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Das Weinen lernen

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Dennis ist elf Jahre alt und wurde schon mehrfach von der Polizei aufgegriffen. Er zeigt massive Verhaltensauffälligkeiten, ist aggressiv, hat eine sexualisierte Sprache und bedient sich bei seinen Schimpftiraden einiger Nazi-Ausdrücke. Ein Zuhause hat er nicht mehr, da seine Eltern inzwischen vor Gericht stehen – ihnen wird Verletzung der Fürsorgepflicht sowie schwere Misshandlung vorgeworfen. Als Dennis in staatliche Obhut gekommen ist, war sein Gesundheitszustand besorgniserregend: Er hatte zahlreiche Prellungen, war unterernährt, seine Kleidung war zerrissen, er war verlaust und seine Zähne waren allesamt stark von Karies befallen. Inzwischen geht es ihm körperlich deutlich besser, doch was ist mit seiner Seele? Was wird aus einem Kind, wenn es statt Liebe nur Prügel erhält? Sind solche seelischen Wunden überhaupt heilbar?

Seit ein paar Wochen besucht Dennis regelmäßig »Die Arche«, ein christliches Kinder- und Jugendhilfswerk mitten in der Stadt. Die Mitarbeitenden dort haben es nicht gerade leicht mit ihm. Dennoch investieren sie eine Menge Zeit, Kraft und Geld, um Kindern wie ihm zu vermitteln, dass sie einzigartige und geliebte Geschöpfe Gottes sind. Einrichtungen wie »Die Arche« werden getragen von Menschen, denen das Leid der Kinder zu Herzen geht und die noch nicht verlernt haben, zu weinen. Auch Papst Franziskus weist darauf hin, wie wichtig es ist, angesichts des Elends von Kindern weinen zu können:

Gewisse Realitäten des Lebens sieht man nur mit Augen, die durch Tränen reingewaschen sind. Ich lade jeden von euch ein, sich zu fragen: Habe ich gelernt, zu weinen? Habe ich gelernt zu weinen, wenn ich ein hungriges Kind sehe, ein Kind unter Drogeneinfluss auf der Straße, ein obdachloses, ein verlassenes Kind, ein missbrauchtes Kind, ein von der Gesellschaft als Sklave benutztes Kind? Oder ist mein Weinen das eigensinnige Weinen dessen, der weint, weil er gerne noch mehr haben möchte? Das ist das Erste, was ich euch sagen möchte: Lernen wir, zu weinen! …

Jesus – im Evangelium – hat geweint. Er weinte um seinen verstorbenen Freund. Er weinte in seinem Herzen um diese Familie, die ihre Tochter verloren hatte. Er weinte in seinem Herzen, als er die arme Witwe sah, die ihren Sohn zu Grabe trug. Er war innerlich bewegt und weinte in seinem Herzen, als er die Menschen wie Schafe ohne Hirten sah. Wenn ihr nicht lernt zu weinen, seid ihr keine guten Christen. Und das ist eine Herausforderung. Jun Chura und seine Gefährtin, die heute gesprochen haben, haben uns diese Herausforderung gestellt. Und wenn sie uns fragen: Warum leiden die Kinder? Warum geschieht dies oder jenes Traurige im Leben? – dann möge unsere Antwort entweder Schweigen sein oder ein Wort, das aus Tränen geboren ist. Seid mutig, habt keine Angst zu weinen! 15

Der Papst sagte diese Worte bei einer Begegnung mit Jugendlichen in Manila, doch leidende Kinder gibt es nicht nur auf den Philippinen, sondern ebenso in Berlin, Dortmund, Frankfurt, Wien, Zürich und vielen anderen Städten. Wer bereit ist, hinzuschauen, der wird sie sehen. Und wer fühlt, was er sieht …

Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann

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