Читать книгу Idealismus heute - Vittorio Hösle - Страница 23
4. Jenseits der Grenzen intentionalen Bewusstseins
ОглавлениеKant hatte menschlicher Erkenntnis Grenzen gezogen: Die Außenwelt lässt sich nicht so erkennen, wie sie an sich ist, und auch das Subjekt kann sich selbst immer nur unvollständig erkennen. Der zweite Punkt kommt bei Kant weniger klar heraus als der erste, man kann dazu aber einfach darauf hinweisen, dass mit dem implizit Bewussten in jedem Akt intentionalen Denkens mehr gegenwärtig ist als explizit bewusst wird. Das nur implizit Bewusste kann man sich zwar in einer Reflexion explizit bewusst machen, dabei kommt aber ein neues implizites Bewusstsein ins Spiel, sodass das normale, intentionale Selbstbewusstsein auf allen Reflexionsebenen unvollständig bleibt.
Fichte hat gesehen, dass diese Grenzen der Erkenntnis sich aus der Natur intentionalen Denkens ergeben. In ihm scheiden wir zwei Bereiche, subjektives Bewusstsein und objektives Sein, und können daher Bewusstsein und Sein nicht mehr zur Deckung bringen. Seiendes fassen wir als gegenständlich auf, Bewusstsein ist aber ungegenständlich. Fichte meinte, jenseits der Grenzen intentionalen Denkens müsse ein absolutes Wissen möglich sein, in dem Sein und Bewusstsein zusammenfallen. Im normalen Sinn ist Wissen eine Form intentionalen Bewusstseins, in der das Bewusstsein, also die Überzeugung, dass ein bestimmter Sachverhalt besteht, inhaltlich der Situation entspricht, auf die sie sich bezieht. Wie schon Xenophanes erkannt hat,3 bleibt diese Übereinstimmung jedoch problematisch – „Anschein haftet an allem“, sagt er: Der Wahrheit können wir uns nur durch Überzeugungen versichern, und das gilt auch für die Wahrheit von Überzeugungen.
Nun kann ich auch etwas von mir selbst wissen, z.B. dass ich das und das glaube, und dann fallen Bewusstsein und Sein zusammen. Ähnlich in der Mathematik: Die Erkenntnis, dass Gruppen eine bestimmte Eigenschaft haben, ergibt sich aus unserer Definition von Gruppen, aus unseren eigenen Festlegungen über ihre Eigenschaften. Schon im mathematischen Bereich gibt es absolute Zweifelsfreiheit jedoch nur in elementaren Fällen, und auch ein sicheres Wissen um eigene mentale Zustände reicht nicht über die Gegenwart hinaus. Unsere Annahmen über die Außenwelt bleiben prinzipiell unsicher. Gottlob Frege sagt: „Mit dem Schritte, mit dem ich mir eine Umwelt erobere, setze ich mich der Gefahr des Irrtums aus“ (1967, 358). Ein festes Fundament kann Philosophie daher nach Fichte weder in einem Sein noch in einem Bewusstsein finden, sondern nur in der Einheit von beidem, in einem absoluten Wissen.
Henrich Steffens berichtet von Fichtes „Erleuchtung“ im Herbst 1793:
„Ich erinnere mich, wie Fichte in einem engen, vertrauten Kreise uns die Entstehung seiner Philosophie erzählte, und wie ihn der Urgedanke derselben plötzlich überraschte und ergriff. Lange hatte ihm vorgeschwebt, wie ja die Wahrheit in der Einheit des Gedankens und des Gegenstandes läge; er hatte erkannt, dass diese Einheit innerhalb der Sinnlichkeit niemals gefunden werden konnte, und, wo sie hervortrat, wie in der Mathematik, erzeugte sie nur einen starren, unlebendigen Formalismus, dem Leben, der Tat völlig entfremdet. Da überraschte ihn plötzlich der Gedanke, dass die Tat, mit welcher das Selbstbewusstsein sich selber ergreift und festhält, doch offenbar ein Erkennen sei. Das Ich erkennt sich als erzeugt durch sich selber, das denkende und das gedachte Ich, Erkennen und Gegenstand des Erkennens, sind eins, und von diesem Punkte der Einheit, nicht von einer zerstreuenden Betrachtung, die Zeit und Raum und Kategorien sich geben lässt, geht alles Erkennen aus. Wenn du nun, fragte er sich, diesen ersten Akt des Selbsterkennens, der in allem Denken und Tun der Menschen vorausgesetzt wird, der in den zersplitterten Meinungen und Handlungen verborgen liegt, rein für sich heraushöbest und in seiner reinen Konsequenz verfolgtest, müsste nicht in ihm, aber lebendig tätig und erzeugend, dieselbe Gewissheit sich entdecken und darstellen lassen, die wir in der Mathematik besitzen? Dieser Gedanke ergriff ihn mit einer solchen Klarheit, Macht und Zuversicht, dass er den Versuch, das Ich als Prinzip der Philosophie aufzustellen, wie bezwungen von dem in ihm mächtig gewordenen Geiste, nicht aufgeben konnte. So entstand der Entwurf einer Wissenschaftslehre und diese selbst.“4
Absolutes Wissen ist also nach Fichte in Form einer Selbsterkenntnis möglich, freilich nur in einer Weise, die jenseits intentionalen Denkens liegt.
Für ein Verständnis von Fichtes Idee eines absoluten Wissens ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, dass es neben vorintentionalem Bewusstsein eine zweite Form nichtintentionalen Bewusstseins gibt, das sich gerade durch diese Einheit von Sein und Bewusstsein auszeichnet, ein überintentionales Bewusstsein (Kutschera 2014, I, Kap. 6). Überintentionale Erfahrungen sind schon seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. in den Upanishaden bezeugt. In ihrem Zentrum steht gerade das Erleben einer Einheit von Selbst und Wirklichkeit, von Bewusstsein und Sein, von ātman und bráhman. In der europäischen Philosophie spielen sie seit dem Neuplatonismus eine wichtige Rolle und sind von dort in die Mystik des Christentums eingegangen.
In beiden Formen nichtintentionalen Bewusstseins, im vor- wie im überintentionalen, gibt es kein Subjekt. Im vorintentionalen Bewusstsein gibt es auch nichts Ähnliches, keinen Träger, der eine Existenz darüber hinaus hätte, dem man auch andere Erfahrungen zuordnen könnte. Das bezieht sich natürlich nur auf den Inhalt vorintentionalen Bewusstseins selbst, während es in der Reflexion darauf als mentaler Zustand eines Subjekts im normalen, intentionalen Sinn erscheint. Im überintentionalen Bewusstsein gibt es zwar ebenfalls kein Subjekt, es ist aber immer noch mein Bewusstsein, selbst wenn ich mich darin in ganz neuer Weise erfahre. Die übliche Bezeichnung als Selbst ist zwar ungrammatisch, dadurch wird aber unterstrichen, dass es sich unseren normalen Kategorien entzieht. Der Übergang zu einer überintentionalen Erfahrung verbindet sich aber keineswegs immer mit einer Entindividualisierung. Es ist keine Erfahrung von niemandem oder von allen. Das Selbst ist zwar nichts Einzelnes, es ist aber – wenn man den Begriff der Person entsprechend weit auffasst – eine bestimmte Person. In der indischen Philosophie wird das Selbst meist als nicht individuell charakterisiert. „Der Atman ist ein höchstes, subjekt- und gegenstandsloses, undifferenziertes, zeitloses, unbegreifliches und selbstleuchtendes Bewusstsein“, sagt Eliot Deutsch (1969, 48).5 Das hängt aber mit der negativen Sicht der Individualität im Hinduismus und Buddhismus zusammen.
Soweit ich sehe, gibt es keine Hinweise, dass Fichte aus mystischen Quellen oder Berichten über indische Philosophie geschöpft hat. Die erste Übersetzung der Upanishaden ist in Europa erst 1801 erschienen. Es gibt aber starke inhaltliche Parallelen. Eine erste habe ich schon genannt: das absolute Wissen der Wissenschaftslehre von 1801 mit seiner Einheit von Bewusstsein und Sein. Eine zweite Parallele besteht zwischen dem Selbst überintentionaler Erfahrung und dem reinen Ich Fichtes in den ersten Versionen seiner Wissenschaftslehre. Das führt er zwar durch eine Abstraktion so ein, dass das reine Ich die Ichheit ist, die Eigenschaft ein Subjekt zu sein; eine Eigenschaft kann aber nichts wissen und hat kein Bewusstsein ihrer selbst.6 Manches, was er vom reinen Ich sagt, trifft jedoch auf das Selbst überintentionaler Erfahrungen zu. Bei Fichte findet sich auch jener Weg zu einem überintentionalen Selbstbewusstsein, den ich in (2012) als Doppelreflexion bezeichne (1971, 1.127f.). Er war bereits dem Neuplatonismus und Augustinus bekannt (Confessiones, VII, § 17). Man kann daher sagen, dass Fichte sowohl die Grenzen intentionalen Erkennens gesehen hat wie auch die Möglichkeit überintentionalen Erkennens.