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2. Einwände gegen den objektiven Idealismus
ОглавлениеEiner der Gründe für die Attraktivität des objektiven Idealismus ist sicher, dass er das Problem der Geltung von Normen, die die faktischen Präferenzen transzendieren, in das Zentrum seiner Betrachtungen rückt. Warum handelt es sich dabei dennoch um eine von den meisten Zeitgenossen nur misstrauisch beäugte Position? Soweit ich sehe, spielen zumindest unterschwellig vier unterschiedlich begründete Abwehreinstellungen eine Rolle.
Erstens wird darauf verwiesen, der objektive Idealismus sei zwar eine sehr alte philosophische Position, die es spätestens seit Platon gebe. Aber gerade deswegen sei sie nicht zeitgemäß. Ebenso wenig wie die Physik des Aristoteles könne eine Metaphysik, die sich der Antike verdanke, weiterhin attraktiv sein. Dieses Argument setzt voraus, dass in der Philosophiegeschichte ein demjenigen der Wissenschaftsgeschichte vergleichbarer kontinuierlicher Fortschritt walte. Selbst dann wäre es nicht schlüssig – in der Mathematik etwa haben die Griechen bleibende Einsichten errungen, die ergänzt, aber nicht aufgegeben wurden. Fortschritt kann also kumulativ verlaufen und muss nicht stets darin bestehen, Vergangenes zu ersetzen. Aber darüber hinaus ist es unmöglich, die Philosophie nach Art der Wissenschaftsgeschichte zu konzipieren. Gerade das Nebeneinander von Naturalismus und Konstruktivismus in der Gegenwart beweist das. Wer die Philosophiegeschichte analysiert, stellt bald fest, dass in ihr bestimmte Grundpositionen immer wieder auftreten, und zwar mit periodischer Regelmäßigkeit.2 Dabei ist der radikale Skeptizismus ebenfalls in der Antike entstanden, könnte also nach demselben Argument ebenfalls nicht gültig sein; ja, der objektive Idealismus scheint sich immer wieder als Alternative zu einer eher objektivistischen und einer eher subjektivistischen Philosophie zu ergeben. Platon, die Neuplatoniker, Nicolaus Cusanus, Friedrich Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der Edmund Husserl der Logischen Untersuchungen sind allesamt objektive Idealisten. Es spricht also nichts dagegen, neue und komplexere Formen des objektiven Idealismus als besonders zeitgemäße Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart zu erwarten. Die besondere Eigenart der Philosophiegeschichte hat im Übrigen zur Folge, dass Klassiker in ganz anderem Maße unsere Zeitgenossen bleiben, als dies in den Einzelwissenschaften der Fall ist; wir lernen von ihnen meist mehr als von den letzten Jahrgängen philosophischer Zeitschriften.
Zweitens verargt man dem objektiven Idealismus eine gewisse Nähe zu religiösem Denken. Er habe seinen Ursprung in religiösen Ideen, die bei denen in abgeschwächter Form weiterwirken, die nicht die Kraft haben, sie ganz abzuschütteln; der objektive Idealismus könne daher nur als Residuum dieser Ideen gelten. Darauf ist zunächst einmal einzuräumen, es besteht in der Tat eine elementare Analogie zwischen der dem objektiven Idealismus eigentümlichen Annahme einer objektiven Vernunft, die sich in der Natur und dem menschlichen Geist auspräge, und dem religiösen Glauben an ein die Natur transzendierendes Prinzip, dem geistige und moralische Attribute zugesprochen werden. Aber einesteils sind die Differenzen nicht minder auffällig: Von Platon an hat der objektive Idealismus populäre religiöse Vorstellungen wie die des homerischen Polytheismus zurückgewiesen, ja nach der Entwicklung monotheistischer Religionen auch theologische Ideen wie den Voluntarismus und Inkonsistenzen in der christlichen Dogmatik scharf kritisiert. Und andernteils spricht es doch eher für den objektiven Idealismus, dass er in einer für die Entwicklung der Menschheit so zentralen geistigen Macht wie der Religion nicht nur Unsinn erkennen will. Wer Jahrtausenden menschlicher Entwicklung jede Wahrheit abspricht, erweckt viel eher Zweifel daran, wieso man seinen eigenen Wahrheitsanspruch ernst nehmen solle. Es ist meist klüger, Traditionen zu reformieren als sie abzubrechen. Auch die weitgehend säkularisierte Welt Westeuropas setzt nicht nur genetisch, sondern auch geltungstheoretisch bestimmte religiöse Ideen voraus – etwa den Gedanken an die innere Einheit der natürlichen Ordnung oder den Glauben an eine allgemeine Menschenwürde. Wenigstens hat Charles Taylor (2007) sehr plausibel gemacht, wieso eine „subtraction story“, nach der unser heutiger Bewusstseinszustand sich einfach aus dem Entfernen religiöser Geschwulste ergeben habe, die über einer „natürlichen“ Theorie der Wirklichkeit gewachsen wären, nicht im mindesten zentralen Bestandteilen unserer gegenwärtigen Bewusstseinsform gerecht wird. Was uns heute als „natürlich“ erscheint, ist ohne eine normativ inspirierte historische Phänomenologie des Geistes gar nicht zu verstehen.
Drittens gilt der objektive Idealismus als nicht vereinbar mit den heute herrschenden wissenschaftlichen Methoden. Zuzugeben ist in der Tat, dass der objektive Idealismus weder eine empirische Theorie ist noch alleine auf die formale Logik gestützt werden kann. Aber das gilt für jede philosophische Theorie, nicht nur für den objektiven Idealismus. Zwar ist heute die metaphilosophische These weitverbreitet, die Philosophie bestehe ausschließlich in Begriffsanalyse. Ohne Zweifel ist Begriffsanalyse in der Philosophie wichtig, und im Übrigen keineswegs auf sie begrenzt. Aber Philosophie kann nicht auf Begriffsanalyse und somit auch nicht auf analytische Urteile reduziert werden. Denn damit ließen sich nur verschiedene alternative, doch jeweils in sich konsistente Deutungen der Wirklichkeit gewinnen, nicht jedoch die Frage entscheiden, welche dieser alternativen Deutungen den Vorzug verdient. Dazu sind synthetische Urteile a priori vonnöten, wie etwa „Einfachheit in der philosophischen Theoriebildung ist ein Wert“. Dass es solche Urteile nicht gebe, ist selbst keine analytische Aussage, da es in deren Negation „Es gibt synthetische Urteile a priori“ keinen Widerspruch gibt; sie setzt also das voraus, was sie bestreitet. An synthetischen Sätzen a priori kommt man also nicht vorbei, und auch wenn sie von der Wissenschaft nicht selbst thematisiert werden, werden sie doch von dieser vorausgesetzt. Denn seit David Hume wissen wir, dass die Induktion weder durch Logik noch durch Erfahrung zu begründen ist, die sich gerade nicht auf die Zukunft erstreckt. Aber wir vertrauen darauf, dass die Wirklichkeit naturgesetzlich verfasst ist – auch wenn eine bestimmte physikalische Theorie falsifiziert und durch eine neue ersetzt wird, gehen wir davon aus, dass das neu vorgeschlagene Gesetz, oder ggf. dessen weitere Verfeinerung, einen Zug der Wirklichkeit erfasst, der für alle Zeit gilt. Dieses Vertrauen wie Hume zu einem bloßen Faktum unserer geistigen Ausstattung zu machen, löst das Geltungsproblem nicht – schließlich können wir uns von alteingesessenen Erwartungen befreien, die wir als irrational betrachten. Aber die Annahme der Konstanz der Naturgesetze ist keine irrationale Annahme; sie ist Bedingung der Möglichkeit planenden Verhaltens. Kurz, die Annahme synthetischer Urteile a priori ist nicht wissenschaftsfeindlich, sondern vielmehr Bedingung von Wissenschaft, auch wenn sie nur selten reflektiert wird. Die Furcht, wer sich von Begriffs- und Urteilsempirismus verabschiede, zerstöre die spezifische Leistung der modernen Wissenschaft, die gegenüber Antike und Mittelalter in methodisch kontrollierter Erfahrung bestehe, ist deswegen abwegig, weil dieser Abschied keineswegs bedeutet, empirische Evidenz sei zu vernachlässigen. Eine Theorie über Erfahrbares, die der Erfahrung widerspricht, kann in der Tat nicht richtig sein. Jener Abschied bedeutet nur, dass es Erkenntnisse gibt, für die konkrete Erfahrungen weder notwendige noch hinreichende Bedingungen sind.
Aber die eigentliche Furcht vor dem objektiven Idealismus gründet viertens in dem Unbehagen, das das Programm einer objektiven Ethik auslöst. Jede Form des Werteplatonismus scheint in Widerspruch zu stehen zu dem Grundgedanken der Demokratie, Normen aus freier Übereinstimmung entstehen zu lassen. Aber diese Theorie gründet auf einem Selbstmissverständnis der Demokratie. Erstens ist das Prinzip, allen erwachsenen Staatsangehörigen politische Rechte zu erteilen, selbst ein moralisches Prinzip, das sich nicht ausschließlich auf das positive Staatsrecht gründet, auch wenn es glücklicherweise Eingang in viele moderne Verfassungen gefunden hat. Die Proteste gegen Staaten, in denen es nicht verwirklicht ist, lassen darauf schließen, dass ihm eine kontrafaktische Gültigkeit eignet, die nicht nur eine Funktion sozialer Machtverteilung ist. Dasselbe gilt nun aber auch für die Normen, die idealerweise auf demokratischem Wege zu Gesetzen werden sollen. Es gibt sicher einige Normen, bei denen allein der Mehrheitsbeschluss ausreicht, um sie zu legitimieren. Aber sofern bestimmte Gesetze gewissen Zielen dienen sollen, unterstehen sie einer sachlichen Kontrolle – eine verfehlte Haushalts- oder Wirtschaftspolitik wird nicht dadurch richtig, dass sie von der Mehrheit des Parlaments abgesegnet worden ist. Und erst recht nicht werden Verletzungen der Gerechtigkeit akzeptabel, die die Mehrheit beschließt, etwa indem sie die Rechte der Minderheit verletzt. Hier haben intelligente Verfassungen meist Sicherungen eingebaut, die das Mehrheitsprinzip einschränken und deren moralische Rechtfertigung ohne Appell an so etwas wie ein vorpositives Gerechtigkeitsideal schwer zu leisten ist. Anderer Art ist das Argument, das die neben der Demokratie zweite große Institution der westlichen Moderne zum Ausgangspunkt nimmt, nämlich den Markt. Dessen Erfolg beruhe gerade auf seiner Moralfreiheit, auf der nahezu naturgesetzlichen Herstellung eines Gleichgewichts von Angebot und Nachfrage, wenn man nur den rationalen Egoismus walten lasse. Dazu ist einerseits zu sagen, dass es durchaus klug ist, Mechanismen auszunutzen, die auf menschliche Kräfte setzen, die deswegen weitverbreitet sind, weil sie ohne Zumischung höherer Tugenden auskommen. Doch andererseits ist erstens die für den Markt unabdingbare Fairness nicht auf rationalen Eigennutz zu reduzieren; zweitens ist jenes Gleichgewicht aus moralischen Gründen zu bejahen, da es im allgemeinen wünschenswert ist, dass Nachfrage befriedigt wird; und drittens gibt es nicht nur Erfolge, sondern selbstredend auch Marktversagen, etwa im Bereich intergenerationeller Gerechtigkeit. Eine Kultur, die an nichts anderes mehr appellieren kann als an den rationalen Eigennutz, wird u.a. vor dieser Aufgabe versagen. Wenn, wofür angesichts der weitgehend fruchtlosen internationalen Verhandlungen zweier Jahrzehnte leider immer mehr spricht, die Menschheit die massiven Umweltzerstörungen, die aus dem Wachstum der Weltbevölkerung und, mehr noch, unserer Bedürfnisse sich ergeben, nicht zu beschränken vermag, wird die Epoche der Moderne sich als sehr kurzfristig erweisen, als „die hochmütigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte‘: aber doch nur eine Minute“ (Nietzsche 1980, 1.875).3 Was konkret darauf folgen wird, institutionell wie bewusstseinsgeschichtlich, lässt sich nicht vorhersagen. Aber man riskiert nicht viel, wenn man die Prognose äußert, dass die lebensweltlich wieder allgemein intensiv erfahrbare Not den Konstruktivismus mit nicht geringerem Hohn zu den überwundenen Ideologien rechnen wird, als wir dies heute etwa mit religiösem Aberglauben tun.