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Barmherzigkeit hat mir das Leben gerettet

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Auch ich bin »unter die Räuber« gekommen. Auf meinem Lebensweg gibt es Zeiten, in denen ich verprügelt und ausgeraubt am Wegesrand lag. Allerdings nicht physisch, sondern psychisch. Geraubt wurde mir nicht mein materieller Besitz, sondern meine Selbstachtung und mein Lebenswille.

Seit dem Beginn meiner Pubertät leide ich unter einer Zwangserkrankung, vor allem unter völlig irrationalen Zwangsgedanken und Ängsten, aber auch unter Zwangshandlungen, doch wirklich therapiert wurde diese Erkrankung erst, als ich 40 Jahre alt war. Die Jahre zuvor habe ich versucht, mich irgendwie über Wasser zu halten, vor allem mit der Betäubung meines kranken Gehirns durch Alkohol sowie der Übertönung meiner verrückten Gedanken durch laute Rockmusik. Eine Weile funktionierte das gut, doch dann geriet ich mehr und mehr in einen zerstörerischen Kreislauf aus Abhängigkeiten, Scham, Selbsthass und tiefer Depression, den ich in dem Buch »Mein goldener Sprung in der Schüssel« genauer beschreibe.

Meinen ersten Tiefpunkt erreichte ich im Herbst 2006 als Pastor der Freien evangelischen Gemeinde Karlstadt. Ich verachtete mich aus tiefstem Herzen und war der Überzeugung, mehr Schaden anzurichten als für irgendwen von Nutzen zu sein. Aus meiner Sicht war ich ein Stück Dreck und eine Zumutung für meine Mitmenschen. Die Bilanz der vergangenen Jahre sah für mich verheerend aus: 5

Als Gemeindepastor hatte ich total versagt. Trotz vieler Anstrengungen war es mir nicht gelungen, die Gräben zwischen den verfeindeten Geschwistern zuzuschütten und unter ihnen Versöhnung zu stiften.

Meine Gottesbeziehung war eine riesige Baustelle. Ich hatte viel mehr Fragen als Antworten und sah mich außerstande, weiter zu predigen.

Gemessen an meinem kranken Ideal hatte ich sieben Kilo Übergewicht und verachtete meinen Körper zutiefst. Inzwischen war ich nicht einmal mehr in der Lage, in den Spiegel zu schauen. Stattdessen fing ich wieder damit an, aus Frust zu essen und mein Essen anschließend zu erbrechen, da ich es als einen Angriff auf meinen Körper verstand.

In meinem Kopf war die Hölle los. Meine irrationalen Zwangsgedanken und Ängste sowie die ständigen Grübeleien machten es mir nahezu unmöglich, mich auf irgendetwas zu konzentrieren oder gar zur Ruhe zu kommen. Verzweifelt versuchte ich, dieser Hölle mit einer Mischung aus »Pink Floyd« und »Faxe«-Starkbier zu entfliehen, doch das gelang mir immer seltener.

Ich war ein Heuchler und Lügner. Über Wochen hatte ich meine Frau Claudia belogen und ihr vorgespielt, ich würde keinen Alkohol mehr trinken. Dabei konnte ich ohne diesen Stoff keinen einzigen Tag überstehen – deshalb versteckte ich meine Flaschen im Haus und trank dort immer wieder heimlich.

Ich war am Ende: am Ende mit meiner Selbstachtung, am Ende mit meinem Glauben, am Ende mit dem Versuch, zu funktionieren, und am Ende mit der Hoffnung, dass es für mich noch einmal besser werden könnte. Bei einem meiner Lieblingsautoren, Martin Walser, hatte ich den folgenden Satz gelesen: »Jedes Mal meint man, das Schlimmste sei vorbei. Das ist die Illusion, die das Leben verlängert. Das Schlimmste ist immer.« 6 Wenn das stimmte, warum sollte ich mein Leben dann noch verlängern? Wäre es nicht viel sinnvoller, dieser Illusion zu entfliehen und es schnell zu beenden?

Ich dachte darüber nach, wie ich mich umbringen konnte, ohne dass dies als Suizid erkennbar wäre. Während einer Fahrt nach Würzburg zu meiner Supervisionsgruppe kam mir schließlich eine Idee: Es müsste ein tragischer Motorradunfall sein, bei dem niemand anderes mit hineingezogen wurde. So etwas passierte ja leider immer wieder mal: Motorradfahrer kamen aufgrund überhöhter Geschwindigkeit von der Straße ab und verunglückten tödlich. Im nüchternen Zustand würde mir dazu sicherlich der Mut fehlen, aber zugedröhnt sollte dies möglich sein. In meinem Kopf war ich schon verdammt nah am Abgrund. Erschrocken über mich selbst ging ich in die Gesprächsgruppe und wagte dort einen verschlüsselten Hilferuf.

Wir sprachen über die schrecklichen Folgen, die ein Suizid für die Hinterbliebenen hat. Doch ich betonte, dass es durchaus Situationen und Schicksale geben kann, in denen ein Selbstmord nachvollziehbar ist, getreu dem Motto: »Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.« Dabei muss ich in meiner Argumentation wohl so verzweifelt gewirkt haben, dass unser Supervisor mich erschrocken ansah. Am Ende unserer Gruppensitzung nahm er mich beiseite und fragte mich sehr direkt, ob ich vorhätte, mir das Leben zu nehmen.

Es hätte damals eine Menge Gründe gegeben, mich einfach ziehen zu lassen. Schließlich war mein Supervisor ein viel beschäftigter Mann. Er arbeitete als evangelischer Seelsorger in einer großen Uniklinik und war zudem in mehreren Gremien sowie als Ausbilder von anderen Supervisoren aktiv. Was mich betraf, so gehörte ich als Freikirchler noch nicht einmal zu seinem Stall: »Sollen sich seine eigenen Leute um ihn kümmern!«, so hätte er sich sagen können. Doch eben das tat er nicht. Stattdessen nahm er sich meiner an. Warum? Weil er in der Lage war, genau hinzusehen. Und das, was er sah, ließ ihn nicht kalt, sondern berührte sein Herz.

Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann.

Darum beschwor mich dieser Mann mit Tränen in den Augen, mein Leben nicht einfach wegzuwerfen. Am Ende unseres Gesprächs versicherte ich ihm, dass ich mir bei einem Psychologen in Würzburg professionelle Hilfe holen würde. Und als ich dann schließlich gehen wollte, lud er mich noch zum Mittagessen in die Kantine des Krankenhauses ein.

Für mich war diese Begegnung der erste und entscheidende Schritt auf einem langen Weg in die Freiheit. Es war die Barmherzigkeit meines Supervisors, die mich dazu bewog, diesen Schritt wirklich zu gehen, anstatt mich volllaufen zu lassen und mein Leben im wahrsten Sinne des Wortes vor die Wand zu fahren.

Barmherzigkeit hat mir das Leben gerettet!

Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann

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