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5. Kritik
ОглавлениеFichte ist es nicht gelungen, die Gedanken, die ich hier skizziert habe, klar darzustellen. Der wichtigste Grund dafür ist, dass er die Eigenart überintentionalen Erkennens nicht genügend erfasst hat. Ihm fehlte vor allem ein klares Bewusstsein von der Unbeschreibbarkeit der Inhalte nichtintentionalen Denkens. Unsere Sprache ist als Instrument intentionalen Denkens entwickelt worden und eignet sich daher nicht zur Beschreibung der Gehalte nichtintentionaler Erfahrungen. Unsere Begriffe wurden zur Bestimmung der Gegenstände intentionalen Denkens entworfen; die transkategoriale Realität, wie Karl Rahner das genannt hat, die sich in überintentionalen Erfahrungen zeigt, ist damit nicht zu fassen. Man kann sich meist nur mit Bildern und Metaphern behelfen. Fichte hat hingegen versucht, eine Metaphysik der transkategorialen Wirklichkeit in der Sprache und mit den Kategorien intentionalen Denkens zu entwerfen. Er hat versucht, die Einheit von Sein und Bewusstsein, wie sie sich im überintentionalen Selbstbewusstsein zeigt, mit Begriffen intentionalen Denkens zu erfassen und daraus mit diskursiven Argumenten die Vielfalt der empirischen Erscheinungen abzuleiten. Sicher: Wir haben zunächst keine andere Sprache als die intentionalen Denkens. Wenn wir über nichtintentionale Erkenntnisse reden wollen, müssen wir das also zunächst mit einem dafür ungeeigneten Instrument tun. Dabei muss man jedoch sich selbst wie den Adressaten diese Schwierigkeiten vor Augen halten. Wer überintentionale Erfahrung gemacht hat, weiß, dass sie nicht mehr sind als seltene und flüchtige Blicke in ein ganz neues Land. Hinzu kommt, dass sich solche Erfahrungen, ebenso wie tiefe Erlebnisse, nicht willkürlich erzeugen und damit auch nur schwer überprüfen lassen. Selbst wenn man schon einmal eine bestimmte Erfahrung gemacht hat, gelingt es oft nicht, sie zu wiederholen.
Die Einheit von Sein und Bewusstsein erschließt sich nur in überintentionalem Selbstbewusstsein. Das liefert keine Informationen über die Wirklichkeit, wie sie sich intentionalen Erfahrungen darstellt. Daher war der Versuch Fichtes von vornherein verfehlt, daraus die Strukturen der empirischen Welt abzuleiten. Damit ist der größte Teil seiner Wissenschaftslehre ohne Interesse. Ich habe schon erwähnt, dass es Fichte auch nie gelungen ist, zu einer abschließenden Formulierung zu kommen. Je deutlicher er spürte, dass sich das Projekt nicht verwirklichen ließ, desto maßloser wurden seine Ansprüche. Im Sonnenklaren Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie (1801) sagt er:
„[Die Wissenschaftslehre] sagt es dem Bearbeiter der Wissenschaft, was er wissen kann, und was nicht; wonach er fragen kann und soll, gibt ihm die Reihe der anzustellenden Untersuchungen an, lehrt ihn, wie er sie anzustellen und seinen Beweis zu führen hat. Jenes blinde Tappen und Herumirren der Wissenschaften ist sonach gleichfalls durch die Wissenschaftslehre aufgehoben“ (1971, 2.407).
Als seine Zeitgenossen diese Ansprüche nicht mehr ernst nehmen konnten, behauptete Fichte, die Wissenschaftslehre könne nur aus sich selbst, nicht aber von außen kritisiert werden; wer sie nicht akzeptiere, sei nicht nur dumm, sondern wissenschaftsfeindlich. Nach der Deutung, die ich hier skizziert habe, waren Fichtes Ansprüche zwar insofern berechtigt, als er der Philosophie ganz neue Erkenntnishorizonte erschließen wollte, die Schwierigkeiten der Aufgabe hat er aber völlig unterschätzt.
Fichte hat auch nicht zwischen vor- und überintentionalem Bewusstsein unterschieden. Beide sind nichtintentional und weisen daher manche Gemeinsamkeiten auf. Bewusstsein und Sein, Fürmichsein und Ansichsein, fallen zusammen. In beiden Formen der Erfahrung gibt es weder Einzelnes noch Vielheit und ihr Inhalt entzieht sich genauerer Beschreibung. Dennoch unterscheiden sie sich fundamental. Das gilt schon für den Zugang: Vom intentionalen Denken und Erfahren her gelangen wir zu einem vorintentionalen Bewusstsein durch Suspension der Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Moment und damit der Gegenstandsgerichtetheit und eines gegenstandsbezogenen, diskursiven Denkens. Zu einem überintentionalen Bewusstsein kommt man hingegen nicht ohne diskursives Denken, ohne Reflexionen und intentionale Einsichten. Der in unserem Zusammenhang wichtigste Unterschied zwischen vor- und überintentionalen Erfahrungen liegt in ihrem kognitiven Charakter. Vorintentionale Erfahrungen sind keine Erkenntnisse. Erkenntnisse erweitern unseren Horizont, davon kann man bei diesen Erfahrungen aber schon deswegen nicht reden, weil es in ihnen keinen das gegenwärtige Bewusstsein übergreifenden Träger gibt.
In der buddhistischen Mystik spielt ein vorintentionales Hören von Musik oder auch einzelnen Tönen eine wichtige Rolle. Der japanische Zen-Meister Hakuun Yasutani zitiert in seinen Unterweisungen einen anderen Meister: „Als ich die Tempelglocke läuten hörte, gab es plötzlich keine Glocke und kein Ich, nur Klang.“ Yasutani fügt hinzu: „Er war sich keines Unterschiedes mehr zwischen sich, der Glocke und dem Weltall bewusst. Das ist der Zustand, den Sie erreichen müssen.“7 Ein solches Bewusstsein ist vorintentional. Es wirkt befreiend, weil in der reinen Gegenwärtigkeit all die Sorgen und Behinderungen ausgeblendet sind, die uns sonst belasten, eine Erkenntnis verbindet sich damit aber nicht. Von Erkenntnis im normalen, intentionalen Sinn kann man zwar auch bei überintentionalem Erfahrungen nicht sprechen, wohl aber von einer Erleuchtung, einer Einsicht in einem nicht begrifflichen, nicht diskursiven Sinn.
Durch die Nichtunterscheidung von vor- und überintentionalem Bewusstsein wird die Evolution des Bewusstseins – eine der großen Ideen des Deutschen Idealismus – bei Fichte zu einem zirkulären Prozess. Das reine Ich, das bereits ein vollkommenes Selbstbewusstsein hat, stellt sich am Beginn der Entfaltung des Bewusstseins als individuelles Subjekt einer gegenständlichen Realität gegenüber, gewinnt aber im Laufe der Evolution seines Bewusstseins nur die ursprüngliche Einsicht zurück, selbst die ganze Wirklichkeit zu sein. Warum sollte sich aber das reine Ich auf den Weg zu einer Selbsterkenntnis machen, die es schon hat? Warum sich auf das beschränkte intentionale Denken einlassen, wenn es ein absolutes Wissen hat? Bei einer genuinen Evolution muss etwas Neues entstehen, das Ende muss vom Anfang verschieden sein.
Die Nichtunterscheidung von vor- und überintentionalem Bewusstsein ist auch ein Mangel eines großen Teils der indischen Philosophie. Auch dort steht man damit vor der Frage, warum ein Wesen, das auf der Höhe der Erkenntnis steht und sich als ātman eins weiß mit der ganzen Wirklichkeit, der Illusion (māyā) unterliegen soll, Subjekt in der empirischen Wirklichkeit zu sein. Es gibt ja keine Illusion ohne Träger, ohne jemanden, der die Illusion hat. Nach der Lehre des Advaita gibt es aber Subjekte gar nicht wirklich, sie sind nicht Träger, sondern Inhalte der Illusion, gäbe es eine Illusion, so wäre sie also eine Illusion des Absoluten selbst.