Читать книгу Die Foxworth-Saga 1-3 - V.C. Andrews - Страница 19
Die Weihnachtsparty
ОглавлениеWie sie versprochen hatte, kam Mammi, nicht lange nachdem die Zwillinge eingeschlafen waren, in unser Zimmer geschlichen. Sie sah so hinreißend gut aus, daß mein Herz mir vor Stolz und Bewunderung schwoll, und ein wenig auch vor Neid. Ihr langes Abendkleid hatte einen fließenden Rock aus grünem Chiffon. Das Oberteil bestand aus Seide in einem etwas tieferen Grün und war tief ausgeschnitten. Große Ohrringe mit Diamanten und Smaragden funkelten bei jeder ihrer Bewegungen. Mammis Duft erinnerte mich an den betäubenden Dunst eines orientalischen Gartens im Mondschein. Kein Wunder, daß Chris sie wie gebannt anstarrte. Ich seufzte neiderfüllt. O lieber Gott, laß mich eines Tages auch so aussehen ... laß mich all diese schwellenden Kurven bekommen, die von den Männern so bewundert werden.
Wenn sie sich bewegte, schwebten die Chiffonfalten wie Flügel um sie, und so führte sie uns zum ersten Mal aus der düsteren Abgeschiedenheit unseres Verstecks. Durch die dunklen, weiten Flure des Nordflügels ging es, dicht auf Mammis silbernen Fersen. »Es gibt da einen Platz«, flüsterte sie, »an dem ich mich als Kind immer versteckt habe, um den Erwachsenenfesten zuzusehen, ohne daß meine Eltern davon wußten. Für euch beide zusammen ist es ein bißchen eng, aber es ist die einzige Stelle, an der ihr euch verstecken und gleichzeitig alles sehen könnt. Versprecht mir noch mal, daß ihr ganz still seid, und wenn ihr müde werdet, schleicht ihr euch schnell in euer Zimmer zurück – merkt euch den Weg.« Sie erklärte uns dann noch, daß wir nicht länger als eine Stunde zusehen dürften, denn die Zwillinge könnten wach werden und feststellen, daß sie allein waren. Möglich, daß sie dann auf die Suche nach uns gehen würden und allein durch das Haus liefen – Gott allein wußte, was dann passieren könnte.
Wir wurden zu einer Art länglichem Tisch mit einem schrankartigen Kasten darunter geführt. Der Kasten hatte zwei kleine Türen, durch die wir klettern mußten. Es war unbequem eng und stickig darin, aber wir konnten durch das feine Maschenwerk auf der Rückseite ausgezeichnet sehen. Offenbar war der Kasten so etwas wie ein Belüftungssystem.
Mammi stahl sich leise davon.
Tief unter uns lag ein riesiger Saal, strahlend hell durch Tausende von Kerzen beleuchtet, die in drei gigantischen Leuchtern aus Kristall und Gold steckten. Sie hingen von einer Decke, die zu hoch war, als daß wir sie noch hätten erkennen können. Ich hatte noch nie so viele Kerzen auf einmal brennen sehen. Der Geruch der Kerzen, die Art, wie ihr Licht von den funkelnden Prismen der Leuchter gebrochen wurde und sich in zahllosen blitzenden Strahlen im Schmuck der Frauen spiegelte, ließ alles zur Szene aus einem Traum werden – oder, besser, zu einer aus einem Film, scharf und klar, ein Ballsaal, in dem Aschenputtel mit ihrem Prinzen tanzte!
Hunderte von festlich gekleideten Leuten füllten lachend und sich unterhaltend den Saal. Und drüben in einer Ecke erhob sich ein unglaublicher Weihnachtsbaum! Er mußte mehr als zehn Meter hoch sein. Tausende von Kerzen leuchteten an ihm, dazu überall funkelnder Weihnachtsschmuck. Die Augen taten uns weh von soviel Glanz!
Dutzende von Bediensteten in rot-schwarzen Uniformen kamen und gingen ständig, brachten silberne Tabletts mit kalten Platten, die sie auf langen Tischen abstellten. In der Mitte dieser Tische sprudelte ein riesiger Kristallspringbrunnen, aus dem eine rötliche Flüssigkeit in eine silberne Schale floß. Viele der Gäste kamen, um sich an der Fontäne ihre Gläser zu füllen. Es gab noch zwei weitere Punschschalen aus Silber mit dazu passenden Bechern – beide Schalen groß genug, daß ein Kind darin hätte baden können. Es war schön, wunderbar, aufregend, begeisternd ... wie gut zu wissen, daß es außerhalb unseres verschlossenen Zimmers noch immer ein glückliches Leben gab.
»Cathy«, flüsterte Chris mir ins Ohr, »ich würde meine Seele geben, um nur einen Schluck von dieser Fontäne in der Kristallschüssel abzubekommen.«
Nichts anderes hatte ich selbst gerade gedacht.
Nie hatte ich mich so hungrig, so durstig und so ausgeschlossen gefühlt. Und doch waren wir beide verzaubert und schwindelig von all der Pracht, die großer Reichtum kaufen und zur Schau stellen konnte. Die Tanzfläche war mit einem Mosaik ausgelegt und so gewachst, daß sie wie Glas schimmerte. Große Spiegel in goldenen Rahmen hingen an den Wänden, und die Tänzer spiegelten sich überall, so daß man nicht mehr unterscheiden konnte, wo die Wirklichkeit aufhörte und die Spiegelbilder anfingen.
Chris und ich hefteten unsere Blicke an die Paare, die schön und jung waren. Wir flüsterten über ihre Kleider, ihre Frisuren und spekulierten, was für Beziehungen sie wohl hatten. Aber vor allem beobachteten wir unsere Mutter, die im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stand. Am häufigsten tanzte sie mit einem großen, gutaussehenden Mann, der dunkle Haare und einen großen Schnurrbart hatte. Er war es auch, der ihr ein Glas zu trinken brachte und einen Teller mit Leckerbissen vom Buffet. Sie saßen auf einem der roten Seidensofas mit Goldbrokaträndern zusammen und aßen Kanapees und Hors d’ œuvres. Ich fand, sie saßen ein wenig zu eng beisammen. Schnell sah ich von ihnen weg und schaute den drei Köchen hinter den langen Tischen zu, die ständig etwas zubereiteten, das mir wie sehr dünne Pfannkuchen vorkam und das sie mit verschiedenen Leckereien füllten. Der Geruch stieg bis zu uns herauf und ließ uns das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Unsere eigenen Mahlzeiten waren monotone, langweilige Angelegenheiten: Sandwiches, Suppen, der ewige Kartoffelsalat und die gebratenen Hühnchen. Dort unten gab es eine Gourmettafel aller erdenklichen Kostbarkeiten der Welt. Und das Essen war warm. Unseres war oft genug nicht mal lau. Unsere Milch stellten wir auf die Dachbodentreppe, damit sie in der Kälte frisch blieb – manchmal fanden wir sie halb gefroren. Wenn wir den Picknickkorb auch auf die Treppe stellten, schlichen sich die Mäuse vom Dachboden herunter und knabberten daran herum.
Von Zeit zu Zeit verschwand Mammi zusammen mit diesem Mann. Wohin gingen sie, und was taten sie dort? Küßten sie sich? Hatte sie sich in ihn verliebt? Selbst von meinem versteckten Aussichtsplatz aus konnte ich erkennen, daß der Mann von Mammi hingerissen war. Er konnte seine Augen nicht von ihrem Gesicht lassen und seine Hände nicht von ihren. Und wenn sie zu einer langsamen Musik tanzten, hielt er sie so dicht an sich gedrückt, daß ihre Wangen sich berührten. Wenn sie zu tanzen aufhörten, behielt er seinen Arm um ihre Schulter oder ihre Taille – und einmal wagte er es sogar, ihre Brust zu berühren!
Ich dachte, sie würde ihm jetzt in das gutaussehende Gesicht schlagen – ich hätte das jedenfalls getan! Aber sie drehte sich nur um und lachte und stieß ihn ein wenig zur Seite. Sie sagte etwas, was ihn ermahnte, sich in der Öffentlichkeit zurückzuhalten. Und er lächelte zurück und ergriff ihre Hand, die er an seine Lippen preßte, während die Augen der beiden einen langen, bedeutungsvollen Blick austauschten – so kam es mir jedenfalls vor.
»Chris, hast du Mammi mit diesem Mann gesehen?«
»Klar habe ich sie gesehen. Er ist fast so groß wie Daddy.«
»Hast du gesehen, was er gerade gemacht hat?«
»Sie lachen und unterhalten sich, essen und trinken und tanzen, ganz genauso wie alle anderen auch. Cathy, überleg dir mal, wenn Mammi das ganze Geld geerbt hat, dann können wir solche Partys selbst an Weihnachten geben und an unseren Geburtstagen. Vielleicht werden wir dann sogar einige der Gäste, die heute hier sind, selbst einladen. Und dazu laden wir auch unsere alten Freunde aus Gladstone ein. Junge, was werden die Augen machen, wenn sie sehen, wie wir hier leben!«
In diesem Augenblick standen Mammi und der Mann von dem Sofa auf und gingen hinaus. Also konzentrierten wir unsere Aufmerksamkeit auf die zweitschönste Frau der Gesellschaft und beobachteten sie und bedauerten sie dabei, denn gegen unsere Mutter hatte sie natürlich keine Chance.
Dann rauschte unsere Großmutter in den Ballsaal. Sie sah weder nach rechts noch nach links, noch lächelte sie irgend jemand an. Ihr Kleid war diesmal nicht grau – und das allein versetzte uns schon in Erstaunen. Ihr langes Abendkleid war aus rubinroter Seide, vorne eng geschnitten und hinten weit auslaufend, so daß es hinter ihr herwehte. Das Haar trug sie zu einem Turm hochgesteckt, den sorgfältig gelegte Locken zierten. Rubine und Diamanten glitzerten überall an ihrem Hals, ihren Ohren, den Armen und den Händen. Wer hätte gedacht, daß diese beeindruckende, königlich aussehende Frau die gräßliche Großmutter war, die uns jeden Tag heimsuchte?
Zögernd mußten wir uns in unseren geflüsterten Kommentaren eingestehen, daß sie großartig aussah.
»Ja, sehr beeindruckend. Wie eine Amazone so groß.«
»Eine böse Amazone.«
»Klar, eine kriegerische Amazone, die allein mit ihren Augen in die Schlacht zieht und jeden mit ihrem Blick tötet. Andere Waffen braucht sie gar nicht.«
Und da sahen wir ihn! Unseren unbekannten Großvater!
Mir stockte der Atem, als ich dort unten einen Mann entdeckte, der unserem Vater so unglaublich ähnlich gewesen wäre, wenn Daddy nur lange genug gelebt hätte, um alt und gebrechlich zu werden. Der Mann saß mit einem Smoking bekleidet in einem schimmernden Rollstuhl. Sein dünnes blondes Haar war fast weiß, und im Licht der Kerzen schimmerte es silbern. Seine Haut wirkte glatt und faltenlos, jedenfalls von unserem entfernten und versteckten Beobachtungsplatz aus. Abgestoßen und fasziniert zugleich, konnten Chris und ich die Augen nicht mehr von ihm nehmen, nachdem wir ihn in der Menge entdeckt hatten.
Er war ein zerbrechlich wirkender, aber noch immer unnatürlich gutaussehender Mann für sein hohes Alter von siebenundsechzig Jahren und dafür, daß er schon so gut wie tot sein sollte. Plötzlich hob er auf eine erschreckende Weise den Kopf und starrte nach oben, direkt auf unser Versteck! Für einen kurzen, entsetzlichen Augenblick hatte es den Eindruck, er wüßte, daß wir hier hinter dem Maschendraht verborgen waren! Ein schmales Lächeln spielte auf seinen Lippen. O Gott, was bedeutete dieses Lächeln?
Jedenfalls sah er nicht halb so herzlos wie die Großmutter aus. Konnte er wirklich der grausame und mitleidlose Tyrann sein, für den wir ihn hielten? Dem sanften, freundlichen Lächeln nach, das er allen Gästen schenkte, die kamen, ihn zu begrüßen und ihm die Hand zu reichen, schien er recht gutmütig zu sein. Einfach nur ein alter Mann in einem Rollstuhl, der nicht einmal sehr krank wirkte. Und doch war er es gewesen, der befohlen hatte, daß unsere Mutter sich nackt vom Rücken bis zu den Fersen hatte auspeitschen lassen müssen, und er hatte dabei zugesehen. Wie konnten wir ihm das jemals verzeihen?
»Ich wußte nicht, daß er wie Daddy aussieht«, flüsterte ich Chris zu.
»Warum nicht? Daddy war doch sein viel jüngerer Halbbruder. Großvater war schon ein Mann in den besten Jahren, bevor unser Vater auf die Welt kam, und verheiratet und Vater von zwei Söhnen ist er auch schon gewesen, als er dann noch Daddy zum Halbbruder erhielt.«
Das dort unten war also Malcolm Neal Foxworth, der Mann, der seine junge Stiefmutter und ihren kleinen Sohn aus dem Haus geworfen hatte.
Arme Mammi! Wie konnten wir ihr die Schuld dafür geben, daß sie sich in ihren jungen, bezaubernden Halbonkel verliebt hatte, einen Halbonkel, so gutaussehend und hinreißend wie unser Vater? Mit solchen Eltern, wie sie uns beschrieben worden waren, mußte sie einfach jemand finden, den man wirklich lieben konnte, und sie mußte jemand haben, der sie selbst wirklich liebte ... sie, und er auch.
Die Liebe fragt nicht nach dem Warum.
Man konnte sich nicht vorher aussuchen, in wen man sich verliebt – Amors Pfeile sind nicht immer gut gezielt. So flüsterten wir uns unsere Weisheiten zu.
Dann brachten uns plötzlich Schritte und Stimmen zum Schweigen, die sich unserem Versteck vom Flur aus näherten. Es mußten zwei sein.
»Corinna hat sich überhaupt nicht verändert«, sagte der für uns unsichtbare Mann, »sie ist nur noch schöner und noch geheimnisvoller geworden. Sie ist eine ungewöhnlich anziehende Frau.«
»Ha! Das ist nur, weil du schon immer einen Blick für sie hattest, Al«, antwortete seine weibliche Begleitung. »Zu schade, daß sie keine Augen für dich gehabt hat, sondern nur für Christopher Foxworth. Aber das war auch wirklich ein Mann! Was mich nur wundert, ist, wie diese beiden bigotten Holzköpfe da unten es Corinna verzeihen konnten, daß sie ihren Halbonkel geheiratet hat.«
»Sie mußten einfach. Wenn dir nur noch ein Kind von dreien geblieben ist, mußt du es ja wohl als reuigen Sünder wiederaufnehmen.«
»Ist es nicht seltsam, wie die Dinge sich manchmal entwickeln?« fragte die Frau. »Drei Kinder ... und ausgerechnet das verdorbenste, fortgejagte bleibt übrig, um alles zu erben.«
Der angetrunken wirkende Mann schnaubte. »Corinna war ja nicht immer die Verstoßene. Weißt du nicht mehr, wie der Alte sie früher angehimmelt hat? In seinen Augen konnte sie nie etwas falsch machen, bis sie dann mit Christopher durchbrannte. Aber dieser Feldwebel von Mutter hat nie auch nur ein bißchen Geduld mit seiner Tochter gehabt. Wahrscheinlich war sie eifersüchtig. Aber was für eine reife Frucht Bartholomew Winslow da in den Schoß fällt. Die hätte ich auch geerntet!« meinte der unsichtbare Al neidisch.
»Das kann ich mir vorstellen!« erwiderte die Frau sarkastisch und stellte etwas auf den Tisch über uns, das sich nach einem Glas mit Eiswürfeln anhörte. »Eine schöne, junge, steinreiche Frau, so eine Frucht würde jeder Mann gerne ernten. Nur daß Corinna für einen Einfaltspinsel wie dich, Albert Donne, eine Nummer zu groß ist. Corinna Foxworth wird dich nie auch nur eines Blickes würdigen. Als du jung warst nicht, und jetzt erst recht nicht. Abgesehen davon hab’ ich dich jetzt ja an der Leine!«
Das Paar entfernte sich langsam aus unserer Hörweite. Andere Stimmen kamen und gingen, während lange Stunden verstrichen.
Mein Bruder und ich wurden langsam des Zuschauens müde, und wir mußten beide dringend auf die Toilette. Außerdem begannen wir uns auch wegen der Zwillinge Sorgen zu machen, die wir so lange alleine gelassen hatten. Was, wenn nun einer der Gäste zufällig in unser verbotenes Zimmer geriet und die beiden schlafenden Zwillinge fand? Dann würde die ganze Welt – und unser Großvater natürlich auch – erfahren, daß unsere Mutter vier Kinder hatte.
Eine Gruppe von Gästen hatte sich um unser Versteck gelagert, lachte, schwätzte und trank. Es dauerte ewig, bis sie sich endlich entschlossen weiterzuziehen und wir mit größter Vorsicht unsere Schranktüren öffnen konnten. Da niemand in Sicht war, kletterten wir blitzschnell heraus und stürzten den Weg zurück, den wir gekommen waren. Atemlos und mit hängenden Zungen, den Druck auf der Blase kaum noch aushaltend, so erreichten wir ungesehen und ungehört unseren stillen, versteckten Raum.
Und unsere Zwillinge lagen tief und fest schlafend in den Betten, genau wie wir sie verlassen hatten. Sie schienen identische, zerbrechliche Porzellanpuppen zu sein ... wie Kinder auf uralten Fotos in den Geschichtenbüchern. Sie waren in keiner Weise Kinder, wie sie in unsere heutige Zeit paßten. Auch wenn sie das einmal gewesen waren. Aber sie würden es wieder sein, das schwor ich mir.
Als nächstes mußte ich mich mit Chris darüber streiten, wer zuerst ins Bad durfte – eine Frage, die schnell entschieden wurde. Chris stieß mich einfach auf mein Bett, rannte ins Bad und schloß hinter sich ab. Es kam mir vor, als brauchte er Stunden, um seine Blase zu leeren. Gütiger Himmel, wie schaffte er das nur, soviel einzuhalten?
Nachdem den natürlichen Bedürfnissen Genüge geleistet war, hockten wir uns zusammen, um noch einmal zu besprechen, was wir gehört und gesehen hatten.
»Glaubst du, daß Mammi wirklich diesen Bartholomew Winslow heiraten will?« fragte ich und hielt damit mein nie versiegendes Mißtrauen nicht mehr verborgen.
»Woher soll ich das wissen?« antwortete Chris auf eine Weise, die nicht sehr betroffen wirkte. »Aber es sieht wirklich so aus, als ob jeder sonst hier meint, sie würde ihn heiraten, und natürlich kennen diese Leute Mammi besser, was diese spezielle Seite angeht.«
Das klang für mich doch merkwürdig. Kannten wir, ihre Kinder, Mammi denn nicht besser als jeder sonst auf der Welt?
»Chris, warum hast du das gerade gesagt?«
»Was?«
»Na, das über unsere Mutter – daß andere sie besser kennen würden als wir.«
»Menschen haben sehr unterschiedliche Gesichter, Cathy. Ihre Charaktere haben ganz verschiedene Seiten. Für uns ist unsere Mutter nur die Mutter. Für andere ist sie eine schöne, sehr attraktive junge Witwe, die wahrscheinlich ein großes Vermögen erbt. Kein Wunder, daß sie die Freier anzieht wie eine helle Flamme die Motten. Und sie ist eine sehr helle Flamme.«
O Mann! Und er redete darüber einfach so daher, als würde ihn das im Grunde gar nichts angehen – doch ich wußte, daß es ihn sehr wohl berührte. Ich kannte meinen Bruder gut genug. Er mußte in seinem Inneren darunter leiden, genau wie ich, denn er wollte wie ich nicht, daß unsere Mutter wieder heiratete. Ich warf ihm meinen eindringlichsten Blick zu ... und, aha, er war bei weitem nicht so unbeteiligt, wie er vorgab. Das gefiel mir.
Trotzdem stieß ich einen tiefen Seufzer aus, denn ich wäre gerne genauso ein ewiger Optimist gewesen wie er. Tief in meinem Inneren ahnte ich, daß das Leben mich immer zwischen Skylla und Charybdis plazieren würde, daß mein Weg immer vom Regen in die Traufe führte. Ich mußte mich besser zusammennehmen und werden wie Chris, sonst ging es mir schlecht. Ich brauchte dringend eine unerschütterliche gute Laune. Wenn ich litt, mußte ich lernen, es zu verbergen, so wie er es tat. Ich mußte lernen zu lächeln und nie die Stirn zu runzeln, und ich mußte mich mit meinen düsteren Vorahnungen zurückhalten, auch wenn ich da beinahe hellseherisch begabt war.
Die Möglichkeit, daß unsere Mutter wieder heiraten könnte, hatten wir bereits zwischen uns beiden ausführlich durchgesprochen. Keinem von uns gefiel der Gedanke. Wir fanden, daß sie noch immer unserem Vater gehörte. Wir wollten, daß sie seinem Andenken treu blieb und auch weiterhin nur ihn liebte. Und wenn sie tatsächlich wieder heiratete, wo würden wir vier dann in diese Ehe passen? Würde dieser Winslow mit dem gutaussehenden Gesicht und dem tollen Schnurrbart vier Kinder um sich haben wollen, die nicht seine waren?
»Cathy«, überlegte Chris laut, »hast du auch schon überlegt, daß im Augenblick die beste Gelegenheit ist, das Haus ein wenig zu erkunden? Unsere Tür ist nicht abgeschlossen, die Großeltern sind unten auf dem Fest. Mammi ist beschäftigt – der perfekte Zeitpunkt, alles über dieses Haus herauszufinden.«
»Nein!« rief ich erschrocken. »Stell dir vor, die Großmutter kommt dahinter? Sie zieht uns bei lebendigem Leibe die Haut ab!«
»Dann bleibst du bei den Zwillingen«, sagte Chris mit überraschender Festigkeit in der Stimme. »Wenn ich entdeckt werden sollte, was nicht passieren wird, nehme ich alles auf mich, und sie kann mich auch nur verprügeln. Denk daran, daß vielleicht einmal der Tag kommt, an dem wir alles über dieses Haus wissen müssen, um aus ihm zu entfliehen.« Er verzog die Lippen zu einem amüsierten Lächeln. »Ich werde mich vorsichtshalber verkleiden, nur für den Fall, daß mich doch jemand sehen sollte.«
Verkleiden? Wie?
Aber ich hatte die Schatztruhen voller alter Kleider auf dem Dachboden vergessen. Er war kaum ein paar Minuten oben, da kam er schon wieder in einem altmodischen dunklen Anzug herunter, der ihm höchstens eine Nummer zu groß war. Chris war groß für sein Alter. Über sein blondes Haar hatte er eine leicht angenagt aussehende dunkle Perücke gestülpt. So wie er aussah, mochte man ihn wirklich für einen kleinwüchsigen Mann halten, vorausgesetzt, das Licht war nicht zu hell, und man sah nicht zu genau hin. Einen lächerlich komisch aussehenden, altmodischen kleinen Mann!
In bester Laune paradierte er vor mir auf und ab. Dann beugte er sich vor und schlich wie Groucho Marx umher, eine unsichtbare Zigarre zwischen den Fingern. Er blieb direkt vor mir stehen, grinste selbstbewußt, während er sich tief verbeugte und einen unsichtbaren Zylinder zog wie ein echter Gentleman. Ich mußte lachen, und er lachte mit, und nicht nur mit den Augen. Dann richtete er sich gerade auf und sagte: »Na, nun sag mal ganz ehrlich, wer würde diesen dunklen, kleinen Mann für ein Mitglied des Foxworth-Clans halten?«
Niemand natürlich! Wer hatte je so einen Foxworth gesehen? Einen gebeugten, dünnen, verbogenen Foxworth mit glattem Gesicht, dunklem Wuschelkopf und einem schmierigen Bleistift-Schnurrbart? Nicht ein einziges von den Familienfotos auf dem Dachboden ähnelte auch nur entfernt diesem Etwas, das da vor mir seine Possen riß.
»Okay, Chris, laß das Theater. Zieh los, finde soviel heraus, wie du kannst, aber bleib nicht zu lange weg. Ich bin hier nicht gerne ohne dich.«
Er kam näher zu mir und meinte in einem verschwörerischen Theaterflüstern: »Bald bin ich wieder bei Euch, schöne Lady, und wenn ich zurückkehre, bringe ich Euch all die dunklen und verborgenen Geheimnisse dieses großen, großen, alten, alten Gemäuers mit.« Und plötzlich – er schaffte es, mich völlig zu überraschen – bekam ich dazu auch noch einen Kuß auf die Wange gedrückt.
Geheimnisse? Und er sagte, ich würde immer übertreiben! Was machte er denn? Wußte er nicht, daß wir hier das Geheimnis waren?
Ich hatte mich schon gebadet und mir die Haare gewaschen und war für das Bett fertig. Natürlich konnte ich an Weihnachten nicht in einem Nachthemd schlafen, das ich vorher schon angehabt hatte, nicht wenn der Weihnachtsmann mir gleich mehrere neue gebracht hatte. Es war ein hübsches Nachthemd, das ich trug, weiß, mit weiten Ärmeln, die am Handgelenk zusammengehalten wurden, der Saum aus blauem Satin und alles mit Spitzen besetzt, dazu mit roten Rosen bestickt, die feine grüne Blätter umrahmten. Es war ein hinreißendes Nachthemd, exquisit und teuer, und ich fühlte mich selbst exquisit und schön, nur weil ich es anhatte.
Chris ließ seinen Blick von meinen Haaren bis zu meinen nackten Zehen wandern, deren Spitzen gerade noch unter meinem langen Nachthemd hervorlugten. Und seine Augen sagten mir dabei etwas, was ich so deutlich bisher noch nie in ihnen gelesen hatte. Er starrte mein Gesicht an, mein Haar, das mir in weiten Kaskaden bis zur Hüfte fiel, und ich wußte, daß es von meinem unentwegten Bürsten strahlend schimmern mußte. Er schien beeindruckt, ja richtig weggetreten, genau wie vorhin, als er Mammi in ihrem Abendkleid erblickt hatte.
Kein Wunder, daß er seine Schwester freiwillig geküßt hatte – ich sah aus wie eine Prinzessin.
Er stand noch einen Augenblick in der Tür, zögerte und sah mich in meinem neuen Nachthemd an, und ich ahnte, daß er sehr glücklich dabei war, hier den edlen Ritter spielen zu dürfen, den Beschützer einer schönen Lady, von kleinen Kindern und von allen, die sich auf seinen Mut verließen.
»Paß auf dich auf, bis ich wieder zurück bin«, flüsterte er.
»Christopher«, flüsterte ich, »alles, was dir fehlt, ist ein weißes Pferd und eine Rüstung.«
»Nein«, flüsterte er zurück, »ein Einhorn und eine Lanze, auf deren Spitze der Kopf eines grünen Drachen steckt, und schon galoppiere ich in meiner schimmernden weißen Rüstung, während ein Schneesturm im August tobt und die Sonne am Mittagshimmel steht, und wenn ich absteige, dann wirst du zu jemandem aufsehen, der einen Meter neunzig groß ist, also sprich respektvoll mit deinem Ritter, meine Lady Catherine.«
»Ja, mein Lord, so zieht also aus und erschlagt jenen Drachen – aber laßt es nicht zu lange dauern, denn sonst könnte ich einem der Unheile zum Opfer gefallen sein, die hier in diesem steinalten Schloß lauern, auch wenn alle Zugbrücken hoch und alle Fallgitter herunter sind.«
»So lebt denn wohl«, wisperte er noch. »Habt keine Furcht. Bald bin ich zurück, mich um Euch und die Euren zu sorgen.«
Ich kicherte, während ich neben Carrie ins Bett kletterte. Der Schlaf war in dieser Nacht ein scheuer Gast, der sich nicht blicken ließ. Ich mußte an meine Mutter und an diesen Mann denken, an Chris, an Jungen im allgemeinen, an Männer, an Romantik – und an Liebe. Als ich sanft in meine Träume hinüberglitt, begleitet von der fernen Musik aus der großen Halle, faßte meine Hand nach dem kleinen Ring mit dem roten Granat, den mein Vater mir auf den Finger gesteckt hatte, als ich erst sieben Jahre alt gewesen war. Einen Ring, der mir längst zu klein geworden war. Mein Talisman, den ich jetzt an einem feinen Goldkettchen um den Hals trug.
Frohe Weihnachten, Daddy.