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Wie man einen Garten pflanzt

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Jetzt wußten wir also die volle Wahrheit.

Wir würden in diesem Zimmer bleiben müssen bis zu dem Tag, an dem unser Großvater starb. Wenn ich nachts traurig und grübelnd im Bett wach lag, kam mir der Gedanke, sie hätte von Anfang an gewußt haben müssen, daß ihr Vater zu jenen Menschen gehörte, die nie irgend jemand irgend etwas verziehen.

»Aber«, meinte mein Bruder, der unverbesserliche Optimist, »er kann schließlich jeden Tag das Zeitliche segnen. Bei Herzkrankheiten geht das schnell und plötzlich. Irgendwo in seinem Blutkreislauf löst sich ein Blutgerinnsel, verstopft ihm Herz oder Lunge, und schon ist alles vorbei.«

Chris und ich sprachen grausam und gleichgültig über den Tod des alten Mannes, und irgendwo in unserem Innern schämten wir uns dafür, ohne es uns laut einzugestehen. Wir brauchten den Haß auf ihn einfach zu dringend, denn er hielt unser Selbstgefühl aufrecht.

»Also, paß mal auf«, sagte Christopher, »da wir ja hier nun wohl doch noch eine Weile bleiben müssen, müssen wir uns von nun an intensiver darum kümmern, wie wir es schaffen, daß uns und den Zwillingen die Zeit nicht lang wird. Wenn wir uns wirklich anstrengen, wer weiß, vielleicht fallen uns ein paar ganz phantastische hübsche wilde Sachen ein.«

Wenn man einen ganzen Dachboden voller Truhen und Schränken mit alten, vergammelten, aber ausgesprochen phantasieanregenden Kleidern zur Verfügung hat, was liegt da näher, als sich diese Kleider anzuziehen und mit ihnen Theater zu spielen. Und da ich ja sowieso zur Bühne wollte, hatte ich hier ein ideales Betätigungsfeld gefunden. Ich war Produzent, Direktor, Choreograph, Regisseur und spielte die weibliche Hauptrolle, Chris mußte selbstverständlich alle männlichen Rollen übernehmen, und die Zwillinge waren die Statisten, was sie strikt ablehnten. Sie wollten das Publikum sein, verzogen sich in eine Ecke und sahen sich unser Treiben interessiert an. Jedes neue Kostüm belohnten sie mit wahren Beifallsstürmen. Sie waren ein ausgesprochen dankbares Publikum.

Ich inszenierte Vom Winde verweht als Zweipersonenstück, aber dafür mit den Originalkostümen der Bürgerkriegszeit, originaler, als sie selbst im Film gewesen sein dürften. Unsere Vorfahren hatten uns ja alles Nötige hinterlassen. Hah! Und ich bekam meine Traumrolle als Scarlett O’Hara. Chris gab dazu einen recht brauchbaren Rhett Butler ab. »Komm mit mir, Scarlett«, rief er mir zu, »wir müssen fliehen, bevor Sherman einmarschiert und Atlanta in Brand steckt.«

Chris hatte Stricke zwischen den Dachpfeilern gespannt, an denen wir alte Decken und Tücher hin und her zogen, als Bühnendekoration und Vorhänge. Unser Publikum stampfte begeistert mit den Füßen und wartete begierig darauf, endlich Atlanta brennen zu sehen. Leider blieb ich bei der Flucht mit meinem viel zu weiten alten Rock an einem Nagel hängen, stolperte in meinen zu großen Schuhen und riß mir mein stinkendes altes Museumsstück von Kleid in Fetzen. »Ende der Vorstellung!« verkündete ich und schälte mich aus den Resten meines Kleides. Die Zwillinge hielten meinen Abgang für den absoluten Höhepunkt und spendeten stehend Beifallsstürme.

»Essen gehen«, rief Carrie, als sie merkte, daß tatsächlich Schluß war. Sie sagte das meist nur, um uns irgendwie von dem verhaßten Dachboden runterzubekommen.

Cory verzog schmollend den Mund und sah in die Runde. »Ich fände schön, wenn wir wieder unseren Garten hätten«, sagte er so sehnsüchtig, daß es einem in der Seele weh tat. »Ich mag nicht schaukeln, wo es keine Blumen gibt und keine Wiese.« Sein flachsblondes Haar war ihm inzwischen bis über den Kragen gewachsen, wo es sich zu vielen kleinen Locken kringelte, während Carrie das Haar in weichen Kaskaden bis fast zur Hüfte hing. Sie trug Blau an diesem Tag, Blau für Montag. Wir hatten jedem Tag eine bestimmte Farbe gegeben. Gelb war unsere Sonntagsfarbe. Rot gab es an Samstagen.

Dieser Wunsch von Cory brachte Chris auf einen Gedanken, denn er drehte sich langsam auf dem Absatz im Kreis und musterte den ganzen Dachboden nachdenklich. »Zugegebenermaßen ist dieser Dachboden ein trauriger und düsterer Ort«, überlegte er dazu laut, »aber sollten wir nicht in der Lage sein, wenn wir unseren kreativen Genius ganz darauf konzentrieren, aus dieser Trostlosigkeit etwas Buntes und Strahlendes zu machen – die Metamorphose einer häßlichen Raupe zu einem leuchtenden Schmetterling müßte auch hier irgendwie zu bewerkstelligen sein.« Er lächelte die Zwillinge und mich so bezaubernd und überzeugend an, daß ich von dem Gedanken sofort begeistert war. Es würde wirklich Spaß machen, diesen furchtbaren Dachboden in einen bunten, farbenfrohen Garten zu verwandeln, in dem auch die Zwillinge sich wohl und zu Hause fühlen konnten. Natürlich würde es unmöglich sein, den riesigen Raum jemals vollständig zu dekorieren und einzurichten, aber wenn wir an einer Ecke anfingen ... und jeden Tag konnte der Großvater sterben, dann würde uns der Dachboden sowieso egal sein, dann würden wir hier fortgehen und nie wiederkommen.

An diesem Abend konnten wir Mammi kaum erwarten. Als sie kam, erzählten Chris und ich ihr sofort voller Enthusiasmus, was wir mit dem Dachboden vorhatten. Er sollte für die Zwillinge zu einem fröhlichen Garten umdekoriert werden, in dem sich niemand mehr zu fürchten brauchte. Für einen Augenblick spiegelten sich die seltsamsten Empfindungen in ihren Augen.

»Schön«, rief sie dann strahlend, »wenn ihr den Dachboden verschönern wollt, müßt ihr ihn erst mal saubermachen. Und ich werde euch dabei helfen, so gut ich kann.«

Mammi schleppte Besen, Schrubber, Putztücher, Eimer und jede Menge Putzmittel zu uns herauf. Sie rutschte selbst auf den Knien mit einem Scheuerlappen vor uns über den Dachboden. Eine bewunderungswürdige Leistung, die sie in meiner Achtung wieder erheblich steigen ließ, denn in Gladstone hatte sie nie selber geputzt. Damals war zweimal in der Woche eine Haushaltshilfe zu uns gekommen. Aber hier lag sie vor uns auf den Knien und scheuerte sich die Hände wund, trug alte Blue jeans, eine blaue Bluse und hatte die Haare hinten zu einem lustigen Pferdeschwanz zusammengebunden, mit dem sie zwanzig Jahre jünger wirkte. Ich bewunderte sie. Es war eine harte, dreckige Arbeit, und sie beklagte sich kein einziges Mal, ja sie lachte und alberte mit uns herum, als machte ihr das alles ungeheueren Spaß.

Nachdem der Dachboden leidlich sauber und eine Woche mit Insektenvertilgungsmittel ausgesprayt worden war, brachte uns Mammi Grünpflanzen und eine stachlige Amaryllis, die zur Weihnachtszeit blühen sollte. Ich runzelte die Stirn, als Mammi uns das erzählte – zu Weihnachten würden wir ja nicht mehr hiersein. »Wir nehmen sie einfach mit«, beruhigte sie mich. »Wir können doch nichts hier zurücklassen, das die Sonne liebt. Wir werden nichts Lebendiges auf diesem Dachboden zurücklassen.«

Wir stellten unsere Pflanzen in den alten Klassenraum, denn der hatte Fenster nach Osten. Glücklich und guter Dinge stiegen wir die steile Treppe zu unserem Zimmer hinunter. Mammi wusch die Kleinen im Bad und fiel dann erschöpft auf ihren Stuhl. »Ich bin heute abend ins Kino eingeladen«, eröffnete sie uns. »Aber bevor ich gehe, schleich’ ich mich noch mal schnell zu euch hoch. Ich hab’ zwei kleine Packungen Rosinen, die ihr so gern zwischendurch eßt. Ich hatte sie im Auto liegenlassen.«

Die Zwillinge waren verrückt auf Rosinen, und ich freute mich für sie. »Gehst du allein ins Kino?« fragte ich.

»Nein. Ich habe ein Mädchen getroffen; wir sind zusammen aufgewachsen – sie war einmal meine beste Freundin. Heute ist sie verheiratet und wohnt hier ganz in der Nähe.« Sie ging zum Fenster, und nachdem Chris das Licht ausgeschaltet hatte, zog sie die schweren Vorhänge zurück, um uns zu zeigen, in welcher Richtung ihre Freundin wohnte. »Elena hat zwei unverheiratete Brüder. Der eine studierte Jura in Harvard, und der andere ist ein Tennisprofi.«

»Mammi!« rief ich. »Du verabredest dich doch mit keinem von diesen Brüdern?«

Sie lachte und ließ die Vorhänge zurückfallen. »Dreh das Licht wieder an, Chris. Nein, Cathy, ich verabrede mich nicht mit Männern. Um die Wahrheit zu sagen, auch heute abend würde ich lieber ins Bett gehen. Ich fühle mich todmüde. Am liebsten würde ich hier einfach noch etwas bei euch sitzen bleiben und nachher die Zwillinge ins Bett bringen. Aber Elena hat mich schon mehrfach eingeladen, und wenn ich ihr weiter absage, fragt sie ständig, was ich denn abends mache. Ich möchte nicht, daß die Leute darüber reden, warum ich denn abends immer zu Hause bleibe, selbst an den Wochenenden. Deshalb muß ich hin und wieder mal ins Kino oder zum Segeln gehen.«

Aus dem Dachboden etwas zu machen, das halbwegs hübsch und freundlich aussah, schien ziemlich unmöglich – einen schönen Garten daraus zu machen, dazu bedurfte es eines kleinen Wunders. Es wurde eine enorme Arbeit, und wir brauchten sehr viel Zeit, aber die hatten wir ja im Überfluß. Mammi brachte uns jede Menge Farbtöpfe und Pinsel, buntes Krepppapier, Bücher mit Blumenbildern als Malvorlagen und Ausschneidebögen mit Blumen.

»Zeigt den Zwillingen, wie man Blumen ausschneidet und anmalt«, instruierte Mammi uns. »Ich ernenne euch zu ihren ›Erziehern‹ im Foxworth-Kindergarten.«

Abends kam Mammi jetzt wieder sehr regelmäßig nach der Sekretärinnenschule bei uns vorbei, lachte mit uns und erzählte uns von ihren Fortschritten. Diese Fortschritte, mußte sie allerdings zugeben, waren leider nicht sehr überwältigend. Sie gab immer wieder lustige Geschichten zum besten, wie dumm sie sich anstellte, und wir lachten zusammen darüber. Doch war mir bei diesem Lachen oft etwas beklommen zumute.

Einmal erzählte sie uns von ihrer Lehrerin, die einen riesigen Busen hatte. Die Lehrerin war noch unverheiratet, und mehrere Männer aus Mammis Schreibmaschinenkurs stritten sich um ihre Gunst, was zu den komischsten Verwicklungen führte.

»Sag mal, Mammi«, fragte Chris plötzlich in sehr ernstem Ton, der uns alle überraschte, »du denkst doch nicht daran, selber wieder zu heiraten?«

Sie nahm ihn schnell in den Arm. »Nein, mein Lieber, natürlich nicht. Ich habe euren Vater so sehr geliebt. Es brauchte schon einen ganz besonderen Mann, um in Daddys Fußstapfen zu treten.«

Kindergarten zu spielen machte viel Spaß, oder hätte es jedenfalls machen können, wenn unsere Spielgruppe etwas mehr Interesse gezeigt hätte. Aber wenn wir das Frühstück beendet, den Tisch abgedeckt und das Geschirr gespült, unsere Verpflegung am kühlsten Ort verstaut und den Abzug des Reinigungstrupps im zweiten Stock abgewartet hatten, mußten wir jedesmal zwei äußerst unwillige Kinder hinter uns her auf den Dachboden zerren. Unser Kindergarten hatte sein Quartier in dem alten Klassenzimmer aufgeschlagen, wo die Zwillinge an den alten Pulten saßen und Blumen aus entsprechend gemustertem Schmuckpapier ausschnitten, die dann anschließend noch mit leuchtenden Farben bemalt wurden. Meine und die von Chris wirkten ganz passabel, auch wenn uns nie eine schöne Rose gelang. Die Kunstwerke der Zwillinge sahen eher wie farbige SF-Monster aus.

»Moderne Kunst«, nannte Chris ihre Blumen.

Wir bemalten und beklebten die grauen Schieferwände und spannten Schnüre zwischen den Dachpfeilern, an die wir riesige Papierblumen hängten, die beständig von irgendeinem Luftzug in Bewegung gehalten wurden.

Unsere Mutter sah sich jeden Abend die Fortschritte an, lächelte uns aufmunternd zu und gab uns gute Ratschläge und neues Material. Sie brachte uns einen Kasten mit einem Sortiment von Glasperlen in allen Farben und Größen, so daß wir unserem Garten ein Leuchten und Funkeln geben konnten. Oh, wir arbeiteten mit fieberhaftem Eifer und einer wilden Entschlossenheit. Etwas von unserem Enthusiasmus steckte schließlich die Zwillinge an, und sie hörten auf, um sich zu treten und zu maulen, wenn es wieder auf den Speicher ging. Schließlich verwandelte der Dachboden sich langsam, aber sicher in einen fröhlichen Garten. Und je mehr er sich veränderte, desto entschlossener wurden wir, auch die letzte staubige Wand des endlosen Raumes zum Blühen zu bringen.

Bei einem der abendlichen Inspektionsgänge meinte Carrie in ihrem atemlosen Vogelgezwitscher: »Mammi, das machen wir jetzt immer den ganzen Tag, nur Blumen und noch mehr Blumen, und manchmal läßt Cathy uns nicht mal die Treppe runter, etwas essen.«

»Cathy, du solltest über eurer Begeisterung an diesem wunderbaren neuen Garten nicht vergessen, daß die Zwillinge auch hin und wieder einen Lunch brauchen.«

»Aber Mammi, wir tun das alles doch nur für sie, damit sie sich hier oben wohl fühlen.«

Sie lachte und drückte mich. »Ach, du! Du bist wirklich ausdauernd in allem, was du anfängst, du und dein älterer Bruder. Das müßt ihr von eurem Vater geerbt haben, denn von mir habt ihr das bestimmt nicht. Ich gebe immer so leicht auf.«

»Mammi!« rief ich, sofort beunruhigt. »Du gehst doch immer noch auf deine Schule? Du kannst doch inzwischen immer besser tippen? Du übst doch?«

»Ja, natürlich tu’ ich das.« Sie lächelte mich an, setzte sich und hob ihre Hand, als wollte sie ihr Armband bewundern. Ich entdeckte in der letzten Zeit an ihr fast täglich neuen Schmuck. Wenn ich danach fragte, sagte sie lachend, das sei ›billiger Modeschmuck‹ aber einige der Steine funkelten sehr echt. Ich wollte sie schon fragen, warum sie eigentlich soviel Schmuck anlegen muß, wenn sie eine Sekretärinnenschule besucht, als sie mir zuvorkam: »Was ihr jetzt noch braucht, sind Tiere für euren Garten.«

»Aber, Mammi, wenn wir schon keine richtige Rose hinkriegen, wie sollen wir dann auch nur ein Tier zeichnen können?«

Sie gab mir ein spitzes kleines Lächeln und tippte mir mit einem kühlen Finger auf die Nase. »O, Cathy, was bist du doch für ein ungläubiger Thomas. Du zweifelst an allem, stellst alles in Frage, obwohl du doch inzwischen längst wissen müßtest, daß man fast alles kann, wenn man nur will – ganz besonders gilt das für Chris und dich. Ich werde dir ein Geheimnis verraten, hinter das ich schon vor einiger Zeit gekommen bin. In dieser Welt, in der alles so furchtbar kompliziert aussieht, gibt es auch für alles ein Buch, das einem beibringt, wie einfach alles ist.«

Das wollte ich selbst herausfinden.

Mammi brachte uns ein Buch mit Anleitungen zum Zeichnenlernen mit, und mit diesem Buch lernte ich tatsächlich zeichnen. Alle Dinge waren in diesem Buch auf einfachste Formen reduziert, Kreise, Vierecke, Linien, und aus diesen Basisformen setzte sich dann alles zusammen, was man zeichnen wollte. Tatsächlich schafften wir es mit Hilfe dieses Buches, das uns ein Kaninchen einfach als zwei Kreise vorstellte, bald den ganzen Dachboden mit einer lustigen Tierschar zu bevölkern. Freundliche kleine Wesen – alle von unseren eigenen Händen erschaffen.

Sicher, sie sahen schon ein bißchen eigenartig aus, unsere Tiere, aber sie waren durchaus zu erkennen. Mir gefielen sie sogar wegen ihres so eigenwilligen Aussehens noch viel besser. Sie gehörten wirklich zu uns. Chris malte seine Schöpfungen mehr realistisch an, während ich sie mit Stoffresten, Glasperlen und Knöpfen zu Phantasiewesen dekorierte. Mammi gab mir täglich neues Material. Sie schien ständig die Augen offenzuhalten, um etwas Brauchbares zur Verschönerung unseres Gartens zu entdecken. Und das war das Beste von allem, daß ich wußte, sie dachte auch an uns, wenn sie nicht bei uns war. Den ganzen Tag über mußte sie überlegen, was man noch alles zur Dekoration nehmen konnte, denn sie fand immer neue Dinge – Silberpapier, getrocknete Blumen, Dekorationsstoffe, Tapetenstücke, aus denen sich riesige Blumen ausschneiden ließen, Poster, Tischschmuck. Sie dachte nicht nur an neue Kleider, neuen Schmuck und Kosmetik. Sie versuchte wirklich, uns unser eingeschlossenes Leben so schön wie möglich zu machen.

Cory kam eines Tages mit einer orangefarbenen Schnecke aus Kreppapier zu mir gerannt. Er hatte kaum seinen Lunch essen wollen, obwohl es seine Lieblingssandwiches gegeben hatte, die mit Erdnußbutter. Seine Bastelarbeit nahm ihn schon seit morgens früh völlig, gefangen. Stolz wies er das Ergebnis vor, die Beine breit gegen den Boden gestemmt und den Kopf zurückgebeugt, damit er jede Regung in meinem Gesicht genau sehen konnte. Was er mir zeigte, erinnerte eher an einen Wasserball mit Fühlern, dem die Luft ausgegangen war, als an irgend etwas sonst. Aber er war so stolz, daß ich einfach nur bewundernd mit dem Kopf zu nicken wagte.

Wir marschierten gemeinsam zu Carrie hinüber, die ebenfalls an einem undefinierbaren Etwas bastelte. Das Etwas war über einen Meter lang, dünn und bestand aus zusammengedrehten und geknoteten Stoffresten. Anders als Cory hielt Carrie sich nicht mit irgendwelchen Überlegungen auf, sie arbeitete einfach wild drauflos. Das lange Etwas bekam jetzt noch an einem Ende ein Loch hineingestochen, in das Carrie einen roten Papierball stopfte, der das Auge darstellen sollte. Dann verkündete sie, dies wäre ein Wurm. Mir kam es mehr wie eine Boa Constrictor mit einem einzigen roten Auge vor. »Er heißt Charlie«, sagte Carrie und überreichte mir ihren meterlangen Wurm. (Wenn wir Dingen einen Namen gaben, wählten wir solche mit einem C, weil unsere eigenen auch alle mit C anfingen.)

An einer Wand am Ende unseres wunderbaren Papierblumengartens bauten wir die epileptische Schnecke neben dem furchtbaren, wilden Wurm auf. Oh, das war vielleicht ein Paar! Chris schrieb mit Farbe an die Wand darüber: Alle Tiere Vorsicht vor dem schrecklichen Regenwurm!!!

Ich schrieb selbst noch etwas dazu, denn mir kam es vor, als sei besonders die kleine Schnecke nicht sehr gut in Form. Gibt es hier irgendwo einen Arzt im Haus? Die Schnecke hieß übrigens Cindy Lou. Cory hatte sie so getauft.

Mammi sah sich abends lachend unseren Miniatur-Zoo an und freute sich darüber, daß wir soviel Spaß gehabt hatten. »Natürlich ist ein Arzt im Haus«, meinte sie und küßte Chris auf die Wange. »Dieser Sohn von mir hier ist ein Experte in der Behandlung kranker Tiere. Cory, ich finde deine Schnecke hinreißend – sie sieht ... so ... so sensitiv aus.«

»Magst du meinen Charlie auch?« fragte Carrie sofort drängend. »Ich habe ihn sehr gut gemacht. Ich habe allen roten Stoff dafür gebraucht. Jetzt haben wir keinen mehr.«

»Es ist ein wundervoller Wurm, wirklich großartig«, versicherte Mammi. Sie nahm die Zwillinge auf den Schoß und gab ihnen die Küsse, die sie in der letzten Zeit manchmal vergaß. »Besonders toll finde ich das rote Auge von Charlie.«

Es war eine gemütliche, sehr familiäre Szene, Mammi auf ihrem Stuhl mit den Zwillingen auf den Knien und Chris über sie gebeugt, seine Wange dicht an ihrer. Aber ich mußte diese Idylle wieder verderben, ich konnte nicht anders.

»Wieviel Worte kannst du denn jetzt in der Minute tippen, Mammi?«

»Ich werde immer besser.«

»Wieviel besser?«

»Ich tue wirklich mein Bestes, Cathy – weißt du, ich muß jetzt anfangen, blind zu schreiben.«

»Und was macht Steno – wie schnell bist du schon beim Diktat?«

»Ich strenge mich an. Du mußt Geduld mit mir haben. Für mich ist das doch alles ganz neu. Solche Sachen lernt man nicht über Nacht.«

Geduld. Ich stellte mir Geduld grau vor, mit schwarzen Wolken darüber. Die Hoffnung stellte ich mir gelb vor wie die Sonne, die wir in den kurzen Morgenstunden aus unserem Dachbodenfenster sehen konnten. Viel zu schnell stieg sie am Himmel auf und verschwand aus unserem Gesichtsfeld. Dann starrten wir verlassen auf Blau.

Schlimm waren in dieser Zeit für mich besonders die Freitage, wenn die Dienstmädchen unser Zimmer putzten und wir mäuschenstill auf dem Dachboden hocken mußten. Wir hörten sie unter uns rumoren, lachen und schwätzen. Warum merkten die Mädchen nie, daß an diesem Zimmer etwas nicht stimmte? Blieb von uns denn nicht einmal ein Geruch zurück, wo Cory doch so oft die Matratze naß machte? Es war, als existierten wir wirklich nicht. Als wären wir nur Geister, die keine Spuren hinterließen in dieser Welt, nichts Lebendiges mehr. Wir setzten uns in diesen Stunden immer eng zusammen und nahmen uns gegenseitig in den Arm.

Diese Freitage taten uns etwas Seltsames an. Ich glaube, sie ließen uns in unserer eigenen Vorstellung zusammenschrumpfen, sie rüttelten an unserem Selbstgefühl. Nachher fanden wir keinen Spaß mehr an unseren Spielen oder unseren Büchern, und so schnitten wir schweigend noch mehr Blumen aus, um wenigstens dem Dachboden unseren unübersehbaren Stempel aufzudrücken.

Aber wir waren jung, und die Hoffnung hat in der Jugend starke Wurzeln. Vor langer Zeit war ich durch richtige Gärten, richtige Wälder gelaufen – doch es kam mir vor, als müsse das schon viele Jahre her sein. Trotzdem fühlte ich immer ihre geheimnisvolle Aura, als würde auch in unserem Papiergarten etwas Magisches und Wunderbares hinter der nächsten Ecke warten. Um auch unserem Garten seinen besonderen Zauber zu geben, krochen Chris und ich mit Kreide auf dem Boden herum und zeichneten einen großen Kreis von weißen Blumen. In diesem Feenkreis waren wir vor allem Bösen sicher, denn wenn wir dort saßen, schützte uns ein besonderer Zauber. Dort hockten wir dann mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Boden und erzählten den Zwillingen beim Licht einer einzigen Kerze lange, selbst ausgedachte Geschichten von guten Feen, die kleine Kinder beschützten, und bösen Hexen, die am Ende immer besiegt wurden.

Einmal meldete sich Cory mit einer Frage, und seine Fragen waren immer am schwierigsten zu beantworten: »Wo ist all das Gras denn hingekommen?«

»Gott hat das ganze Gras in den Himmel geholt.« Carrie ersparte mir mit diesem schwer zu überprüfenden Kommentar die Antwort.

»Warum?«

»Für Daddy. Daddy mäht doch so gerne die Wiese.«

Chris sah mich an, und ich ihn – und wir hatten gedacht, die beiden hätten Daddy längst vergessen!

Cory zog seine kleinen Augenbrauen nachdenklich hoch und starrte sinnend auf die Pappbäume, die Chris aufgestellt hatte. »Wo sind denn die großen Bäume hingekommen, die richtigen großen?«

»Die sind mit dem Gras geholt worden«, erklärte Carrie. »Daddy hat gerne große Bäume. Sind auch da oben.« Diesmal mußte ich schnell in eine andere Richtung sehen. Wie ich es haßte, sie anlügen zu müssen – ihnen zu erzählen, daß dies alles nur ein Spiel war, ein endloses Spiel, für das die Zwillinge wesentlich mehr Geduld aufzubringen schienen als Chris und ich. Und sie fragten kein einziges Mal, warum wir dieses Spiel spielen mußten.

Niemals kam die Großmutter auf den Dachboden, um nachzusehen, was wir dort wohl anstellten. Doch sie öffnete oft die Tür zu unserem Zimmer so leise wie möglich, damit wir sie nicht kommen hörten. Sie spähte durch einen schmalen Spalt und hoffte, uns dabei zu erwischen, wie wir etwas »Gottloses« oder »Verdorbenes« taten.

Auf dem Dachboden konnten wir tun und lassen, was immer wir wollten, ohne von jemandem überrascht zu werden, wenn man einmal von Gottes wachsamem Auge absah, an das uns die Großmutter jeden Tag erinnerte. Weil ich mir aber nicht vorstellen konnte, daß sie sich freiwillig auf Gottes Wachsamkeit allein verließ, wurde ich neugierig, warum sie nicht einmal die kleine Abstellkammer mit der Treppe betrat. Ich nahm mir vor, Mammi bei der nächsten Gelegenheit danach zu fragen. »Warum kommt die Großmutter nie selbst zu uns auf den Dachboden herauf, um uns zu kontrollieren? Warum fragt sie uns immer nur? Meint sie, wir würden ihr auf jeden Fall die Wahrheit sagen?«

Mammi saß müde und abgespannt auf ihrem persönlichen Stuhl. Ihr neues grünes Wollkleid sah sehr teuer aus. Sie war beim Friseur gewesen und hatte die Haare anders gelegt als sonst. Meine Frage beantwortete sie auf eine geistesabwesende Art, als seien ihre Gedanken bei etwas wesentlich Angenehmerem. »Ach, habe ich euch davon noch nichts erzählt? Eure Großmutter leidet an Klaustrophobie. Das ist eine psychische Krankheit, die es ihr so gut wie unmöglich macht, kleine, enge Räume zu betreten, Aufzugkabinen zum Beispiel. Wißt ihr, als sie ein Kind war, haben ihre Eltern sie immer zur Strafe in einer Abstellkammer eingesperrt. Das ist wohl die Ursache.«

Mann! Wie schwer war es doch, sich diese große alte Frau als kleines Kind vorzustellen, das von den Eltern bestraft wurde. Sie hätte mir beinahe leid getan, aber ich wußte, wie froh sie darüber war, uns so fest eingesperrt zu haben. Jedesmal, wenn sie uns ansah, entdeckte ich diese Freude in ihren Augen – eine stille, boshafte Befriedigung. Trotzdem kam es uns sehr gelegen, daß sie vom Schicksal mit dieser komischen Krankheit gestraft war, und wir liebten die schmale Treppe fast wegen ihrer engen, verwinkelten Wände.

Chris und ich spekulierten oft darüber, wie man wohl all die schweren Kisten und sperrigen Möbelstücke auf den Dachboden geschafft hatte. Mit Sicherheit nicht über den engen Treppenaufgang, denn die meisten Sachen waren so groß, daß sie nicht einmal durch unsere Zimmertür gepaßt hätten. Aber obwohl wir intensiv danach suchten, entdeckten wir nie einen anderen Aufgang zum Dachboden. Vielleicht verbarg ihn einer der riesigen Schränke, die zu schwer waren, als daß wir sie hätten verrücken können. Chris meinte, es bestünde auch die Möglichkeit, daß man einige Sachen mit einem Kran durch die Dachfenster gehievt hätte.

Jeden Tag kam die Hexengroßmutter in unser Zimmer geschlichen, um uns mit ihren Steinaugen zu erdolchen und ihrem dünnen, messerscharfen Mund zu verschlingen. Jeden Tag stellte sie die gleichen alten Fragen: »Was habt ihr angestellt? Was macht ihr auf dem Dachboden? Habt ihr auch vor jedem Essen euer Gebet aufgesagt? Habt ihr letzte Nacht neben euren Betten gekniet und Gott darum gebeten, daß er euren Eltern für ihre furchtbare Sünde vergibt? Lehrt ihr die beiden Kleinen die Worte des Herrn? Seid ihr auch nicht zusammen im Bad gewesen, Jungen und Mädchen?« Junge, was blitzten ihre Augen bei dieser Frage immer drohend. »Benehmt ihr euch immer anständig? Haltet ihr euren Körper immer bedeckt vor den Augen des anderen Geschlechts? Berührt ihr euren Körper auch nicht, außer, um ihn zu waschen?«

»O Gott! Nackte Haut mußte für sie etwas furchtbar Schmutziges sein! Chris lachte, wenn sie wieder gegangen war. »Ich nehme an, sie hat sich ihren Unterrock festgeklebt.«

»Nein! Sie hat ihn festgenagelt!« entschied ich.

»Ist dir schon mal aufgefallen, wie sehr sie auf die Farbe Grau schwört?«

Aufgefallen? Wem würde das nicht auffallen? Sie trug ja nie etwas anderes als Grau. Mammi erklärte uns dazu, daß ihre Mutter den grauen Stoff aus einer Textilfabrik ihres Mannes sehr preisgünstig bezöge und eine Bekannte im nächsten Ort habe, die ihr sehr billig Kleider daraus nähte. Auch das noch! Offenbar waren die Foxworths nicht nur reich, sondern auch noch geizig.

An einem Nachmittag im September kam ich in höchster Eile die Treppe vom Dachboden heruntergerannt. Ich wollte ins Bad – und stieß in unserem Zimmer fast mit der Großmutter zusammen. Sie packte mich an den Schultern und starrte mir in die Augen. »Paß auf, wo du hinläufst, Mädchen!« schnappte sie. »Warum hast du es denn so eilig?«

Ihre Finger bohrten sich wie Stahlklauen durch den dünnen Stoff meiner blauen Bluse. Sie hatte als erste gesprochen, also durfte auch ich etwas sagen: »Chris malt eine wunderbare Landschaft«, erklärte ich atemlos. »Und ich muß ihm ganz schnell frisches Wasser bringen, bevor sein großer Pinsel eintrocknet. Es ist wichtig, die Farben immer sauberzuhalten.«

»Warum holt er sich sein Wasser nicht selbst? Warum bedienst du ihn, bist du sein Dienstmädchen?«

»Er malt doch gerade, und er fragte mich deshalb, ob ich ihm nicht eben mal schnell das Wasser holen könnte, weil ich sowieso nichts anderes tat, als ihm zuzusehen. Und die Zwillinge hätten das Wasser unterwegs nur verschüttet.«

»Närrin! Du darfst einen Mann nie bedienen! Laß dich von ihm bedienen. Und jetzt heraus mit der Wahrheit – was macht ihr wirklich da oben?«

»Ehrlich, ich sage die Wahrheit. Wir arbeiten hart, um den Dachboden schöner zu machen, damit die Zwillinge dort keine Angst mehr haben und spielen können. Und Chris ist ein wunderbarer Maler.«

Sie verzog abfällig den Mund und fragte: »Wie kannst du beurteilen, ob jemand ein Maler ist?«

»Er ist künstlerisch hochbegabt – alle seine Lehrer haben das gesagt, Großmutter.«

»Hat er dich gebeten, Modell für ihn zu stehen – ohne Kleider?«

Ich war schockiert. »Nein. Natürlich nicht!«

»Warum zitterst du dann so?«

»Ich ... ich ... habe Angst ... vor Ihnen!« stammelte ich. »Jeden Tag kommen Sie und fragen uns aus, was wir für sündige, gottlose Dinge tun würden. Ich weiß gar nicht, was das für Dinge sein sollen, ehrlich! Wenn Sie uns nicht sagen, was das eigentlich ist, diese sündigen, verdorbenen Dinge, wie sollen wir da genau wissen, ob wir sie auch wirklich nicht tun?«

Sie sah mich von oben bis unten an und heftete ihren Blick besonders auf meine nackten Füße. Dann grinste sie sarkastisch. »Frag deinen älteren Bruder – er wird schon wissen, was ich meine. Die Männer unserer Rasse wissen von Geburt an über alles Schlechte Bescheid.«

Junge, habe ich sie da angestarrt! Chris war nicht böse oder schlecht. Er hat mich oft geärgert, aber das war bestimmt nichts Gottloses oder Verdorbenes gewesen. Ich versuchte, ihr das zu erklären, aber sie wollte nicht zuhören.

Später an diesem Tag kam sie in unser Zimmer und trug einen tönernen Blumentopf mit einer großen gelben Chrysantheme.

Sie ging schnurstracks auf mich los und drückte mir den Topf in die Hand. »Hier sind echte Blumen für euren falschen Garten«, sagte sie ohne jede Wärme. Es war trotzdem eine so menschliche, gar nicht hexenhafte Geste, daß es mir den Atem verschlug. Sollte sie sich etwa ändern, begann sie uns mit menschlichen Augen zu sehen? Würde sie am Ende sogar ein wenig Sympathie für uns aufbringen? Ich dankte ihr wortreich für die Blume, vielleicht zu wortreich, denn sie wirbelte herum und marschierte hinaus, als habe ich sie beleidigt.

Carrie kam angelaufen, um ihr kleines Gesicht in die gelben Blüten zu stopfen. »Hübsch«, sagte sie. »Cathy, darf ich die haben? Wunderhübsch.« Natürlich durfte sie. Über Nacht blieben die Blumen bei uns unten, damit die Zwillinge sie beim Einschlafen und beim Wachwerden bewundern konnten. Danach erhielten sie einen Ehrenplatz auf dem Fensterbrett des Dachbodenklassenzimmers, wo sie etwas von der spärlichen Morgensonne mitbekamen. Doch viel zu sehen war aus diesem Fenster nie. Nur die fernen Bergspitzen und Baumwipfel davor. Oft verschwamm alles in einem blauen Dunst.

Immer wenn ich an meine Jugend denke, tauchen vor meinem inneren Auge jene dunstverhangenen Gipfel auf, mit den endlosen Baumreihen. Und ich rieche wieder die trockene, staubige Luft, die wir Tag für Tag atmen mußten. Ich sehe wieder die tiefen Schatten des alten Dachbodens, die so gut zu den Schatten in meinen Gedanken paßten, und ich höre die unausgesprochenen, unbeantworteten Fragen: Warum? Wann? Wie lange noch?

Liebe ... darauf setzte ich mein ganzes Vertrauen.

Ehrlichkeit ... mußte nicht wahr sein, was von den Lippen derjenigen kommt, die man liebt und denen man am meisten vertraut?

Mehr als zwei Monate waren vergangen, und der Großvater lebte noch immer.

Wir standen, wir saßen, wir lagen auf den großen, breiten Fensterbrettern des Dachbodens. Sehnsüchtig sahen wir zu, wie die Baumwipfel sich über Nacht vom tiefen Grün des späten Sommers zum leuchtenden Scharlachrot, Gold und Braun des Herbstes verfärbten. Dieser Wandel ging mir sehr nahe. Ich glaube, es ging uns allen nahe, selbst den Zwillingen, den Sommer so dem Herbst weichen zu sehen, während wir nur Zusehen konnten, ohne die Jahreszeiten selbst miterleben zu dürfen.

»Willst du mir nicht antworten?« fragte Chris. »Warum guckst du so traurig? Die Bäume sehen doch wunderschön aus, findest du nicht? Wenn es Sommer ist, liebe ich nichts mehr als den Sommer. Aber wenn dann der Herbst kommt, gefällt mir der Herbst am besten. Und dann ist der Winter meine Lieblingsjahreszeit, und schließlich ist der Frühling das Beste von allem.«

So war er, mein geliebter Christopher Doll. Er machte immer das Beste aus dem Hier und Jetzt, egal, in welcher Situation.

»Ich dachte gerade an die alte Mrs. Bertram und ihre langweiligen Vorträge über die Boston Tea Party und den Unabhängigkeitskrieg. Geschichte war bei ihr immer so eintönig. Sie schaffte es, daß man selbst bei den spannendsten historischen Ereignissen nur gähnen konnte. Und trotzdem gäbe ich viel dafür, mich mal wieder auf so eine Art langweilen zu lassen.«

»Doch, doch«, meinte er zustimmend. »Ich verstehe schon, was du fühlst. Ich fand die Schule auch langweilig und Geschichte ganz besonders – außer den Sachen über die Besiedlung des Westens, die Indianerkriege und all das. Aber in der Schule konnten wir wenigstens alles tun, was andere Kinder in unserem Alter auch taten. Jetzt vergeuden wir einfach nur unsere Zeit und tun absolut gar nichts. Cathy, laß uns keine Minute mehr verschwenden! Wir müssen anfangen, uns auf den Tag vorzubereiten, an dem wir hier wieder rauskommen. Wenn man sich keine festen Ziele setzt und ständig an ihnen arbeitet, erreicht man nichts. Ich sage mir, wenn ich es nicht schaffe, Arzt zu werden, dann will ich auch sonst nichts schaffen, und das ganze Foxworth-Geld kann mir gestohlen bleiben.«

Er sagte das mit solch einem Nachdruck! Ich wollte gerne Primaballerina werden, aber mit viel Geld statt dessen wäre ich auch zurechtgekommen. Irgendein Beruf würde sich da schon finden. Chris runzelte die Stirn, als könne er meine Gedanken lesen. Ich wußte, was sein Stirnrunzeln bedeutete und was mir der Blick aus seinen sommerblauen Augen sagen wollte. Ich hatte keine einzige Ballettübung mehr gemacht, seit wir unsere Dachbodenexistenz begonnen hatten. »Cathy, morgen baue ich für dich einen Übungsbalken in einem Teil unseres Papiergartens auf. Und ab dann übst du fünf oder sechs Stunden täglich, wie in einer Ballettklasse!«

»Das tue ich nicht! Niemand hat mir zu sagen, was ich zu tun oder zu lassen habe! Abgesehen davon kann man gar keine Ballettübungen machen, wenn man nicht das richtige Kostüm dafür hat.«

»Was für ein Unsinn!«

»Ich rede Unsinn, weil ich so dumm bin! Du, Christopher, bist ja der einzige Intelligente hier!« Damit brach ich in Tränen aus und rannte vorbei an unseren Papierblumen, durch unseren Pappwald zur Treppe. Schnell, schnell, schnell die Stufen runter, daß ich stolpern würde, stürzen, mir ein Bein, den Arm, den Hals brechen würde, und dann läge ich tot da, und allen täte es leid um mich, um die Tänzerin, die es nun nie geben würde, die kleine, tote Primaballerina!

Ich warf mich auf mein Bett und schluchzte in mein Kopfkissen. Es gab hier nichts außer Hoffnungen und Träumen – nichts, das wirklich war. Ich würde alt werden, ohne je wieder andere Menschen zu sehen. Der alte Mann da unten würde hundertundzehn Jahre alt werden! All seine Ärzte und Krankenschwestern würden ihn auf ewig am Leben halten – und ich würde nicht einmal mehr meinen Geburtstag mit meinen Freundinnen feiern können. Oh, ich hatte solches Selbstmitleid, und dann schwor ich mir, daß jemand dafür zahlen mußte, zahlen, zahlen, zahlen, für all das hier! O ja, jemand würde mir dafür zahlen!

Und dann standen sie plötzlich alle um mein Bett und wollten mir etwas schenken, um mich zu trösten, etwas von den Dingen, die ihnen selbst am liebsten waren: Carrie mit ihrer roten Lieblingspapierblume, Cory mit seinem »Peter, das Kaninchen«-Buch, und Chris saß einfach nur da und sah mich an. Noch nie hatte ich mich so klein gefühlt.

An einem der nächsten Abende kam Mammi sehr spät noch einmal zu uns herauf und brachte mir eine große Schachtel, die ich auspacken durfte. Darin lagen zwischen weißen Tüchern Ballett-Kostüme, gleich zwei in verschiedenen Farben, dazu die passenden Schuhe und eine schmale, kleine Karte, auf der stand: »Von Christopher«. Und darunter lagen noch Schallplatten mit Ballettmusik. Ich fing zu weinen an, während ich erst meiner Mutter und dann Chris um den Hals fiel. Diesmal waren es keine Tränen der Verzweiflung und der Enttäuschung. Von jetzt an hatte ich etwas, für das ich arbeiten konnte.

»Zu allererst wollte ich dir ein weißes Kostüm kaufen«, erzählte Mammi, die mich noch immer im Arm hielt. »Es gab da ein hinreißendes, aber das war zu groß für dich – mit einer weißen Federkappe, bei der die Federn sich um deine Stirn kräuseln. Für ›Schwanensee‹. Ich habe es für dich bestellt, Cathy. Sie lassen es auf deine Größe umarbeiten. Drei Kostüme müßten doch erst mal ausreichen, dir die nötige Motivation zu geben.«

Und ob! Nachdem Chris mir meinen Übungsbalken sicher an einem Pfeiler angebracht hatte, übte ich stundenlang zur Musik. Es gab keinen großen Spiegel hinter dem Balken wie in den Ballettschulen, die ich besucht hatte, aber in meinem Kopf hatte ich einen riesigen Spiegel, und ich sah mich selbst darin als gefeierte Primaballerina, der das Publikum Blumensträuße auf die Bühne warf, Tausende roter Rosen. Mit der Zeit bekam ich von Mammi alle Tschaikowsky-Balletts auf Platte geschenkt. Ich spielte sie auf dem ebenfalls von Mammi besorgten Plattenspieler ab, der über eine fast endlose Verknüpfung von Verlängerungskabeln mit der Steckdose in unserem Schlafzimmer verbunden war.

Zu schöner Musik zu tanzen ließ mich alles vergessen. Es löste mich von mir selbst und unserem eintönigen Leben. Was machte das alles, solange ich tanzen konnte? Besser meine Pirouetten drehen und so tun, als hätte ich einen Partner, der mich hielt und stützte, wenn ich mich an den schwierigeren Positionen versuchte. Ich fiel hin, stand auf, fiel wieder hin und tanzte, bis ich völlig außer Atem war, jeder Muskel schmerzte, mein Trikot von Schweiß tropfte und mein Haar an der Stirn klebte. Dann ließ ich mich einfach flach auf den Boden fallen, ruhte mich keuchend aus und übte dann am Balken wieder die weniger anstrengenden Grundpositionen. Manchmal tanzte ich die Prinzessin Aurora aus »Dornröschen«, und manchmal tanzte ich einfach selbst die Rolle des Prinzen, sprang hoch in die Luft und schlug die Beine zusammen.

Einmal sah ich auf, nachdem ich gerade das Todeszucken des ›Sterbenden Schwans‹ hinter mich gebracht hatte, und entdeckte Chris, der mir aus dem Schatten des Dachbodens mit dem eigenartigsten Blick zusah. Bald würde er seinen fünfzehnten Geburtstag feiern, soweit unter diesen Umständen von Feiern die Rede sein konnte. Wie kam es, daß er plötzlich nicht mehr wie ein Junge, sondern wie ein Mann wirkte? War es nur dieser schwer deutbare Ausdruck seiner Augen, der mir sagte, daß er sich immer schneller von der Kindheit zu entfernen begann?

Auf den Spitzen trippelte ich zu Chris, in einer Sequenz schneller, kleiner Schritte, die den Eindruck erwecken, man schwebt über die Bühne – ›Perlenkette‹ wird das sehr poetisch genannt. Ich streckte meine Arme aus. »Komm, Chris! Sei mein ›danseur‹. Ich bringe es dir bei.«

Er lächelte amüsiert, aber er schüttelte den Kopf und sagte, das sei unmöglich. »Ballett ist nichts für mich. Aber Walzer würde ich gern lernen – zur Musik von Strauß allerdings nur.«

Ich mußte lachen. Damals waren die einzigen Walzer-Platten, die wir hatten, Strauß-Platten. Ich lief zum Plattenspieler und legte Die blaue Donau auf.

Chris benahm sich recht schwerfällig. Er hielt mich steif von sich. Er trat mir auf meine rosafarbenen Ballettschuhe. Aber es beeindruckte mich, wie sehr er sich anstrengte, auch den einfachsten Schritt immer ganz exakt auszuführen. Ich traute mich nicht, ihm zu sagen, daß sein Talent im Kopf und seinen künstlerischen Händen stecken mußte, denn in seinen Beinen war nichts davon zu spüren. Und doch, und doch, in einem Strauß-Walzer steckte etwas Aufmunterndes und Weiches, das es einem leicht machte, etwas Romantisches, ganz anders als bei diesen athletischen Ballettwalzern, nach denen man atemlos und in Schweiß gebadet zurückblieb.

Als Mammi mir dann endlich auch noch das Schwanensee-Kostüm brachte, war mein Glück vollständig. Liebe, Hoffnung, Glück – sie schienen tatsächlich auch in unserem Dachboden-Gefängnis einzuziehen. Einen Karton mit einer lila Schleife darum hatte sie mir gebracht, mit einem Geschenk darin, das jemand ausgesucht haben mußte, der mich wirklich liebhatte, nachdem ein anderer, der mich auch liebhatte, sie auf den Gedanken gebracht hatte.

»Tanze, Ballerina, tanze – tanz deine Pirouette.

Vergiß den Schmerz in deinem Herz.

Tanze, Ballerina, tanze, damit du eines nie vergißt,

Eine Tänzerin ist es, was du bist.

Seine Liebe, die muß warten, hast du ihm gesagt,

Hast den Ruhm gewählt, als er gefragt.

Eine Tänzerin tanzt ihre Rolle ... eins, zwei, drei.

Wir leben und wir lernen ... und die Liebe geht vorbei.

Die Liebe, Ballerina, geht vorbei ...

Schließlich beherrschte Chris den Walzer und den Foxtrott. Als ich ihm den Charleston beibringen wollte, lehnte er ab: »Ich brauche nicht jeden Tanz zu lernen wie du. Ich will ja nicht zur Bühne. Alles, was ich will, ist, ein Mädchen zum Tanz auffordern zu können, ohne mich anschließend auf dem Parkett zu blamieren.«

Ich hatte immer schon getanzt. Es gab keinen Tanz, den ich nicht ausprobiert und gelernt hatte, seit ich ein kleines Mädchen war.

»Chris, eins mußt du wissen. Du kannst einfach nicht dein ganzes Leben lang nur Walzer und Foxtrott tanzen. Jedes Jahr bringt einen neuen Modetanz. Sie wechseln wie die Kleidermoden. Du mußt dich immer neu anpassen und darauf einstellen. Los, komm. Spielen wir ein bißchen Jazz dazwischen, damit du deine Knochen lockern kannst. Du mußt von dem vielen Sitzen und Bücherlesen doch furchtbar steif geworden sein.«

Ich griff wahllos eine von unseren neueren Platten heraus und erwischte einen Rock n’ Roll. »Los, Chris, schwing die Hüften wie Elvis. Schließ die Augen halb, schlenker mit den Armen, beweg dich sexy, sonst bekommst du nie ein Mädchen heutzutage.«

»Dann werde ich wohl nie eins bekommen.«

So sagte er das völlig trocken und todernst. Er würde sich nie zu irgend etwas zwingen lassen, das nicht seinem selbstgewählten Image entsprach. Er war immer genau so, wie er sein wollte, und ich liebte ihn für das, was er war – stark und entschlossen, um jeden Preis er selbst zu bleiben, selbst wenn seine Persönlichkeit längst nicht mehr dem Stil der Zeit entsprach. Mein Sir Christopher, der galante Ritter.

Wir änderten die Jahreszeiten in unserem Dachbodengarten, als seien wir der liebe Gott. Wir nahmen die Blumen ab und hängten dafür bunte Herbstblätter auf. Nur für den Fall, daß wir auch im Winter noch hiersein sollten, bereiteten wir schon einmal Schnee aus Watte und weißen Stoffresten vor und klebten wunderschöne Eisblumen mit weißem Nähgarn. Chris malte, wenn er nicht stundenlang über seinen verstaubten Büchern saß, eine große Winterlandschaft mit tief verschneiten Wäldern und im Schnee halb vergrabenen Häusern, aus deren Schornsteinen sich schwarzer Rauch kräuselte. Als er fertig war, malte er um das Ganze einen sehr echt wirkenden Fensterrahmen. Als wir das Bild an der Wand aufhängten, hatten wir endlich ein Zimmer mit Aussicht.

Früher war Chris ein ewiges Ärgernis für mich gewesen, jemand, der mich bei jeder Gelegenheit aufzog ... ein älterer Bruder. Aber dort oben veränderten wir uns, er und ich, genau wie wir unsere Dachbodenwelt verändert hatten. Wir lagen Seite an Seite stundenlang auf einer alten Matratze, die sich unter dem Gerümpel gefunden hatte, und redeten und redeten und machten Pläne, wie wir unser Leben gestalten wollten, wenn wir erst frei waren und der ganze Foxworth-Schatz uns gehörte. Wir würden um die Erde reisen. Er würde die schönste Frau treffen, klug, verständnisvoll, charmant, geistreich und jemand, mit dem das Leben ungeheueren Spaß machte: Sie würde die perfekte Hausfrau sein, die treueste und liebenswürdigste aller Ehefrauen, die beste Mutter, und sie würde nie an ihm etwas auszusetzen haben, nie schreien oder schimpfen, nie an ihm zweifeln oder enttäuscht und mutlos sein, wenn er einen dummen Fehler am Aktienmarkt gemacht hatte und damit all sein Geld verlor. Sie würde verstehen, daß er sein Bestes getan hatte und bald mit seiner Intelligenz und seiner Cleverness ein neues Vermögen gemacht haben würde.

Junge, kam ich mir dabei erbärmlich vor. Wie, bei allem in der Welt, sollte ich jemals den Anforderungen von Männern wie Chris gerecht werden? Irgendwie spürte ich deutlich, daß er das Maß war, an dem ich jeden meiner späteren Männer messen würde.

»Sag mal, Chris, diese intelligente, charmante, geistreiche, hinreißende Frau, könnte sie nicht wenigstens irgendeinen ganz kleinen Fehler haben?«

»Warum sollte sie?«

»Nimm doch unsere Mutter, zum Beispiel. Man könnte sagen, sie ist all das, nur nicht gerade sehr intelligent.«

»Mammi ist nicht dumm!« verteidigte er sie vehement. »Sie ist nur in der falschen Umgebung aufgewachsen! Man hat ihr als kleinem Mädchen beigebracht, daß Frauen nicht intelligent sind, sondern gut auszusehen haben und sonst nichts.«

Was mich anging, wenn ich erst einmal eine Reihe von Jahren Primaballerina gewesen war, würde ich auch heiraten und mich irgendwo niederlassen wollen, nur was für einen Mann ich dazu haben wollte, konnte ich noch nicht sagen, außer, daß ich ihn an Daddy und Chris messen würde. Ich wollte, daß er gut aussah, das wußte ich, denn ich wollte hübsche Kinder haben. Und sehr klug mußte er auch sein, denn sonst würde ich ihn nicht respektieren können. Bevor ich seinen Verlobungsring mit Diamant annehmen könnte, müßte er mit mir Schach gespielt haben. Und wenn er mich nicht jedesmal schlug, würde ich lächeln, den Kopf schütteln und ihm sagen, er könne den Ring zum Juwelier zurückbringen.

Doch während wir unsere Pläne für die Zukunft machten, ließen unsere Philodendren eine nach der anderen die Blätter hängen. Unser Efeu wurde gelb und starb. Wir gaben uns alle Mühe mit unseren Pflanzen, redeten ihnen den ganzen Tag gut zu und baten sie, die Köpfe hoch zu halten. Sie erhielten doch das gesündeste Licht, das es bei uns gab – die Morgensonne.

Noch ein paar Wochen später hörten Carrie und Cory auf, uns zu bitten, mit ihnen ›nach draußen‹ zu gehen. Carrie bekam keine Anfälle mehr, bei denen sie mit ihren kleinen Fäusten gegen die Wände hämmerte und ›draußen Spielen‹ brüllte. Die Zwillinge akzeptierten zufrieden das, was sie zu Anfang so wütend zurückgewiesen hatten – der Dachbodengarten war das einzige ›Draußen‹, das es noch für sie gab.

Chris und ich schleiften alles, was wir an alten Matratzen finden konnten, zu den Ostfenstern. Die Fenster öffneten wir weit, damit von dem wenigen Sonnenlicht nicht noch das meiste in dem schmutzigen Fensterglas hängenblieb. Kinder brauchten Sonnenlicht, wenn sie wachsen sollten. Wir mußten uns nur unsere eingehenden Pflanzen ansehen, wenn wir sehen wollten, wie sich die fehlende Sonne auswirkte.

Ohne jede Scham zogen wir unsere Kleider aus und nahmen in der kurzen Zeit, die uns die Morgensonne ließ, regelmäßige Sonnenbäder. Wir sahen unsere Unterschiede, aber wir dachten uns nichts dabei und erzählten Mammi ganz offen von unseren Sonnenbädern. Sie blickte von mir zu Chris und lächelte schwach. »Macht das nur, aber laßt die Großmutter nichts davon erfahren. Sie würde nicht davon begeistert sein, wie ihr euch denken könnt.«

Heute weiß ich, daß sie Chris und mich damals ansah, um zu sehen, wie unschuldig wir noch waren oder ob sich unsere Sexualität bereits zu regen begann. Und was sie sah, mußte sie zu der beruhigenden Annahme verleitet haben, wir seien noch Kinder. Sie hätte es besser wissen sollen.

Die Zwillinge liebten es, nackt zu sein und zu spielen, als seien sie noch Babys. Sie lachten und kicherten und zeigten sich ihr ›Schwänzchen‹ und ihr ›Pfläumchen‹ und wunderten sich, warum Cory so etwas ganz anderes zum Pipimachen hatte als Carrie.

»Warum, Chris?« fragte Carrie und zeigte auf das, was er und Cory hatten und sie nicht.

Ich las gerade Die Sturmhöhe und hatte kein Interesse an solchem Kinderkram.

Aber Chris bemühte sich um eine korrekte und wahre Beantwortung dieser Frage: »Alle männlichen Wesen haben ihre Sexualorgane außen, und alle weiblichen haben sie innen.«

»Schön ordentlich innen und nicht so rumhängen«, ergänzte ich.

»Klar, Cathy, ich weiß, daß du großen Wert darauf legst, was für einen schönen, ordentlichen Körper Frauen haben. Aber ich finde meinen auch ganz in Ordnung. Also sind wir alle mit dem zufrieden, was wir haben. Und im übrigen, das habe ich vergessen, haben männliche Vögel ihre Sexualorgane auch innen.«

Interessiert erkundigte ich mich: »Woher weißt du das?«

»Ich weiß es eben.«

»Du hast es in einem Buch gelesen?«

»Was sonst – hast du gedacht, ich hätte einen Vogel gefangen und es an ihm studiert?«

»Das würde ich bei dir nicht für unmöglich halten.«

»Ich lese wenigstens Bücher, um daraus etwas zu lernen, nicht, um mich zu unterhalten oder weil mir nichts anderes einfällt.«

»Sei gewarnt, daß aus dir ein sehr langweiliger Mann werden könnte – und, sag mal, wenn männliche Vögel ihre auch innen haben, sind es dann eigentlich keine Weibchen? Ich meine ...«

»Nein!«

»Aber, Christopher, ich verstehe das nicht. Warum sind Vögel denn so anders?«

»Sie müssen stromlinienförmig gebaut sein, damit sie fliegen können.«

Das war wieder so eine verwirrende Sache, aber er hatte wie immer die passende Antwort. Ich wußte es einfach, dieses Superhirn hatte auf alles eine Antwort.

»Na gut, aber warum sind männliche Vögel denn nun so gebaut? Und laß das mit der Stromlinie mal ruhig beiseite.«

Er wiegte den Kopf, sein Gesicht lief rot an, und er suchte nach den richtigen Worten für eine delikate Sache: »Männliche Vögel können erregt werden, und dann kommt das, was innen ist, eben raus.«

»Wie werden sie denn erregt?«

»Halt den Mund und lies dein Buch – und laß mich meins lesen!«

Eines Tages wurde es zu kalt, um Sonnenbäder zu nehmen. Dann wurde es so eisig, daß wir ständig in unseren wärmsten Sachen herumlaufen mußten, wenn wir nicht frieren wollten. Viel zu schnell verschwand die Morgensonne jetzt aus dem Osten und ließ uns mit dem sehnlichen Wunsch zurück, es möge doch auch auf der Südseite Fenster geben. Doch dort war alles mit riesigen alten Schränken zugestellt oder mit Bretterverschlägen verrammelt.

»Macht euch nichts draus«, meinte Mammi, »die Morgensonne ist die gesündeste.«

Worte, die uns nicht besonders aufmuntern konnten, gingen doch unsere Pflanzen eine nach der anderen im allergesündesten Sonnenlicht ein.

Als der November begann, hatte sich auf dem Dachboden eine arktische Kälte ausgebreitet. Unsere Zähne klapperten, unsere Nasen liefen, wir niesten ständig und jammerten bei Mammi, wir brauchten endlich einen Ofen mit Kamin da oben, denn die beiden Öfen im Klassenzimmer waren nicht mehr mit dem Kamin verbunden. Mammi sprach davon, uns ein elektrisches Heizgerät oder einen Gasofen heraufzubringen. Aber sie hatte Angst, das Heizgerät könnte einen Brand verursachen, wenn es mit zu vielen Verlängerungskabeln angeschlossen war. Und auch für den Gasofen brauchten wir einen Abzug.

So brachte sie uns dicke wollene Unterwäsche, Ski-Jacken mit Kapuzen und gefütterte Ski-Hosen. Mit dieser Ausrüstung gingen wir weiter jeden Tag auf den Dachboden, denn nur dort konnten wir frei herumrennen und waren vor den allgegenwärtigen Augen der Großmutter sicher, die immer wieder durch den Türspalt schielten.

In unserem überfüllten Schlafzimmer konnten wir uns kaum rühren, ohne uns irgendwo das Schienbein zu stoßen. Auf dem Dachboden rannten wir dagegen frei umher, lachten und tobten, spielten Fangen oder Verstecken. Besonders Verstecken war natürlich zwischen all dem alten Gerümpel immer eine spannende Sache. Chris und ich hatten unseren Spaß daran, uns bei diesem Spiel jedesmal kräftig zu erschrecken. Doch für die Zwillinge spielten wir es immer etwas weniger unheimlich, denn sie hatten schon genug Angst vor den vielen »komischen Dingen«, die in den Schatten des riesigen Dachbodens lauerten. Carrie behauptete völlig ernst, hinter einigen der alten Schränke und Truhen habe sie Ungeheuer hocken sehen. Besonders die mit Tüchern abgedeckten Möbel blieben ein unheimlicher Anblick.

Eines Tages suchten wir auf unserem polaren Dachboden Cory. »Ich geh’ lieber runter«, verkündete Carrie und zog einen Flunsch. Es hatte keinen Zweck, sie oben zu halten, wenn sie keine Lust mehr hatte – dafür war sie zu stur. Also zog sie in ihrem süßen roten Ski-Anzug ab und überließ Chris und mir die Suche nach ihrem Zwillingsbruder. Gewöhnlich war das kein großes Problem. Cory versteckte sich immer da, wo Chris sich beim letztenmal versteckt hatte. Wir wußten, diesmal würde er deshalb in dem dritten großen Wandschrank auf der rechten Seite stecken. Um es spannender für ihn zu machen, suchten wir noch eine Weile laut herum und machten um den speziellen Schrank immer einen Bogen. Dann entschieden wir uns, ihn zu »finden«. Aber als wir die angelehnte Tür öffneten – keine Spur von Cory!

»Oh, verdammt!« rief Chris. »Jetzt hat er gerade heute eine innovative Ader bekommen und sich ein originelles Versteck gesucht.«

Das kam von diesen vielen klugen Büchern. Selbst in solchen Augenblicken mußte er noch gelehrt daherschwätzen! Ich wischte mir die Nase und sah mich noch einmal gründlich um. Für jemand, der wirklich erfinderisch war, gab es auf diesem weitläufigen Dachboden Millionen Verstecke. Da würden wir stundenlang suchen können, ohne auch nur eine Spur von Cory zu entdecken. Und mir war kalt, mir lief die Nase, und ich hatte jede Lust am Versteckspiel längst verloren, das Chris uns als tägliche Übung aufgezwungen hatte, damit wir »fit« blieben.

»Cory!« brüllte ich. »Komm raus, wo du dich auch gerade versteckt hast! Es ist Zeit fürs Mittagessen!« Na, wenn ihn das nicht rauslockte! Unsere Mahlzeiten waren gemütliche und sehr familiäre Ereignisse, die unseren langen Tag in besser zu ertragende kleine Abschnitte unterteilten.

Doch er ließ sich noch immer nicht blicken. Ich starrte Chris wütend an. »Erdnußbutter- und Marmelade-Brote!« fügte ich laut hinzu. Corys Lieblingssandwiches, die er mit einem Freudenschrei hätte begrüßen müssen. Aber es rührte sich nichts, kein Geräusch, kein Ruf, nichts.

Plötzlich bekam ich Angst. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Cory von einem Tag auf den anderen alle Angst vor den abgelegenen Schattenregionen des Bodens überwunden hatte und das Spiel nun wirklich auf eigene Faust spielte – aber wenn er nun einfach versucht hatte, Chris oder mich nachzuahmen? O Gott! »Chris!« rief ich. »Wir müssen Cory finden, und zwar schnell!«

Er begriff, was in meinem Kopf vorging, und lief los, Cory laut rufend und ihm befehlend, sofort rauszukommen. Beide rannten wir über den Dachboden und suchten fieberhaft. Ende des Versteckspiels, Zeit zum Mittagessen! Keine Antwort, und trotz meiner dicken Winterkleidung fröstelte mir. Selbst meine Hände sahen bläulich aus.

»Mein Gott«, murmelte Chris, der mich eingeholt hatte, »stell dir vor, er hat sich in einer der alten Truhen versteckt und den Deckel zugemacht. Der Riegel könnte dann von selbst zugeklappt sein!«

Wie die Verrückten hetzten wir los und rissen den Deckel von jeder Truhe auf, die wir finden konnten. Wir warfen alles, was obenauf in den Truhen lag, durch die Gegend. Und während wir rannten und suchten, betete ich immer wieder zu Gott, er möge Cory nicht sterben lassen, bitte, bitte!

»Cathy, ich hab’ ihn!« schrie Chris. Ich wirbelte herum und sah, wie Chris Corys kleine, schlaffe Gestalt aus einer Truhe hob, deren Riegel vorgerutscht war. Mit vor Erleichterung zittrigen Knien wankte ich zu den beiden und küßte Corys bleiches kleines Gesicht, dem der Sauerstoffmangel schon deutlich anzusehen war. Seine halb geschlossenen Augen blickten ins Leere, und er stand dicht vor der Bewußtlosigkeit. »Mammi«, flüsterte er, »ich will meine Mammi!«

Aber die Mammi war meilenweit weg und lernte Maschinenschreiben und Steno. Es gab nur eine erbarmungslose Großmutter, von der wir nicht einmal wußten, wie wir sie in einem Notfall erreichen konnten.

»Lauf schnell runter und laß heißes Wasser in die Wanne ein«, sagte Chris, »aber nicht zu heiß. Wir wollen ihn nicht kochen.« Dann rannte er selbst mit Cory auf dem Arm zur Treppe.

Ich war noch vor ihm in unserem Zimmer und stürzte sofort ins Bad. Ein Blick über die Schulter zeigte mir, daß Chris Cory auf sein Bett legte. Dann beugte er sich über ihn, hielt ihm die Nase zu und preßte seinen Mund auf Corys blaue, halb geöffnete Lippen.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals! War Cory tot? Hatte er aufgehört zu atmen?

Carrie warf einen Blick auf diese Szene – ihr Zwillingsbruder blau im Gesicht und ohne sich zu rühren –, und sie begann zu weinen.

Im Badezimmer drehte ich beide Hähne bis zum Anschlag auf. Das Wasser brauste in die Wanne. Cory starb! Die ganze Zeit träumte ich schon vom Sterben und vom Tod ... und meistens wurden meine Träume irgendwann Wirklichkeit. Und wie immer, wenn ich mir gerade noch die Hoffnung gemacht hatte, Gott würde uns den Rücken zuwenden und sich nicht um uns kümmern, klammerte ich mich bei Gefahr sofort wieder an meinen Glauben und flehte Ihn an, Cory nicht sterben zu lassen ... bitte, lieber Gott, bitte, bitte, bitte!

Vielleicht halfen meine Gebete Cory genausoviel, wieder ins Leben zurückzufinden, wie Chris’ künstliche Beatmung.

»Er atmet wieder«, sagte Chris, bleich und zitternd. Er trug Cory zur Badewanne. »Jetzt müssen wir ihn noch aufwärmen.«

Im Handumdrehen hatten wir Cory aus seinen Sachen geschält und in die Wanne mit warmem Wasser gelegt.

»Mammi«, wisperte Cory, als er zu sich kam, »ich will meine Mammi.« Immer wieder sagte er das. Ich hätte mit den Fäusten gegen die Wand hämmern können, denn es war so verdammt unfair für ihn! Er hätte wirklich seine Mutter gebraucht, und nicht nur eine Spielmutti, die nicht wußte, was man in so einer Situation wirklich zu tun hatte. Ich wollte raus hier, raus aus dieser Rolle, selbst wenn ich statt dessen auf der Straße betteln müßte!

Aber ich sagte auf eine ruhige Art, die mir ein anerkennendes Lächeln von Chris einbrachte: »Warum kannst du nicht so tun, als wenn ich deine Mammi wäre? Ich tue alles für dich, was sie auch täte. Ich halte dich auf dem Arm und sing’ dir ein Liedchen zum Einschlafen, sobald du nur ein bißchen gegessen und Milch getrunken hast.«

Chris und ich knieten neben der Wanne, als ich das sagte. Er massierte Cory die kleinen Füße, während ich seine kalten Hände rieb, um sie anzuwärmen. Als seine Haut wieder ihre natürliche rosige Farbe annahm, trockneten wir Cory ab und steckten ihn in seinen wärmsten Schlafanzug. Dann setzte ich mich, mit ihm auf dem Schoß, in den alten Schaukelstuhl, den Chris vom Dachboden heruntergebracht hatte, wickelte ihn noch zusätzlich in eine Decke und preßte ihn eng an mich. Ich küßte ihm immer wieder das kleine Gesicht und flüsterte ihm liebevollen Unsinn ins Ohr, der ihn leise und glücklich kichern ließ.

Wenn er wieder kichern konnte, mußte er auch essen können, also fütterte ich ihn mit kleinen Häppchen und gab ihm löffelweise lauwarme Suppe. Dazu trank er Milch in langen Zügen. Und während ich ihn versorgte, wurde ich älter, erwachsener. In zehn Minuten um zehn Jahre. Ich blickte hinüber zu Chris, der sein Mittagessen aß, und sah, daß auch er sich verändert hatte. Jetzt wußten wir, daß es auf dem Dachboden wirkliche Gefahren gab, nicht nur dunkle Schatten und ekelhaftes Viehzeug.

Nach dem Essen stand Chris auf und ging ganz allein und mit grimmigem Gesicht auf den Dachboden. Ich nahm auch noch Carrie zu mir auf den Schoß und sang den beiden ein Lied. Plötzlich ertönte von oben ein wildes Hämmern, ein furchtbarer Krach, den auch das Personal weiter unten hören mußte.

»Cathy«, sagte Cory in einem sehr leisen Flüstern, während Carrie mir auf dem Schoß eingeschlafen war, »ich find’ das nicht schön, daß ich keine Mammi mehr habe.«

»Du hast eine Mammi – du hast mich.«

»Bist du so gut wie eine richtige Mammi?«

»Ja, ich glaube schon. Ich habe dich sehr lieb, Cory, und deshalb bin ich eine richtige Mammi.«

Cory starrte mich mit weit aufgerissenen blauen Augen an, um mir anzusehen, ob ich das ernst meinte oder mich nur über ihn als kleinen Jungen lustig machte. Dann schoben sich seine kleinen Arme um meinen Hals, und er kuschelte den Kopf an meine Schulter. »Ich bin so müde, Mammi, aber hör bitte nicht auf zu singen.«

Ich schaukelte noch immer mit den beiden und sang leise dazu, als Chris mit zufriedenem Gesicht auftauchte. »Nie wieder kann sich da oben eine Truhe versehentlich verriegeln«, sagte er, »denn ich habe sämtliche Schlösser und Riegel abgeschlagen. Auch die von den alten Schränken.«

Ich nickte.

Er setzte sich auf das nächste Bett, sah dem gleichmäßigen Rhythmus der Bewegungen des Schaukelstuhls zu und hörte sich meinen kindlichen Singsang an. Etwas schien ihn zu bewegen, denn sein Gesicht rötete sich leicht, und dann fragte er: »Ich fühle mich ein wenig ausgeschlossen, Cathy. Macht es etwas, wenn ich mich auf den Schaukelstuhl setze und ihr setzt euch dann alle drei auf meinen Schoß?«

Daddy hatte das immer getan. Er hatte uns alle und Mammi noch dazu auf seinen Schoß genommen und seine großen, kräftigen Arme um uns gelegt. Ich fragte mich, ob Chris dafür schon alt genug war.

Als wir dann alle in dem Schaukelstuhl saßen, ich mit den Kleinen auf Chris’ Schoß, erhaschte ich einen Blick auf unser Bild im Spiegel des Ankleidetisches. Ein unheimliches Gefühl beschlich mich und ließ alles unwirklich erscheinen. Er und ich sahen wie Spielzeugeltern aus, wie jüngere Ausgaben von Daddy und Mammi.

»Die Bibel sagt, es gibt für alles die richtige Zeit«, meinte Chris, ganz leise, um die Zwillinge nicht aufzuwecken. »Für uns ist im Augenblick eine Zeit des Opfers. Aber später kommt unsere Zeit der Freude und des Lebens.«

Ich genoß es, seinen starken jungen Arm um mich gelegt zu spüren. Fast so gut wie der von Daddy. Chris hatte recht. Unsere guten Zeiten würden kommen, wenn wir die Treppe hinunter auf ein Begräbnis gingen.

Die Foxworth-Saga 1-3

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