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5. Historische Aktualität des objektiven Idealismus
ОглавлениеDie Geschichte des Idealismus ist eine Geschichte der Krise und der Wiederauferstehung, denn nur so sind Lernprozesse möglich. Die Dialektik idealistischer Positionen entwickelt sich als Verlust einer realistischen Unschuld der Unbefangenheit und des Vertrauens, die wir noch im naiven religiösen Glauben vorfinden. Philosophisch erkennt man eine solche Unbefangenheit in jener Verwendung von Vernunftbegriffen, die unvermittelt und unreflektiert stattfindet. In dieser Unbefangenheit dominiert also narratio statt argumentatio. Philosophie ist an sich von Anfang an reflexive Distanzierung von einer religiösen Unbefangenheit (obgleich nicht notwendig vom religiösen Inhalt). Sie muss über den Realismus hinaus die eigene Begrifflichkeit ins Visier rücken und so den Weg vom epistemologischen Idealismus zum absoluten Idealismus durchschreiten. Das führt zu sich immer vertiefenden Zyklen des Wissens (Hösle 1984). Diese zyklische Bewegung der Philosophie bildet zwar einen Kontrast zum wissenschaftlichen Fortschritt, der linear ist, dies gilt aber nur dann, wenn man die Wissenschaft künstlich von philosophischen Positionen trennt, die als Voraussetzung der Naturwissenschaften immer schon impliziert sind. Sucht man hinter wissenschaftlichen Theorien nach den diese ermöglichenden philosophischen Positionen, dann könnte man auch in der Geschichte der Wissenschaft dialektische Zyklen wahrnehmen (Suárez Müller 2004). Die Linearität der Wissenschaft wird eingebettet in das zyklische Spiel der Philosophie.
Von einer solchen philosophiehistorischen Perspektive ausgehend wird die Rolle, die dem Idealismus heute zufällt, deutlicher. Auch wenn eine vergleichsweise lange epigonale Phase darauf folgte, könnte man die Sterbensjahre Hegels und Johann Wolfgang Goethes als Endpunkt der Dominanzperiode des deutschen Idealismus betrachten und zugleich auch als Anfangsmoment eines neuen Zyklus – der Zyklus der Moderne, der mit neuen rationalistisch-realistischen Positionen anfängt. Dem ersten Schritt hat Auguste Comte seinen Namen gegeben. Recht schnell schwächt sich der Positivismus im 19. Jahrhundert ab. Im Denken Nietzsches erreicht er einen revolutionär skeptischen Tiefpunkt, dem neukantische Ansätze folgen. In der Philosophie Husserls schließlich wird eine in der Tendenz objektiv-idealistische Position entwickelt. Das 20. Jahrhundert löst eine zweite Welle des gleichen Zyklus aus, denn der Neopositivismus setzt die naturalistische Position Comtes fort, freilich bereichert um die inzwischen erfolgte Neubegründung der Logik; dem stellt sich das existentialistische Denken entgegen, das sich selbst wiederum zum Neonietzscheanismus der Postmodernisten weiterentwickelt (Suárez Müller 2004). Der Relativismus der Existentialisten wird durch (semi)transzendentale Positionen (man denke an Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel), die objektiv-idealistischen Ansätzen den Weg bereiten, ersetzt. Der vorliegende Sammelband soll kritisch einige dieser Ansätze beleuchten.
Mit dieser in der Gegenwart stattfindenden Welle neuer zum Idealismus tendierenden Positionen wird der Zyklus der modernen Philosophie nicht abgeschlossen – dafür ist die Neugeburt des Idealismus noch zu schwach und die Zahl naturalistischer und existentialistisch-postmodernistischer Positionen noch zu stark. Rationale Metaphysik befindet sich trotz einer unverkennbaren Wiederbelebung immer noch in der Defensive. Die Tendenz zur Rehabilitierung idealistischer Positionen findet jedoch sowohl in der analytischen als auch in der kontinentalen Philosophie statt. Der Unterschied zwischen analytischer und kontinentaler Denkweise verwässert zusehends, da er im Grunde nie wirklich als messerscharfe Trennlinie getaugt hat. Es lässt sich jedoch sagen, dass die Neuentdeckung idealistischer Positionen (insbesondere Hegel) in der angelsächsischen Denktradition noch recht bescheiden und vorsichtig ist (Hammer 2007). Der Einfluss Hegels wirkte in diesem Sprachraum erst seit dem späten 19. Jahrhundert, und der Erfolg der analytischen Schule hing gerade sehr stark damit zusammen, dass eine Distanzierung vom britischen (und amerikanischen) Idealismus erfolgte (Mander 2011). Anders als die analytische blieb die kontinentale Philosophie den Vorstellungen des großen Ganzen relativ treu, auch wenn sie sich von der Metaphysik des Idealismus abwandte. Im kontinentalen Postmodernismus geht es um „eine Negation des großen Ganzen“, d.h. um eine Negation der großen Erzählung, aber mit der Geste einer „großen Erzählung“. Zwei Linien konstituieren die geistige Grundlage der Revitalisierung des kontinentalen Idealismus: zum einen die immer wieder zutage tretende Philosophie Hegels, die dank philologischer Bemühungen immer deutlicher in ihrem Kerngehalt hervortritt (Klaus Düsing, Dieter Henrich, Paul Cobben, Dieter Wandschneider); zum anderen setzt zur Zeit auch eine Neuinterpretation Husserls ein, die wichtige Aspekte seines Idealismus positiv in den Vordergrund stellt (Hans Bernhard Schmid 2000, Uwe Meixner 2014).
Der heutige angelsächsische Idealismus vertritt eine vorsichtige Form des objektiven Idealismus.1 Bei Robert Brandom, der sich über die Jahre immer mehr Hegel angenähert hat, ist er im Sprachpragmatismus begründet. In seiner Analyse der alltäglichen Sprachpraxis kommt Brandom – ähnlich wie bereits John Austin, John Searle, Karl-Otto Apel und Habermas, in deren Tradition er auch steht – zur Einsicht, dass Kommunikation notwendige Erwartungen der Sprechpartner aneinander mit sich führt. Diese reziproken Erwartungen werden von der Figur der materialen (inhaltlichen) Inferenz bestimmt. So erwartet man von einem Sprechpartner, dass er sich dazu verpflichtet, die verwendeten Begriffe zu spezifizieren. Aussagen werden also immer von unsichtbaren inferentiellen Begriffskonstellationen (Begriffssträngen oder, wie Brandom auch sagt, „conceptual packages“) begleitet (1994, 619; 2000, 16). Man könnte fast sagen, das alles bleibe noch im Rahmen einer Habermasschen Sprachpragmatik. Zu einem objektiv-idealistischen Ansatz kommt es erst dann, wenn Brandom die Konzepte, die in der Sprachpraxis zu explizieren sind, nicht als subjektive Erscheinungen interpretiert, sondern ihnen objektiven Stellenwert zumisst. Sie nehmen also keine intermediäre Stellung zwischen uns und der Welt ein, sondern haben eine objektive Existenz, die in den Fakten der Welt zum Ausdruck kommt. „Facts are conceptually articulated“, sagt Brandom (1994, 622). Und anderenorts heißt es: „The existence of conceptual content in this sense does not depend on the existence of thinkers“ (2014, 12). Die materiale Inferenz, die in der Sprachpraxis immer von Begriffen ausgeht, übersteigt somit die intersubjektive Situation der Sprechpartner und verweist auf objektive Begriffsverhältnisse, die in der Welt materialisiert sind.
Es ist diese realistische Deutung von Begriffen, die Habermas in Wahrheit und Rechtfertigung (1999) an Brandom besonders kritisiert hat: „Die Verabschiedung einer nominalistisch begriffenen Objektivität (…) stellt die Architektonik des nachhegelschen, nachmetaphysischen Denkens auf dem Kopf“ (1999, 167). Brandom abstrahiere vom Feld der intersubjektiven Lebenswelt, in der sich immer schon eine gewisse Interpretation der Welt (und nicht die Welt selbst) niederschlägt (1999, 169). Aus diesen Bemerkungen wird klar, dass sich Habermas im Rahmen eines epistemologischen Idealismus bewegt, während Brandom immer wieder das Grundinteresse der Verständigung hervorhebt, das, wie er meint, nicht darin besteht, zu wissen, was man im Rahmen einer begrifflichen Lebenswelt interpretiert, sondern wie die Welt selbst gestaltet ist. Man ist daran interessiert, die Inferenz der Begriffe in ihrem materialen Inhalt „explizit zu machen“. Der Begriff hat bei Brandom also, ganz im Sinne Hegels, reale Existenz.
Brandom versteht seine Annährung an Hegel auch aus der Geschichte der analytischen Philosophie heraus, die sich, wie er sagt, unter dem Einfluss Bertrand Russells vom britischen Idealismus absetzen musste, um den eigenen epistemologischen Atomismus vor dem holistischen Ansatz der Idealisten zu bewahren. Als Willard van Orman Quine den epistemologischen Holismus wieder salonfähig machte, wurde in der analytischen Philosophie nach Brandom nicht nur der Weg für eine Neuinterpretation Kants geebnet, sondern auch Hegels. Diese erfolgt in seinem eigenen Werk und im Werk John McDowells (2014, 4).2 Brandoms Hegellektüre findet ganz im Kontext der analytischen Philosophie statt. Hegel ist nach Brandom in erster Linie ein holistischer Sprachphilosoph, für den das Dasein des Geistes Sprache ist (2008, 163). Der Sprachgebrauch sei auf begriffliche Inhalte, die inferenziell artikuliert werden, zurückzuführen. Brandom kontrastiert diesen Inferentialismus, den er bei Hegel vorfindet, mit dem Expressivismus der Romantiker, der hauptsächlich referenziell und daher horizontal war. Der Inferentialismus ist dagegen vertikal: Er ist ein Expressivismus von oben (2000, 34). Brandom zufolge ist sich Hegel bereits vor Wittgenstein und den Postmodernisten bewusst, dass man die Sprache nicht übersteigen kann. Doch das sei nach Brandom für die Entdeckung der Wahrheit auch nicht nötig, denn Hegel teile mit McDowell die Vorstellung, dass „the conceptual has no outer boundary“ (2008, 164). Die Philosophie hat die Aufgabe, die reale Konstellation der Begriffe explizit zu machen. In dieser Vorstellung Brandoms wird die Korrelation zwischen der begrifflichen Struktur und der Objektivität der Sachverhalte jedoch immer schon unvermittelt vorausgesetzt. Brandom erhält die Struktur der Welt nicht aus einer restlosen Durchdringung des Begriffs, d.h. es geht ihm nicht darum, ein System apriorischen Wissens zu rekonstruieren. Das ginge nur, indem man im Prinzip der Vernunft ein voraussetzungslos Absolutes erblicken würde. Brandom sieht sich dagegen vor die (sprach)analytische Aufgabe gestellt, endliche Begriffe durch unendliche Detailanalysen inferentiell mit anderen endlichen Begriffen zu verbinden.
Auch bei McDowell handelt es sich um einen zum objektiven Idealismus tendierenden Ansatz, der allerdings nicht die transzendentale Methode einer synthetisch apriorischen Rekonstruktion des Wissens für sich in Anspruch nimmt. McDowell betrachtet sein Mind and World (1994) zwar als Prolegomenon zur Hegelschen Phänomenologie (1994, ix) und er vertritt auch die Vorstellung, dass Wahrnehmung („experience“) nie von einer konzeptuellen Struktur zu trennen ist und die Welt der Fakten an sich begrifflich ist (1994, 10), diese Perspektive wird allerdings als eine Option vorgeführt, d.h. als eine plausible Alternative gegenüber derjenigen Meinung, die besagt, dass Begriffe Erscheinungen im Gehirn endlicher Subjekte sind (xix). Es findet somit kein Versuch statt, die Unwiderlegbarkeit dieser Perspektive darzulegen. Obwohl er sich vom subjektiven Idealismus – den er einfach „Idealismus“ nennt (1994, 26, 34, 40) – distanziert, ist auch bei McDowell nicht klar, wie sich ein Rückfall in den Subjektivismus vermeiden lässt. Das endliche Subjekt operiert bei ihm mit endlichen Begriffen,3 zugleich ist die Außenwelt an sich konzeptuell; aber ungelöst bleibt die Frage, wie sich das Subjekt der konzeptuellen Struktur der Welt wirklich bemächtigen kann. Dass man darauf vertrauen soll, dass wissenschaftliche Forschung unsere Erkenntnis erweitert und vertieft, spricht für sich. Aber man müsste doch den Versuch machen, diese Ergebnisse zum Teil durch Rekonstruktion einer apriorischen Struktur der Welt einzuholen. Nur so ließe sich eine objektive konzeptuelle Notwendigkeit herstellen. Ein solcher transzendentaler Ansatz fehlt jedoch auch bei McDowell.
1 Ich beschränke mich im Folgenden auf den amerikanischen Diskurs. Ein hervorragender Vertreter des britischen Idealismus ist Timothy Sprigge. Vgl. The Vindication of Absolute Idealism (1984) und insbesondere seine Begründung der philosophischen Ökologie, „Idealism, Humanism and the Environment“ (1996).
2 Zur Wiedergeburt idealistischer Grundmotive in der analytischen Philosophie vgl. Paul Redding (2007). Siehe auch Karl Ameriks und Jürgen Stolzenberg (2005).
3 McDowell spricht das Problem der unendlichen Verweisung endlicher Begriffe in seiner ausgezeichneten Kritik am Postmodernismus Richard Rortys an (2007, 45). Hierzu auch McDowell (2005, 33–36).