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2. Permanenz des Idealismus im Werk Husserls
ОглавлениеNur ein Denker hat es im letzten Jahrhundert versucht, systematisch einen Neuanfang des Idealismus zu leisten, und zwar nicht aus dem Bedürfnis, die deutsche Tradition fortzusetzen, sondern um unvoreingenommen das Geschäft des Philosophierens ernst zu nehmen. Auf diese Weise ist Edmund Husserl in einem fast als jugendlich zu bezeichnenden Enthusiasmus zur Idee der Phänomenologie als transzendentaler Philosophie gelangt. Es stellt sich die Frage, ob sich das ganze Werk Husserls in seinen verschiedenen Phasen als idealistisch bezeichnen lässt. In seinen ersten phänomenologischen Studien, den Logischen Untersuchungen (1900), ist nicht nur eine Tendenz zum Idealismus, sondern eine Phänomenologie objektiv-idealistischen Typs präsent, während die Ideen (1913) und auch noch die Cartesianischen Meditationen (1929) höchstens als phänomenologisch-transzendentaler Idealismus einzuordnen sind. Husserl wollte den transzendentalen Idealismus in dieser letzten Schrift jedenfalls nicht als metaphysische Konstruktion verstanden sehen (Hua 1, 176f.). Doch die Cartesianischen Meditationen markieren auch eine Grenze seines phänomenologischen Verfahrens, da er in der fünften Meditation das Problem des Solipsismus nicht zufriedenstellend lösen konnte.
Die Weiterentwicklung der phänomenologischen Strömung im vorigen Jahrhundert sah in diesem idealistischen Verfahren deshalb eine Sackgasse, wandte sich vollständig von den transzendentalen Studien des Gründers der Phänomenologie ab und behielt nur den deskriptiven Teil der frühen Phänomenologie bei. Sie verband damit neue philosophische Ziele, die der Sphäre der sozialen Lebenswelt verhaftet blieben. Von Martin Heidegger über Maurice Merleau-Ponty bis zu Emmanuel Levinas haben sich die großen Weiterführungen der Phänomenologie allesamt nicht nur von der Idee einer transzendentalen Subjektivität, sondern im weiteren Sinne auch von einer idealistisch geprägten Ontologie distanziert. Mit Ausnahme von Max Scheler haben sich die wichtigsten Phänomenologen des vergangenen Jahrhunderts darum bemüht, die ontotheologischen Voraussetzungen der westlichen Philosophie zu vermeiden oder zu überwinden. Der originellste Versuch des vergangenen Jahrhunderts, dem Idealismus und der Transzendentalphilosophie eine neue Wendung zu geben, scheiterte so an Husserls wichtigsten Nachfolgern.
Entweder vermochte Husserl die Zeichen der Zeit nicht zu verstehen oder er war seiner Zeit voraus. Das 19. Jahrhundert kannte epigonale Ausläufer des deutschen Idealismus, aber gerade das war Edmund Husserl nicht. Husserl hat sich nie intensiv mit dem deutschen Idealismus beschäftigt. Man findet eine Auseinandersetzung mit Johann Gottlieb Fichtes Menschheitsideal in Aufsätze und Vorträge (Hua 25, 267–293) und Bemerkungen zum deutschen Idealismus in den Beilagen zur Ersten Philosophie, aber aus alledem geht hervor, dass Husserl sich mit der deutschen Tradition nicht identifizieren wollte. Die Vorsicht gegenüber rationaler Spekulation und metaphysischer Ontologie teilte Husserl mit den meisten Philosophen der letzten zwei Jahrhunderte. Es ist aber bezeichnend, wie wohlwollend er in seiner Ersten Philosophie das Denken Platons aufnahm, von dem er erkannte, es werde im Weitern „das Schicksal der europäischen Kulturentwicklung“ bestimmen (Hua 7, 17). In der spekulativen Metaphysik des deutschen Idealismus erblickte er dagegen eine mystische Tendenz. Die Bemerkungen zur nachkantischen Philosophie, die als Beilage der Ersten Philosophie beigefügt sind, lassen allerdings auch eine gewisse Bewunderung für den Anspruch des deutschen Idealismus erkennen, der die Wissenschaft einheitlich aus der Idee der Vernunft zu entwickeln beanspruchte. Diesem universalistischen Anspruch stimmte er zu (Hua 7, 412). In einem Brief an Heinrich Rickert aus dem Jahre 1917 schrieb Husserl, dass er mit seinem Denken „unvermerkt im idealistischen Gelände“ angelangt sei und „das Große und ewig Bedeutsame des deutschen Idealismus“ erfasst habe (1994, 178). Zugleich habe der Idealismus der klassischen deutschen Philosophie, wie Husserl in den Beilagen zur Ersten Philosophie klar macht, die Beziehung zur wahrhaft strengen Wissenschaft verloren, weil er, wie im Falle Fichtes und Friedrich Schellings, die intellektuelle Anschauung ekstatisch auffasse (Hua 7, 409). Auch Hegel habe die absolute Vernunft als „göttliches Denken (…) [wie] eine Art ekstatischer Zustand“ verstanden, was er auch selbst mystisch interpretiere (Hua 7, 410). So wird nach Husserl das anfängliche Streben nach strengem Denken, das er am deutschen Idealismus bewunderte, durch ein mystisches Hellsehen verwässert (Hua 7, 410). Im Aufsatz „Phänomenologie und Anthropologie“ (Hua 27, 164–181) bringt Husserl explizit zum Ausdruck, dass sich der deutsche Idealismus verfahren hat: „[B]ei Fichte und seinen Nachfolgern war es außerordentlich schwer, den transzendentalen Erfahrungsboden in seiner Unendlichkeit zu sehen und nutzbar zu machen. Da der deutsche Idealismus hier versagte, gerät er in bodenlose Spekulationen“ (Hua 27, 172).
Zu einer tieferen Auseinandersetzung mit der idealistischen Philosophie ist es bei Husserl nicht gekommen. Seine Interpretation der deutschen Tradition scheint teilweise an Donald Davidsons „principle of charity“ (dem Prinzip einer wohlwollenden Interpretation) vorbeizugehen und steht selbst im Zeichen der antiidealistischen Reaktionen, die man zu dieser Zeit oft vorfand. Ganz anders ist wie oben bereits angedeutet seine Deutung der Lehre Platons, die bei ihm – vielleicht wegen des größeren historischen Abstandes – eine weniger negative Reaktion hervorrief. Husserl hätte Platons Tendenz zum Mystizismus, die im Neuplatonismus stark hervortrat, unterstreichen können; er erkannte in dieser Lehre jedoch die Basis einer Philosophie, die strenge Wissenschaft sein und sich über die radikale Skepsis hinaus zu „echter Wissenschaft“ entwickeln will (Hua 7, 12). Dabei lobte er an Platon, was Hegel als Fundamentalidee des absoluten Idealismus sah.
Platon war nach Husserl der wahre Vater der wissenschaftlichen Philosophie. Denn a) er wollte aus einem Grundprinzip heraus systematisch das Wissen des Seins durchstreifen: Er suchte daher notwendig eine theoretisch verbundene Einheit und somit eine universale Wissenschaft (Hua 7, 13). Diese Hervorhebung des Systematischen impliziert b) die Idee einer „absolut gerechtfertigten Wissenschaft“ (Hua 7, 13). Es sollte kein naives Gebilde konstruiert werden, sondern eine Wissenschaft, deren Schritte Endgültigkeit beanspruchen können. Die Aufgabe der Philosophie, so wie Husserl sie im Platonischen Sinne versteht, ist die Konstruktion eines Systems, das auf letzte Begründung angewiesen ist (Hua 5, 139). Platon liefert das Muster einer für die Philosophie Husserls grundlegenden Idee, „eine sich selbst absolut rechtfertigende universale Methodologie“, die, wie er sagt, „deduktible“ apriorische Wahrheiten zu rekonstruieren hat (Hua 7, 13f.). Dies nähert sich der Idee einer substantiellen Logik im Sinne Hegels. Husserl unterscheidet zwei Stufen der Platonischen Philosophie, die er auch für sich in Anspruch nimmt. Die erste Stufe konstituiert eine Totalität aus apriorischen Prinzipien. Die zweite Stufe rekonstruiert nach Husserl die „Gesamtheit der ‚echten‘ (…) ‚erklärenden‘ Tatsachenwissenschaften“ (Hua 7, 14). Dieser Teil scheint der Hegelschen Realphilosophie sehr nahe zu kommen. Auch hier handelt es sich um den Versuch, aus der Realität, die von den erklärenden Tatsachenwissenschaften festgelegt wird, apriorische Prinzipien zu gewinnen. Diese zwei Stufen kehren in seinem Werk immer wieder zurück, so etwa in der Phänomenologischen Psychologie, wo er zwei Wege unterscheidet, einerseits den direkten Weg der transzendentalen Phänomenologie, der im Sinne der Cartesianischen Methode a priori verfährt, und andererseits den indirekten Weg, der konkrete intentionelle Beschreibungen von Phänomenen vorlegt (Hua 9, 299f.). Auch in seinem berühmten Aufsatz für die Encyclopaedia Britannica unterscheidet Husserl eine erste Philosophie, die eidetische Phänomenologie sein will, von einer zweiten, die „Wissenschaft vom Universum der Fakta“ sein soll (Hua 9, 298).
An Platon schätzt Husserl weiter auch c) die Vorstellung, dass die Idee der Vernunft „eine Gemeinschaftsidee“ ist (Hua 7, 16). Husserl zufolge hat die Sozialethik bei Platon einen epistemologischen Wert. Das Gemeinschaftsleben dient der „Emporbildung der Menschheit zur Höhe wahren und echten Menschentums“ und damit auch der theoretischen Vernunft (Hua 7, 14). Diese Bemerkungen zum epistemologischen Sinn des Gemeinschaftslebens erinnern an Husserls Vorstellung der transzendentalen Intersubjektivität, die in den Cartesianischen Meditationen in Anlehnung an Gottfried Wilhelm Leibniz als „monadologische Intersubjektivität“ präsentiert wird (Hua 1, 149). Hier geht Husserl einen Schritt über Hegel hinaus, der in seiner Wissenschaft der Logik der epistemologischen Funktion der Intersubjektivität keine transzendentale Rolle einräumt. Husserl markiert damit auch die differentia specifica des Idealismus neuen Typs, der sich erst in der Endphase des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf den modernen Skeptizismus entwickelt. Die bisher letzte Metamorphose des Idealismus findet im Kokon des neuen Paradigmas der Intersubjektivität statt und versucht den Reichtum an Einsichten, die die soziologische und linguistische Wende in der Philosophie der letzten zwei Jahrhunderte gesammelt hat, synthetisch im Rahmen einer neuen prima philosophia zu integrieren.
Husserls Wertschätzung Platons gilt zuletzt auch d) der Entdeckung der Ideenlehre. Gegenüber dieser Tatsache sind diejenigen Interpretationen des Werks Husserls besonders legitimiert, die in diesem Denken eine neue Form des objektiven Idealismus erblicken. Die Ideenlehre Platons entwickelt nach Husserl die Vorstellung einer gestuften Rationalität, an der alle einzelnen Wissenschaften hängen. Aus primitivsten Allgemeinheiten erwächst somit „ein Gefüge idealer Formen und Formgesetze“, die alles Elementare und Komplexe durchdringen (Hua 7, 18). In Anbetracht dieser Faszination Husserls für das Denken Platons drängt sich eine Deutung seiner Phänomenologie auf, die sie als erste Sondierung eines idealistischen Systems versteht, das nicht nur dem lebensweltlichen Phänomen der Intersubjektivität, sondern auch dessen eidetischer Möglichkeit Rechnung trägt, zugleich aber auch einem enzyklopädischen Ziel nachstrebt.