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1. Naturalismus und sozialer Konstruktivismus
ОглавлениеFür den Naturalisten sind die letzten Bestandteile der Wirklichkeit materiell, ja, die Physik gilt nicht nur als die grundlegende Wissenschaft der realen Welt, was sie zweifelsohne ist, sondern auf sie sollten alle anderen Wissenschaften zurückgeführt werden. Was „Zurückführung“ genau bedeutet, ist dabei durchaus umstritten. So scheinen die „Gesetze“ der Biologie zwar mit den Gesetzen der Physik und Chemie kompatibel, aber, insofern sie das Faktum des Lebens voraussetzen, auch nicht alleine aus jenen Gesetzen zu folgen, da jenes Faktum sich bestenfalls nur aufgrund dieser Gesetze und bestimmter Anfangsbedingungen ergibt und da dieses Faktum begrifflich nur mit einem Apparat erfasst werden kann, der die Sprache von Physik und Chemie transzendiert. Insbesondere sind die Wissenschaften vom Menschen in der naturalistischen Konzeption nichts als Unterabteilungen der Biologie. Der Mensch sei demnach ein Resultat der biotischen Evolution, und sein Erkennen und sein Verhalten können im Rahmen der evolutionären Erkenntnistheorie und der Soziobiologie kausal erklärt werden. Die beiden wichtigsten Herausforderungen für den Naturalismus sind das Leib-Seele- und das Sein-Sollen-Problem. Jenes Problem wird am radikalsten im Rahmen der Identitätstheorie beseitigt: Nach dieser sind mentale Zustände mit den ihnen zugrundeliegenden neuronalen Ereignissen identisch. Zumindest wird im Rahmen des Epiphänomenalismus darauf beharrt, dass mentale Zustände, wenn sie mit physischen nicht gleichgesetzt werden können, auf physischen supervenieren und aufgrund der kausalen Geschlossenheit des Physischen keine kausale Wirkung auf die physische Welt ausüben können. Man sollte sie nicht einmal mit dem Pfiff einer Dampfmaschine vergleichen (Huxley 1899, 240), denn akustische Phänomene sind etwas Physisches und durchaus Wirkungen und Ursachen von Physischem. Geistiges mag zwar existieren, aber es gilt als wesentlich ohnmächtig.
Immerhin mag eine Supervenienztheorie das Auftreten des Mentalen erfassen. Nicht leicht einzusehen ist dagegen, wie der Naturalismus Platz finden kann für Normen. Die Ethik muss in dieser Perspektive auf faktische Präferenzen konkreter Menschen gegründet werden, die nur hinsichtlich der Mittel, die zielführend sind, belehrt werden können. Vielleicht kann der Naturalismus in Gestalt der Soziobiologie erklären, wieso menschliche Kulturen bestimmte Normensysteme entwickeln; aber das bedeutet keineswegs eine Rechtfertigung der Gültigkeit jener Normen. Hinsichtlich dieser Fragen ist der Naturalismus zu weitgehender Skepsis verurteilt. Offenkundig ist das der Fall bei ethischen und ästhetischen Normen. Aber auch bei der Rechtfertigung epistemischer Normen hat der Naturalismus Schwierigkeiten – er kann höchstens erklären, dass epistemische Einstellungen, die das Leben verlängern und die Reproduktion erhöhen, aufgrund des Mechanismus der natürlichen Selektion bessere Chancen haben, sich auszubreiten. Aufgrund des Erfolges der modernen Wissenschaften, auch und gerade was die Lebensverlängerung und die Fähigkeit, eine viel größere Bevölkerung zu ernähren, betrifft, vertritt der Naturalismus als grundlegende epistemische Norm meist eine methodisch kontrollierte Erfahrung, neben der, seit dem Logischen Positivismus, die auf Erfahrung irreduzible Logik anerkannt wird. Da sich der Triumphzug der modernen Wissenschaft seit dem 17. Jahrhundert ausschließlich methodischem Experimentieren und der Bildung mathematischer Modelle verdanken soll, scheint diese Erkenntnistheorie dem augenscheinlich erfolgreichsten epistemischen System, den modernen Naturwissenschaften, kongenial zu sein.
Der soziale Konstruktivismus ist in mancherlei Hinsicht der Erbe des subjektiven Idealismus. Wie dieser verweist er auf die schöpferische Natur des subjektiven Aktes, mit dem wir schon in der Wahrnehmung auf die Wirklichkeit reagieren. Der bekannte Satz Ludwig Wittgensteins „Um zu erkennen, ob ein Bild wahr oder falsch ist, müssen wir es mit der Wirklichkeit vergleichen“ (Tractatus, 2·223) scheint keine Hoffnung auf eine Erkenntnis der Wirklichkeit zu machen. Denn da wir aus unserem Bewusstsein nicht heraustreten können, scheinen wir uns immer nur in Bildern zu bewegen.1 Zwar gehen manche Formen des Konstruktivismus davon aus, dass es allgemein menschliche Formen des Konstruierens gibt; damit wird wenigstens ein intersubjektiver Konsens als erzielbar in Aussicht gestellt, wenn auch nicht garantiert, dass diesem eine unabhängig von den Konstruktionen bestehende Wirklichkeit entspricht. Doch anders als die Idealisten des 17. und 18. Jahrhunderts bestücken zeitgenössische Konstruktivisten ihr Arsenal hauptsächlich aus Ergebnissen der modernen Geisteswissenschaften. Die seit dem 19. Jahrhundert umfassend erforschten menschlichen Kulturen scheinen eine solche Fülle unterschiedlicher Formen, die Welt zu kategorisieren und begreiflich zu machen, ebenso wie von Werten vorzuführen, dass die Vermutung naheliegt, keine von ihnen basiere auf einer gültigen Erkenntnis der Wirklichkeit. Die Vielfalt menschlicher Sprachen etwa lege sprachrelativistische Konsequenzen nahe: Wir nähmen die Wirklichkeit so wahr, wie dies die vorgängige sprachliche Kategorisierung in Morphologie und Wortschatz nahelege. Selbst das Bild der Wirklichkeit, das die moderne Wissenschaft entwirft, erscheint in dieser Sicht als nur eine „Episteme“ unter anderen (Foucault 1966).Ja, selbst die Paradigmen der Wissenschaft, die die einzelnen Epochen hervorbringen, seien miteinander inkommensurabel (Kuhn 1962). Das bedeutet, dass es keine Rationalitätskriterien gebe, die den Übergang von einem zum anderen Weltbild bzw. Paradigma leiten. Der Wechsel von Weltbild zu Weltbild bzw. von wissenschaftlichem Paradigma zu wissenschaftlichem Paradigma erscheint in dieser Hinsicht nicht mehr als Fortschritt, als epistemische Approximation an eine an sich bestehende Wirklichkeit, sondern vielmehr als unter Rationalität nicht subsumierbares Ereignis, da man von Vernunft nur innerhalb eines Weltbildes oder Paradigmas reden könne. Soziale Machtstrategien erklären den Übergang, und diese zu erlernen sei weiser als sich mit Geltungsfragen herumzuschlagen. So sei der sich auf die moderne Naturwissenschaft stützende Naturalismus nichts als ein geschichtlich gewordenes Weltbild mit nur historischer Gültigkeit – eine Einsicht, die den Konstruktivisten über den Naturalisten hinaushebe, der nie über die kulturelle Bedingtheit der eigenen Position reflektiere.
Darauf kann dieser natürlich entgegnen, sein Forschungsprogramm beinhalte eine kausale Erklärung der Entstehung des Konstruktivismus. Ein vielversprechender Ansatz wäre, darauf zu verweisen, dass die Geisteswissenschaften, die sich ursprünglich dem Bedürfnis verdankten, andere Kulturen besser zu verstehen, um sie besser beherrschen zu können, in der modernen Gesellschaft an Bedeutung verlören, da sie zu den naturwissenschaftlich-technischen Grundlagen von deren wirtschaftlichem Wachstum nicht beitrügen. Da aber dieses Wachstum immer mehr Menschen von der Notwendigkeit freisetze, physisch zu arbeiten oder auch nur selber den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt zu befördern, jedoch das Privileg einer geisteswissenschaftlichen Existenz in der Meinungsindustrie durch das Gefühl getrübt werde, weniger nützlich als andere, ja vielleicht sogar ein Parasit der Gesellschaft zu sein, setze dieses Gefühl Kompensationsbemühungen frei, deren vielleicht ehrgeizigste der geisteswissenschaftliche Konstruktivismus sei. Dieser müsse sich gar nicht mehr auf die konkreten Inhalte einer naturwissenschaftlichen Theorie einlassen, um sich dank der einfachen Reflexion, sie sei ja auch nur geschichtlich entstanden und daher durch menschliche Konstruktionen bedingt, auf eine Metaebene zu schwingen, von der sie auf den Naturalismus herabblicken kann. Freilich wird der Konstruktivist darauf reagieren, indem er die begrifflichen Konstrukte und deren Genese nachzeichnet, die dieser Erklärung zugrunde liegen.
Es ist unschwer zu sehen, dass dieser Perspektivenwechsel ad infinitum fortgesetzt werden kann. Im Grunde handelt es sich um ein philosophisches Äquivalent einer Kippfigur. Denn Ontologie und Epistemologie sind komplementäre Disziplinen. Die eine erscheint – wenn auch glücklicherweise in verschiedenerlei Hinsicht – jeweils der anderen vorauszugehen: Die Ontologie bietet einen begrifflichen Rahmen für die Erkenntnistheorie, die jedoch allein den Geltungsanspruch der Ontologie einholen kann. Daraus ergibt sich die alternierende Anziehungskraft von Naturalismus und Konstruktivismus. Denn jeder Erkenntnisakt ist etwas, und damit liegt es nahe, ihn als ontisches Ereignis zu interpretieren. Dort, wo die Natur als Inbegriff alles Seienden gilt, gehört dann jeder Erkenntnisakt unweigerlich zur Natur. Freilich beansprucht eben diese Aussage umgekehrt, selbst eine Erkenntnis zu sein, und insofern untersteht sie einer epistemischen Analyse. Dort, wo die Erkenntnistheorie stark auf den konstruktiven Charakter von Erkenntnissen abhebt, wird diese Aussage als Konstrukt gedeutet. Nun spricht viel für die beiden zusätzlichen Annahmen. Der Mensch wenigstens gehört zum natürlichen Sein, wie gerade die Evolutionstheorie besonders deutlich gemacht hat. Und es ist unstrittig, dass Erkenntnis die Wirklichkeit nicht einfach wie ein passiver Spiegel abbildet – bei der Begriffsbildung etwa gibt es ein schöpferisches Moment, das nicht als Reaktion auf einen äußeren Reiz gedeutet werden kann. Diese beiden Einsichten sind der jeweilige Wahrheitskern von Naturalismus bzw. Konstruktivismus, der keineswegs aufgegeben werden darf.
Wie kann man das Kippen des Bildes verhindern? Man muss das, was dem Gesichtssinn versagt ist, im Denken leisten und das heißt: sich die beiden Perspektiven zusammen vergegenwärtigen. Aber bevor dieser Gedanke näher betrachtet wird, müssen die – noch unabhängig von der Herausforderung durch das jeweilige Komplement – den beiden Positionen eigenen philosophischen Unhaltbarkeiten aufgewiesen werden. Um mit dem Konstruktivismus zu beginnen, so ist er performativ selbstwidersprüchlich – er setzt also das voraus, was er explizit bestreitet. Wenn etwa der Konstruktivismus lehrt, wir könnten die Wirklichkeit gar nicht erfassen, so setzt er offenbar eine gewisse Kenntnis derselben voraus – wie könnte er sonst wissen, dass ihr keines der verschiedenen menschlichen Konstrukte entspricht? Ja, selbst wo er sich hinsichtlich der äußeren Wirklichkeit nur agnostisch verhält, setzt er voraus, dass er etwa die verschiedenen Weltbilder oder wissenschaftlichen Theorien korrekt interpretiert – nur so gibt eine Aussage über deren Inkommensurabilität Sinn. Korrekte Interpretationen freilich verstehen sich nicht von selbst; das korrekte Erfassen bestimmter Bestandteile der physischen Realität ist eine notwendige, wenn auch keine hinreichende, Bedingung gelingender Interpretation. Der moderne, auf soziale Gebilde statt auf private mentale Akte sich stützende, Konstruktivismus ist viel voraussetzungsreicher als der subjektive Idealismus der frühen Neuzeit, weil er sich auf eine Interpretation von Sprache stützt, die ohne den Zugang zu fremden Intentionen gar nicht möglich ist. Alle Argumente des Skeptikers setzen, wollen sie als solche ernst genommen werden, ferner voraus, dass sie schlüssig sind – und das setzt eine paradigmentranszendierende Einsicht in das, was gültige Folgerung ist, voraus; denn sonst würde das Argument nicht die anderen Paradigmen in Frage stellen können.
Drei der verbreitetsten Argumente des Konstruktivismus sind zudem ungültig. Erstens ist es abwegig, von den genetischen Bedingungen einer Erkenntnis auf die Bedingtheit von deren Inhalt zu schließen. Die Noesis ist zeitlich und gehört in den kausalen Zusammenhang, das Noema dagegen ist ein ideales Gebilde. Alles ist genetisch entstanden, selbstredend auch der Konstruktivismus als soziales Phänomen, der aber nicht deswegen schon den eigenen Wahrheitsanspruch aufgeben wird. Um diesen zu erheben, muss er auf Propositionen Bezug nehmen, die für unterschiedliche Subjekte dieselben sind – ansonsten könnten diese nicht nur nicht miteinander übereinstimmen, sondern nicht einmal unterschiedlicher Ansicht sein, weil sie von verschiedenen Gegenständen sprächen. Zweitens kann die Tatsache, dass wir nicht aus uns selbst heraustreten können, um unser „Bild“ von der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit selber zu vergleichen, nicht bedeuten, dass wir keinen Zugang zur Wirklichkeit haben. Wir haben diesen Zugang, indem wir in der Wahrnehmung direkt auf die Wirklichkeit, und nur im Ausnahmefall (wenn ich etwa ein Foto betrachte) auf ein Bild eines Teils von ihr, Zugriff haben (Husserl 1992, 3.436ff.). Und drittens impliziert die Falschheit des Begriffsempirismus, also die Tatsache, dass die Erfahrung uns unsere Begriffe nicht oktroyiert, keineswegs, alle Begriffskonstruktionen seien gleichberechtigt. Ich komme darauf zurück.
Müsste man zwischen Naturalismus und Konstruktivismus wählen, wäre der erste vorzuziehen. Denn wenigstens lehrt er, an so etwas wie Objektivität festzuhalten. Das Problem mit ihm ist freilich, dass es sich – um den Titel eines Buches Franz von Kutscheras (1993) zu zitieren – dabei um eine „falsche Objektivität“ handelt. Denn ohne jeden Zweifel ist die Identitätstheorie falsch – auch wenn mentale Zustände auf physischen supervenieren, ist es nicht logisch notwendig, also in allen möglichen Welten wahr, dass sie es gerade auf diesen physischen Zuständen tun; kontingente Identitäten kann es aber bei rigiden Designatoren nicht geben (Kripke 1972, 144ff.). Und die Supervenienztheorie ist, wie wir noch sehen werden, nur dann akzeptabel, wenn garantiert ist, dass die mentalen Zustände, die auf physischen supervenieren, logisch miteinander verknüpft sein können. Was schließlich normative Standards betrifft, so ist einesteils ihre Notwendigkeit offenkundig; andernteils ist es ebenso klar, dass der Naturalismus über keine Möglichkeit verfügt, ein eigenes Reich des Sollens anzuerkennen. Selbst wenn es ihm gelingen sollte, normative Vorstellungen kausal zu erklären, wäre damit die Geltungsfrage nicht gelöst, die dadurch unberührt bleibt. Wer nach objektiv gültigen Normen sucht, wird weder im Naturalismus noch Konstruktivismus fündig, denn der erste liefert keine Normen, der zweite nichts objektiv Gültiges. Ohne eine Theorie des Idealen wird man diesem Desiderat nicht gerecht.