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1. Der Weg zum Deutschen Idealismus
ОглавлениеAuch nach 200Jahren sind wichtige Fragen, die im Deutschen Idealismus diskutiert wurden, immer noch offen. Bevor ich auf sie eingehe, will ich ganz kurz schildern, wie sie entstanden sind. Die neuzeitliche Philosophie beginnt mit dem Abschied von der Überzeugung, antike Philosophie und christliche Offenbarung sagten uns schon, wie die Welt beschaffen sei. Nun will man dies durch eigene Erfahrungen und Überlegungen erkennen. Schon bald regten sich aber Zweifel, ob sich aus diesen beiden Quellen eine sichere Erkenntnis der Wirklichkeit gewinnen ließe. Sie begegnen uns schon bei René Descartes. Er sah, dass wir keine Garantie haben, dass unsere Sinneseindrücke uns die Außenwelt so zeigen, wie sie wirklich ist. Es könnte ja, sagt er, einen bösen Dämon geben, der unsere Eindrücke so manipuliert, dass sie uns eine Welt vorspiegeln, wie es sie tatsächlich gar nicht gibt. Der Ernst dieses Problems wird dadurch deutlich, dass Descartes zu seiner Lösung einen deus ex machina benötigte, einen Gott, der in seiner Güte nicht wollen kann, dass wir uns selbst mit unseren klaren und distinkten Eindrücken von der physischen Welt irren. Die Einsicht, dass seine Beweise für die Existenz Gottes unhaltbar sind, hat diese Rechtfertigung der Zuverlässigkeit unserer Erfahrungen aber schnell entwertet.
Eine längere epistemologische Karriere war dem bösen Dämon Descartes’ beschieden. Zunächst wurde er internalisiert und wandelte sich dabei von einer Fiktion zur Realität. Man erkannte, wie schon die griechische Aufklärung, dass die Inhalte unserer Erfahrungen von subjektiven Faktoren abhängen, dass wir die Dinge mit sekundären Eigenschaften wahrnehmen, die sie nicht an sich haben, sondern nur in unserer Wahrnehmung. Als primär galten vor allem jene Eigenschaften, mit denen die Physik arbeitete, von der man sich nun Auskünfte über die wahre Natur der Außenwirklichkeit erhoffte. George Berkeley hat jedoch zu zeigen versucht, dass auch alle physikalischen Eigenschaften sekundär sind, dass uns also die Außenwelt, wie sie an sich beschaffen ist, unzugänglich bleibt. Der neue Dämon ist nun unsere eigene Wahrnehmungsorganisation.
Berkeley hat noch eine weitere Variante des Dämons eingeführt. Wegen der Unerkennbarkeit einer äußeren, materiellen Welt hat er dafür plädiert, die Annahme einer solchen Welt überhaupt aufzugeben, da sich nicht einmal ihre Existenz beweisen lasse und Unerkennbares auch keinen Erklärungswert habe. Nur die Tatsache, dass wir unsere Sinneseindrücke nicht selbst bewirken, also eine externe Ursache für sie benötigen, sprach ja noch für die Existenz einer Außenwelt. Die Verursachung unserer Eindrücke hat Berkeley jedoch Gott übertragen, dafür brauchte er keine materielle Realität. Damit rückte freilich nun Gott in die Rolle des bösen Dämons ein, denn die körperliche Welt, die er uns erleben lässt, gibt es nach Berkeley ja gar nicht.
Auch für Immanuel Kant war die Außenwelt ein unerforschliches „Ding an sich“. Auch für ihn führte der Weg zu dieser Annahme über den Nachweis der Idealität auch von Raum, Zeit und Materie. Seine Bedeutung für die Geschichte des Idealismus besteht aber weniger in seinen Argumenten dafür als in seinem Versuch, Wesen und Struktur der empirischen Wirklichkeit aus der Natur unseres eigenen Erkenntnisvermögens abzuleiten. Er meinte: Während es ein bloßer Zufall sei, wenn unsere Begriffe sich für die Beschreibung einer äußeren, verstandesunabhängigen Realität eigneten, leuchtet es ein, dass sie zur Welt passen, wie sie uns in unseren Erfahrungen erscheint, denn die werden von unserem Anschauungsvermögen wie von unserem Verstand mitbestimmt. Nach Kant können wir die Funktionsweise unser eigenen kognitiven Vermögen a priori erkennen und damit auch die Strukturen, die sie dem „Gewühle der Empfindungen“ aufprägen, deren Ursache Kant im Ding an sich sah. Nicht die Welt an sich, wohl aber die Welt der Erscheinungen lässt sich so zuverlässig erkennen. Kant schreibt:
„Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt (…). Es ist hiermit ebenso, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen. Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müsste, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könnte; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen. Weil ich aber bei diesen Anschauungen, wenn sie Erkenntnisse werden sollen, nicht stehen bleiben kann, sondern sie als Vorstellungen auf irgendetwas als Gegenstand beziehen und diesen durch jene bestimmen muss, so kann ich entweder annehmen, die Begriffe, wodurch ich diese Bestimmung zustande bringe, richten sich auch nach dem Gegenstande, und dann bin ich wiederum in derselben Verlegenheit, wegen der Art, wie ich a priori hiervon etwas wissen könne; oder ich nehme an, die Gegenstände oder, welches einerlei ist, die Erfahrung (…) richte sich nach diesen Begriffen, so sehe ich sofort eine leichtere Auskunft, weil Erfahrung selbst eine Erkenntnisart ist, die Verstand erfordert, dessen Regel ich in mir, noch ehe mir Gegenstände gegeben werden, mithin a priori voraussetzen muss, welche in Begriffen a priori ausgedrückt wird, nach denen sich also alle Gegenstände der Erfahrung notwendig richten und mit ihnen übereinstimmen müssen“ (KrV, B xvi ff.).
Man hat mit Recht darauf hingewiesen, dass Kants Vergleich seiner philosophischen Revolution mit der kopernikanischen Wende unglücklich ist. Seine Wende geht ja in die umgekehrte Richtung: Während Nikolaus Kopernikus den Menschen zu einer peripheren Erscheinung machte, macht Kant aus ihm den Ursprung der Welt, wie sie uns in unseren Erfahrungen erscheint. Revolutionär war die Idee Kants aber in jedem Fall: Nicht Gott hat die Welt erschaffen, die sich uns in unseren Erfahrungen zeigt, sondern wir selbst erschaffen sie; das Universum und seine Naturgesetze sind Produkte unseres eigenen Geistes. Erkenntnis wird traditionell als adaequatio intellectus ad rem verstanden, als Angleichung des erkennenden Geistes an die erkannte Sache. Nach Platon ist eine solche Angleichung nur möglich, wenn beide, Bewusstsein und Sein, von gleicher Art sind. Dieser Idee entspricht der Gedanke Kants, dass wir die empirischen Erscheinungen deswegen erkennen, weil sie unsere eigenen Produkte sind.