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1. Idealismus und Modernität
ОглавлениеWie kaum eine andere philosophische Strömung hat der Idealismus während des letzten Jahrhunderts Widerstand hervorgerufen und ablehnende Kritik erfahren. Es wäre in der Tat keine Übertreibung zu behaupten, dass sich die Philosophie während des 20. Jahrhunderts dadurch ausgezeichnet hat, dass sich ihre wichtigsten Schulen explizit von idealistischen Positionen distanziert haben. Zur gleichen Zeit jedoch haben dieselben Strömungen im Hintergrund immer wieder eine Diskussion mit dem Idealismus geführt, die für ihren Selbstbegriff wesentlich war. Auch die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts verstand sich dezidiert anti-idealistisch – obwohl diese Zeit wegen eines bedeutenden Ausläufers in der angelsächsischen Welt auch eine epigonale Phase des Idealismus darstellt. Die Anti-Metaphysik der Moderne, also der letzten zwei Jahrhunderte, war hauptsächlich Ausdruck einer Abwendung vom Idealismus. Im Werk Georg Wilhelm Friedrich Hegels gipfelte die idealistische Philosophie, womit die erste Phase der Neuzeit, die mit René Descartes angefangen hatte, endet. Hegel vertrat ein Denken, das von der Idee der radikalen Selbstbegründung getragen wurde. Eben deshalb konnte er sagen: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (7.24).
Nicht nur diese Aussage, sondern die ganze Idee eines Vernunftgebildes wurde wiederholt missverstanden. Karl Marx meinte in der Gleichsetzung des Wirklichen mit dem Vernünftigen den Ausdruck einer restaurativen Ideologie zu erkennen. Der Idealismus gehört nach ihm zum Zeitalter der Metaphysik, welche, wie Auguste Comte bereits hervorgehoben hatte, im neuen Zeitalter des Positivismus keinen Platz mehr hat. Die Realität solle endlich ins Visier genommen werden; und im Grunde könne nur die empirische Wissenschaft entscheiden, was wahr ist. Bereits bei Comte bedeutete Anti-Metaphysik zugleich auch eine Deklassierung der Philosophie, da sie vom Realen wegdenke. Marx sah sich selbst als positiven Wissenschaftler, dem es nicht darauf ankam, die Welt anders zu interpretieren, sondern in sie einzugreifen. Die Welt wurde in der Moderne zum Schauplatz eines ständigen Eingriffs und die Natur zum Rohstoff. Das Absolute, das noch zur Ehrfurcht anregte, verschwand aus der neu entstehenden Weltanschauung, wie aus der Evolution des Denkens Ludwig Feuerbachs, der den Idealismus gegen den Materialismus eintauschte, paradigmatisch hervorgeht. An die Stelle des „Absoluten“ traten, wie Michel Foucault zu Recht bemerkt hat, der „Mensch“ und der moderne Begriff des Humanismus (1966, 384). Dies hat allerdings dazu geführt, dass die (horizontale) Intersubjektivität zum Gegenstand der Betrachtung wurde. Damit fing durch Comte, Feuerbach und Marx die moderne Soziologie und Anthropologie an.
Arthur Schopenhauer, Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche, später auch der Existentialismus sowie der Postmodernismus der Gegenwart erblickten in der Vernunftmetaphysik des Idealismus sowohl die Verneinung irrationaler und kontingenter Momente als auch eine methodische Abschottung, die ein Verständnis des Irrationalen und Kontingenten unmöglich macht. Nietzsche, dessen Einfluss auf das letzte Jahrhundert massiv war, verglich den Idealismus mit einem Gift, der uns fürs Leben untauglich macht, da er die Welt verdoppelt. „Die Lüge des Ideals“, so sagte er in Ecce Homo, ist der Fluch, der die Menschheit „bis in ihre untersten Instinkte hinein verlogen und falsch“ gemacht hat (1988, 6.258). Nietzsches Rat: „Ich widerlege die Ideale nicht, ich ziehe bloß Handschuhe vor ihnen an“ (6.259) ist bezüglich des Idealismus nicht nur von Nietzscheanern zu Herzen genommen worden. Er hat das Verhältnis Martin Heideggers wie auch der gesamten kritischen Theorie gegenüber dem deutschen Idealismus geprägt. In Jenseits von Gut und Böse resümierte Nietzsche bereits die skeptische Kritik am Idealismus, die sich in der modernen Vernunftkritik immer wieder meldet: „(…) ein Gedanke kommt, wenn ‚er‘ will, und nicht wenn ‚ich‘ will; so dass es eine Fälschung des Tatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt ‚ich‘ ist die Bedingung des Prädikats ‚denke‘. Es denkt: aber dass dies ‚es‘ gerade jenes alte berühmte ‚Ich‘ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme (…). Zuletzt ist schon mit diesem ‚es denkt‘ zu viel getan: dies ‚es‘ enthält eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgange selbst“ (5.31). So wird die Grundidee des Idealismus („es gibt Denken“) mit ein paar (nicht zu Ende gedachten) Worten zu Grabe getragen. Ganz originell war Nietzsche jedoch nicht: Diese Kritik der Grundsatzphilosophie wurde nach Manfred Frank bereits in der frühromantischen Suche nach einem Ausweg aus dem Idealismus laut (2007, 10f.).
Die Grundüberzeugung, dass mit dem Idealismus die wahre Welt zur Fabel wurde, ist ein Gedanke, der auch die frühe analytische Philosophie dominiert. Der Fall Bertrand Russell ist hier paradigmatisch. Er setzte sich vom Idealismus seines Lehrers Francis Bradley ab und folgte der Kritik George Moores, der im Idealismus eine Form von Psychologismus sah. Auf diese Weise wurde jede Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Idealismus unmöglich. Genau wie George Berkeley keinen Unterschied zwischen einem Objekt und dem Akt des Denkens dieses Objekts mache, so werde auch in Platons Ideenlehre dieser Unterschied verwischt. Die allgemeine Idee des Weißen, so erzählt Russell uns in Problems of Philosophy (1912), ist nur die Ähnlichkeit (resemblance) weißer Objekte, die man nicht mit dem Akt des Denkens des Weißen verwechseln darf (1912, 154). Diese Art unzureichender Kritik am Idealismus führte in der analytischen Philosophie anfangs zum Triumph des Naturalismus. War der logische Atomismus Russells die Umkehrung des Holismus Bradleys und Hegels (1946, 770), so versteht sich die gegenwärtige Wiederbelebung des Hegelianismus im analytischen Denkraum (vgl. Robert Brandom und John McDowell) ihrerseits als Umkehrung des Atomismus. Russells Sicht auf die Geschichte der Philosophie hat zwar die angelsächsische Welt lange vor dem Einfluss Nietzsches bewahrt, sie hat allerdings auch maßgeblich ein negatives Bild des Hegelianismus geprägt (vgl. nicht zuletzt Karl Poppers Hegellektüre in The Open Society and Its Enemies, 1945). Die eher sozialreformistischen Ideen des britischen Idealismus waren allerdings auch ein Versuch, den sozialen Atomismus und Individualismus der angelsächsischen Tradition, die im Werk Herbert Spencers gipfelten, zu überwinden. Russells Motiv, den britischen Idealismus abzulehnen, war jedoch rein epistemologisch. Gegen diesen Idealismus wendete sich aus politischer Sicht in Amerika auch das Denken der neoliberalen Ideologen (von Ayn Rand bis zu Leonard Peikoff), die im Idealismus eine unterschwellige Tendenz zum Kommunismus wahrnahmen. Diese Ideologen erkannten jedoch, dass der objektive Idealismus von Platon bis Hegel einen Sozialsinn und eine Askese propagiert, die im Grunde mit dem modernen Kapitalismus unverträglich sind (1991, 30ff.).
Ambivalenter ist die politische Sicht der Frankfurter Schule auf den objektiven Idealismus, für die Max Horkheimer in Eclipse of Reason (1947) paradigmatisch argumentiert hat und die im Grunde auch heute noch von Jürgen Habermas vertreten wird. Horkheimer lehnt sowohl den Naturalismus als auch den Idealismus ab, weil sie jeweils unterschiedliche Seiten einer Polarität hypostasieren (1947, 171). Dies führe zu einseitigen Abstraktionen wie „Geist“ und „Natur“, die in Wirklichkeit eine Einheit seien. Die Wahrheit laute, dass der Geist seinen Ursprung im Prinzip der Selbsterhaltung habe und daher keine Priorität gegenüber der Natur haben könne. Das Leib-Seele-Problem wird bei Horkheimer nur gestreift und auch bei Habermas ist es nicht anders (vgl. Zwischen Naturalismus und Religion, 2005). Es gibt bei Horkheimer allerdings eine Nostalgie nach der objektiven Vernunft, denn diese war es, die die kritische Betrachtung der industriellen Welt ermöglicht hat (1947, 174, 180). Der objektive Idealismus jedoch mündet nach Horkheimer notwendig in den subjektiven Idealismus und dann in den modernen Atomismus (1947, 133). Diese beide führen wiederum notwendig zum zynischen Nihilismus (1947, 174) und zum instrumentellen Denken des Faschismus (1947, 122). Im mimetischen Denken der (frühen) Frankfurter Schule bleibt immerhin ein idealistischer Rest erhalten, indem die Ideen von Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit bereits in der Tiefe der Natur (und zwar nicht nur der menschlichen) enthalten sind: „Distorted though the great ideals of civilization – justice, equality, freedom – may be, they are nature’s protestations against her plight, the only formulated testimonies we possess“ (1947, 182).