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Jesus, der Samariter

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Das gesamte Gleichnis lässt sich in der Tat in der einen Aufforderung zusammenfassen: »Wenn du das kapiert hast, dann mach es genauso!« Mehr gilt es nicht zu verstehen. Dennoch wurde im Laufe der Jahre sehr viel mehr in diese Erzählung hineingelesen, vor allem durch die allegorische Auslegung, bei der man davon ausgeht, dass ein Text:

unter dem, was er von sich aus sagt, offensichtlich etwas anderes verbirgt, was einer von anderswoher kommenden Deutung bedarf, und zwar in der Weise, dass die eigentlichen Worte und Glieder des Textes mehr oder weniger vollständig in vergleichender Übertragung durch Begriffe ersetzt werden, die einem dem Wortlaut des Textes fremden, von ihm unabhängigen Sinnzusammenhang angehören. 26

Mit anderen Worten: Bei der allegorischen Auslegung eines solchen Gleichnisses haben die Hauptfiguren keine eigene Bedeutung, sondern stehen in Wahrheit für etwas ganz anderes, was sich freilich nur dem erschließt, der dies im Glauben zu sehen vermag. Eine solche Auslegung ist mit äußerster Vorsicht zu genießen, da man durch sie letztlich die krudesten Ideen und grausamsten Überzeugungen in eine biblische Geschichte hineininterpretieren kann – was in der Kirchengeschichte leider allzu oft geschehen ist. Dennoch beinhaltet manche Allegorie auch einige Perlen, und zwar immer dann, wenn sie zugleich dem Gesamtzeugnis des Evangeliums entspricht.

Das gilt auf jeden Fall für die allegorische Auslegung dieses Gleichnisses durch den Reformator Martin Luther. Der barmherzige Samariter ist für Luther:

durchweg nicht ein beliebiges Beispiel, sondern niemand anders als Jesus Christus selbst …, welcher allein das Doppelgebot der Liebe erfüllt hat. So ist in der Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter für Luther die ganze Heilsgeschichte abgemalt: Ein Mensch (d. h. Adam) fällt unter die Räuber (= Sündenfall und seine Folgen). Priester und Levit (= verschiedene Stufen der alttestamentlichen Heilsgeschichte) helfen ihm nicht. Der Samariter (= Christus) erfüllt ungebeten das Doppelgebot der Liebe und nimmt sich des Halbtoten an, behandelt ihn mit Öl (= Gnade) und Wein (= Kreuz und Leiden), lädt ihn auf sein Tier (d. h. auf sich selbst als das Opfertier), trägt ihn in die Herberge (= Kirche), überlässt ihn der Pflege des Wirtes (= die Prediger) und hinterlässt dazu vor seinem Weggehen (= Himmelfahrt) zwei Groschen (= Altes Testament und Neues Testament) samt der Verheißung seiner Rückkehr (= Wiederkunft). 27

Wer als heutiger Ausleger über eine solche Allegorese lächelt, der sollte nicht vergessen, dass Luther hier etwas erkannt und hervorgehoben hat, was sicherlich zur Kernbotschaft des Evangeliums gehört: Letztlich ist es Jesus Christus selbst, der uns das eigentliche Vorbild ist, da er wie eben dieser Samariter im Gleichnis handelt – nicht nur einmalig, sondern während seines gesamten Wirkens. Walter Kardinal Kasper fasst in dieser Hinsicht den Befund des Neuen Testaments sehr schön zusammen:

Jesus hat die Botschaft von der Barmherzigkeit des Vaters nicht nur verkündet; er hat sie selbst gelebt. Er hat sich der Kranken und von bösen Geistern Geplagten angenommen. Er konnte von sich sagen: »Ich bin gütig und von Herzen demütig« (Mt 11,29). Er wird von Mitleid gerührt (σπλαγχνισϑείς), als er einen Aussätzigen trifft (Mk 1,41) oder dem Leid einer Mutter, die ihren einzigen Sohn verloren hat, begegnet (Lk 7,13). Er hat Mitleid mit den vielen Kranken (Mt 14,14), mit dem Volk, das Hunger hat (Mt 15,32), als er die beiden Blinden, die ihn um Erbarmen anrufen sieht (Mt 20,34), mit den Menschen, die wie Schafe ohne Hirten sind (Mk 6,34). Am Grab seines Freundes Lazarus wird er innerlich erschüttert und weint (Joh 11,35.38). In der großen Gerichtsrede identifiziert er sich mit Armen, Hungernden, Elenden, und Verfolgten (Mt 25,31-46). So begegnen ihm immer wieder Menschen, die rufen »Erbarme dich meiner« beziehungsweise »Erbarme dich unser« (Mt 9,27; Mk 10,47 f. u. a.). Noch am Kreuz hat er dem reuigen Schächer verziehen und für diejenigen gebetet, die ihn ans Kreuz gebracht haben (Lk 23,34.43). 28

Jesus Christus ist die menschgewordene Barmherzigkeit des himmlischen Vaters – das hat Martin Luther erkannt und betont.

Das heißt dann aber: So zu handeln wie der Samariter im Gleichnis, heißt, so zu handeln, wie Christus handeln würde. Jesus sucht Jüngerinnen und Jünger die bereit sind, das zu tun, was er an ihrer Stelle tun würde. Die Frage ist: WWJD – What would Jesus do?

Nachfolger sind Nachmacher! Das betont auch Papst Franziskus, wenn er fragt:

Warum aber wählt Jesus einen Samariter als Hauptperson des Gleichnisses? Weil die Samariter aufgrund unterschiedlicher religiöser Traditionen bei den Juden verachtet waren; und dennoch lässt Jesus erkennen, dass das Herz jenes Samariters gut und großherzig ist und dass er – im Unterschied zum Priester und zum Leviten – den Willen Gottes in die Praxis umsetzt, dem mehr an Barmherzigkeit als an Opfern liegt (vgl. Mk 12,33). Gott will immer die Barmherzigkeit und nicht die gegen alle gerichtete Verurteilung. Er will die Barmherzigkeit des Herzens, weil er barmherzig ist und unsere Armseligkeiten, unsere Schwierigkeiten und auch unsere Sünden gut zu verstehen weiß. Gib uns allen dieses barmherzige Herz! Der Samariter tut genau das: Er ahmt die Barmherzigkeit Gottes nach, die Barmherzigkeit gegenüber den Bedürftigen. 29

Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann

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