte, daß wir sonst alles wieder erbrechen würden.

Ich wünschte mir, Cory das Essen in den Schlund zu stopfen, damit ich endlich auch mir selbst etwas in den knurrenden Magen stopfen konnte. Er aß so verflucht langsam! Tausende Fragen schwirrten mir durch den Kopf: Warum heute? Warum hatten wir heute Essen bekommen und nicht gestern, nicht die Tage vorher? Was für Beweggründe hatte diese furchtbare Frau? Als ich schließlich mit dem Essen anfangen konnte, war ich zu apathisch, um es noch übermäßig zu genießen, und zu mißtrauisch, um mich wirklich erleichtert zu fühlen.

Nachdem Chris langsam etwas Suppe und ein halbes Sandwich gegessen hatte, packte er ein kleines mit Folie umwickeltes Paket aus. Vier mit Puderzucker bestreute Berliner kamen zum Vorschein. Wir, die niemals Süßigkeiten bekommen hatten, erhielten etwas Süßes zum Dessert – von der Großmutter – zum allerersten Mal. War das ihre Art, um Verzeihung zu bitten? Wir nahmen es als das, was immer auch dahinter stehen mochte.

Während unserer Woche des Hungerns war zwischen Chris und mir etwas Bestimmtes geschehen. Vielleicht hatte es damit angefangen, daß ich in der Wanne saß und Chris mit soviel verzweifeltem Eifer versuchte, mein Haar zu retten. Vor diesem Tag waren wir nur Bruder und Schwester gewesen, die die Rollen von Eltern spielten. Nun hatten sich unsere Beziehungen zueinander verändert. Wir spielten keine Rollen mehr. Wir waren wirklich die Eltern von Carrie und Cory. Wir fühlten uns verantwortlich für sie, sahen sie als unseren Lebensinhalt und einen Teil von uns selbst – und wir sahen auch uns beide so.

Die Würfel waren offensichtlich gefallen. Unserer Mutter schien es gleichgültig zu sein, was mit uns geschah.

Chris mußte mir nicht sagen, was in ihm angesichts ihrer Gleichgültigkeit vorging. Seine leeren Augen erzählten es mir. Seine lustlose Art, sich zu bewegen, sagte noch mehr. Er hatte ihr Bild immer neben seinem Bett gehabt, nun war es verschwunden. Er hatte immer viel mehr an sie geglaubt als ich, so daß seine Enttäuschung jetzt auch viel größer sein mußte. Und wenn er noch größere Schmerzen als ich empfand, dann mußte es Todespein sein.

Er nahm mich sanft an der Hand und bedeutete mir damit, daß wir jetzt zurück in unser Zimmer gehen konnten. Wir schwebten als bleiche, müde Geister die Treppe hinunter, alle in einem tiefgehenden Schockzustand, alle elend und schwach, besonders die Zwillinge. Ich bezweifelte, daß sie noch dreißig Pfund wogen. Ich konnte sehen, wie sie und Chris aussahen, aber ich konnte mich selbst nicht sehen. Ich blickte zu dem großen Ankleidespiegel und erwartete, dort eine Jahrmarktsnummer zu sehen, kurzes Haar auf dem Kopf und langes, blasses Haar hinten. Aber als ich hinguckte – da war kein Spiegel mehr!

Schnell rannte ich ins Badezimmer. Der Spiegel am Waschbecken war ebenfalls eingeschlagen! Zurück ins Zimmer, ich hob den Deckel des Ankleidetisches, den Chris oft als Schreibplatte benutzte ... und auch der Spiegel darunter war zerbrochen!

Wir konnten in zerschlagenes Glas sehen und darin unsere verunstalteten Spiegelbilder zu erkennen versuchen. Ja, vielleicht konnten wir unsere Gesichter in irgendeiner größeren Scherbe betrachten, verbogen und verzerrt. Das war kein Anblick, der einem gefallen konnte. Ich wandte mich von den zerbrochenen Spiegeln ab, stellte den Picknick-Korb an die kühlste Stelle und legte mich hin. Ich fragte nicht, warum die Spiegel zerstört oder fortgenommen worden waren. Ich wußte, warum sie es getan hatte. Eitelkeit war Sünde. Und in ihren Augen waren Chris und ich Sünder von der schlimmsten Sorte. Unter unseren Strafen mußten auch die Zwillinge leiden, aber ich hatte keine Ahnung, warum sie uns plötzlich wieder zu essen gebracht hatten.

Die nächsten Morgen kamen, jeder mit einem reichhaltig gefüllten Korb für uns. Die Großmutter weigerte sich, uns anzusehen, ja auch nur in unsere Richtung zu blicken. Sie war immer wieder schnell aus dem Zimmer. Ich trug einen Turban aus einem rosa Handtuch, der über der Stirn eine kahle Stelle frei ließ, aber wenn sie es bemerkte, sagte sie nichts dazu. Wir beobachteten, wie sie kam und ging, ohne zu fragen, wo Mammi war oder wann sie zurückkommen würde. Wer der Bestrafung so ausgeliefert ist, lernt seine Lektion schnell und spricht nicht, wenn er nicht angesprochen wird. Chris und ich starrten sie beide an und legten in unseren Blick Feindschaft, Haß und Wut in der Hoffnung, sie würde es daraus lesen. Aber sie sah uns nie auch nur zufällig in die Augen. Und dann schrie ich los und wollte, daß sie es sah, daß sie die Zwillinge sah, merkte, wie mager sie waren, wie tief ihnen die Augen in den Höhlen lagen. Aber sie reagierte einfach nicht darauf.

Auf dem Bett neben Carrie liegend blickte ich tief in mein Innerstes und erkannte, daß ich alles nur noch schlimmer machte, als es war. Nun verwandelte Chris, früher der frohgemute Optimist, sich in eine düstere Imitation von mir. Ich wollte ihn wieder haben, wie er vorher gewesen war – lächelnd und strahlend, jemand, der aus dem Schlechtesten das Beste machte.

Er saß vor dem Ankleidetisch, den Deckel heruntergeklappt, aufgeschlagene medizinische Bücher vor sich, die Schultern eingesunken. Er las nicht, er schrieb nichts. Er saß einfach da.

»Chris«, sagte ich und setzte mich auf, um mein Haar zu bürsten, »was meinst du wohl, wie viele Teenager die Erfahrung gemacht haben, mit sauberem, leuchtendem Haar ins Bett zu gehen und morgens geteert aufzuwachen?«

Er sah mich überrascht an, daß ich diesen gräßlichen Tag erwähnte. »Na ja«, meinte er zögernd, »meiner Meinung nach könntest du die einzige sein ... ganz allein.«

»Ach, da bin ich mir gar nicht so sicher. Erinnerst du dich noch, wie sie die Straße geteert haben? Mary Lou Baker und ich haben an einem der Töpfe mit dem heißen Teer gespielt und kleine Teerbabys geknetet, bis der Vorarbeiter kam und uns wegjagte.«

»O ja«, sagte er, »ich weiß noch, wie dreckig du warst, als du nach Hause kamst, und du hattest einen Teerklumpen im Mund, auf dem du kautest, weil dir jemand eingeredet hatte, davon würden deine Zähne weißer. Puh, Cathy, hat dir aber nicht geschadet, bloß eine Plombe ist dir dran hängengeblieben.«

»Das einzig Gute hier ist, daß wir nicht zweimal im Jahr zum Zahnarzt müssen.« Er sah mich komisch an. »Und eine andere gute Sache ist, daß wir soviel Zeit haben. Wir könnten endlich mal unser Monopoly-Turnier zu Ende spielen. Der Verlierer muß für alle die schmutzige Unterwäsche in der Badwanne waschen.«

Junge, damit war er zu ködern. Er haßte es, vor der Wanne zu knien, sich hineinzubeugen und für sich und Cory zu waschen.

Als wir alles aufgebaut hatten, meinte ich: »Du gewinnst ja doch immer. Ich riskiere es besser erst gar nicht. Vergessen wir das Turnier.«

»Feigling!« drängte er mich jetzt genauso spöttisch wie früher. »Komm, versuchen kannst du es wenigstens.« Er warf den Zwillingen, die wie immer die Bank führten, einen langen, scharfen Blick zu. »Und keine faulen Tricks diesmal«, drohte er. »Wenn ich einen von euch erwische, wie er Cathy heimlich Geld zusteckt, wenn ihr denkt, ich gucke nicht – dann esse ich jeden einzelnen von den vier Berlinern selbst auf!«

Jede Wette, daß er das nie getan hätte. Die Berliner waren das Beste von unserem ganzen Essen und wurden immer für das Abenddessert aufgehoben.

Stunde um Stunde spielten wir, unterbrochen wurde nur für die Mahlzeiten oder wenn jemand ins Bad mußte. Als die Zwillinge keine Lust mehr hatten, übernahmen wir selbst das Geldausteilen und sahen uns dabei scharf auf die Finger, damit sich keiner einen Tausender zuviel zukommen ließ. Und Chris landete im Gefängnis, und er kam nicht über ›Los‹ und zog keine zweitausend Dollar ein, und wenn er eine Gemeinschaftskarte zog, mußte er immer etwas bezahlen, und er mußte seine Hotels renovieren lassen ... und trotzdem gewann er!

Spät im August kam Chris eines Nachts zu mir und flüsterte mir ins Ohr: »Die Zwillinge schlafen tief und fest. Und es ist so heiß hier drinnen. Wäre es keine großartige Sache, wenn wir jetzt schwimmen gingen?«

»Verschwinde – laß mich in Ruhe – du weißt, daß wir nicht schwimmen gehen können.« Ich war noch immer etwas bissig von meinen permanenten Niederlagen beim Monopoly.

Schwimmen, was für eine idiotische Idee! Selbst wenn wir die Möglichkeit dazu gehabt hätten, war ich zur Zeit zu nichts aufgelegt, in dem er mich übertreffen konnte, und Schwimmen gehörte dazu. »Wo sollen wir denn wohl schwimmen, he? In der Badewanne?«

»In dem See, von dem Mammi uns erzählt hat. Es ist nicht weit von hier«, flüsterte er. »Wir müssen sowieso mal üben, wie wir mit unserer Notleiter hier rauskommen, für den Fall, daß wirklich irgendwann ein Feuer ausbricht. Wir sind wieder bei Kräften. Wir können ohne weiteres runterklettern, und wir bleiben nicht zu lange weg.« Er bettelte weiter und weiter, als hinge seine ganze Existenz davon ab, wenigstens einmal diesem Haus zu entkommen – einfach, um zu beweisen, daß wir es überhaupt konnten.

»Die Zwillinge könnten wach werden und merken, daß wir nicht da sind.«

»Wir lassen ihnen an der Badezimmertür einen Zettel da, daß wir auf dem Dachboden sind. Und abgesehen davon, sie wachen niemals nachts auf, nicht mal, um auf die Toilette zu gehen.«

Er argumentierte und drängte, bis ich überredet war. Ab auf den Dachboden ging es und hinaus aufs Dach, wo wir unsere zusammengeknoteten Bettlaken zur Sicherung um einen der Kamine schlangen, den, der der Hinterseite des Hauses am nächsten war. Acht Kamine gab es auf dem Dach.

Die Knoten einen nach dem anderen durchtestend gab Chris mir seine Instruktionen: »Benutz die großen Knoten wie Leitersprossen. Halt deine Hände immer an einen Knoten, knapp darüber. Geh dann langsam mit den Füßen tiefer und taste dich mit ihnen zum nächsten Knoten – und paß immer auf, daß du das Seil zwischen die Beine gedreht hast, dann kannst du nicht abrutschen und stürzen.«

Er packte das Seil und schob sich Stück für Stück auf den Rand des Daches zu. Zum erstenmal seit zwei Jahren befanden wir uns wieder auf dem Weg zum Erdboden.

Die Foxworth-Saga 1-3

Подняться наверх