Читать книгу Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann - Volker Halfmann - Страница 7
ОглавлениеPROLOG
DIE SCHNAPSLEICHE AM WEGESRAND
Inzwischen zitterte ich am ganzen Körper und spürte meine tiefgefrorenen Finger nicht mehr. Ich wollte nur noch eins: endlich am Ziel ankommen und mich dort aufwärmen!
Es war Sonntagmorgen und ich fuhr mit dem Motorrad von Hattingen nach Dortmund, um dort in der Freien evangelischen Gemeinde zu predigen. Die »Eisheiligen« hatten ganze Arbeit geleistet, denn über Nacht hatte es Frost gegeben, mitten im Mai 2012. Inzwischen waren es zwar zwei oder drei Grad »über 0«, doch für eine Fahrt mit dem Motorrad war dies noch immer mehr als grenzwertig.
»Der Weg ist das Ziel« – was für ein Blödsinn. Für mich war einzig das Ziel entscheidend dafür, durchzuhalten. Es fehlte nicht mehr viel. Laut Navi war ich nur noch fünf Minuten von einem Platz an der warmen Heizung entfernt. Ich wurde schneller und spähte unentwegt zum Straßenrand, um nicht geblitzt zu werden. Da sah ich auf dem Bürgersteig einen jungen Mann. Regungslos lag er da, neben sich eine leere Flasche.
Am Tag zuvor hatte der BVB zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte das Double geholt. Durch einen historisch hohen Sieg gegen den FC Bayern war der Dortmunder Fußballklub nicht nur Deutscher Meister, sondern nun auch Pokalsieger. In dieser fußballverrückten Stadt hatte das einen gewaltigen Freudenrausch ausgelöst – bei einigen der Fans leider verbunden mit einem ebenso gewaltigen Alkoholrausch. Auch dieser Typ am Straßenrand hatte es eindeutig übertrieben. Nun lag er da und schlief seinen Rausch aus. »Soll er doch«, dachte ich, »was hat das mit mir zu tun?«
Ich fuhr an ihm vorbei, blieb in Gedanken aber bei ihm. »Was soll da schon groß passieren?«, dachte ich. »Irgendwann wacht er auf, taumelt nach Hause und wirft sich eine Kopfschmerztablette ein. Wenn ich jetzt anhalte, dann muss ich vielleicht auf Hilfe warten und verpasse den Gottesdienst. Sicher kommt bald ein Fußgänger vorbei, der sich um ihn kümmern kann. Alles halb so wild …«
Doch während ich auf diese Weise versuchte, meine unterlassene Hilfeleistung zu rechtfertigen, kam mir auf einmal ein Gleichnis von Jesus in den Sinn, das im Evangelium nach Lukas überliefert ist und das ich schon seit meiner Kindheit kannte: das Gleichnis vom barmherzigen Samariter:
Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel unter Räuber, die ihn auch auszogen und ihm Schläge versetzten und weggingen und ihn halb tot liegen ließen. Zufällig aber ging ein Priester jenen Weg hinab; und als er ihn sah, ging er an der entgegengesetzten Seite vorüber. Ebenso aber kam auch ein Levit, der an den Ort gelangte, und er sah ihn und ging an der entgegengesetzten Seite vorüber. Aber ein Samariter, der auf der Reise war, kam zu ihm hin; und als er ihn sah, wurde er innerlich bewegt; und er trat hinzu und verband seine Wunden und goss Öl und Wein darauf; und er setzte ihn auf sein eigenes Tier und führte ihn in eine Herberge und trug Sorge für ihn. Und am folgenden Morgen zog er zwei Denare heraus und gab sie dem Wirt und sprach: »Trage Sorge für ihn! Und was du noch dazu verwenden wirst, werde ich dir bezahlen, wenn ich zurückkomme.« 3
Sofort wurden mir die Parallelen klar: Ich bin keinen Deut besser als diese frommen Männer, die achtlos an einem hilflosen, mit dem Tode kämpfenden Mann auf ihrem Weg vorbeigehen! Das war keine Lappalie, denn auch die Schnapsleiche an meinem Wegesrand war vom Tod bedroht. Entgegen der landläufigen Meinung wärmt Alkohol den Körper nicht, sondern öffnet die Poren und lässt den Körper schneller auskühlen. Dadurch können Menschen, die im Rausch irgendwo im Freien eingeschlafen sind, über Nacht erfrieren. Daneben gab es für diesen jungen Mann noch eine weitere tödliche Gefahr: Sollte er sich im Schlaf von der Seite auf den Rücken drehen, so konnte er an seinem Erbrochenen ersticken (er wäre nicht der Erste). Es bestand also wirklich dringender Handlungsbedarf: Diesem Menschen musste sofort geholfen werden!
Schuldbewusst drehte ich um und fuhr zurück zu der Stelle, an der ich ihn gesehen hatte. Er lag noch immer dort und rührte sich nicht. Während ich versuchte, ihn zu wecken, kam ein Fußgänger und gemeinsam riefen wir einen Krankenwagen. Der Gottesdienst war plötzlich zweitrangig geworden.
Ich habe mich später nicht danach erkundigt, was aus ihm geworden ist, aber ich gehe sehr stark davon aus, dass er inzwischen wieder alle zwei Wochen kerngesund in der Nordkurve steht und seinen Verein anfeuert.
Dieses Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Barmherzigkeit, doch wie Sie an dieser Geschichte sehen können, schreibe ich es mir auch selbst. Ich will barmherziger werden! Ich bin ein Mensch, der sich mit seinem zerbrechlichen und chaotischen Leben an Jesus hängt und ihm vertraut. Ich bin ein Jesus-Schüler. Und Jesus sagt unmissverständlich:
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! 4
An diesem einen Satz hängen für mich sowohl die Wirklichkeit als auch die Relevanz des christlichen Glaubens, denn ein Gott, der angesichts des zum Himmel schreienden Leidens seiner Kinder ungerührt auf dem Sofa liegen bleibt, ein solcher Gott hätte es nicht verdient, geliebt zu werden. Einzig ein barmherziger Gott ist auch ein liebenswürdiger Gott!
Zugleich weist uns diese Aufforderung von Jesus den Weg, auf dem die Barmherzigkeit Gottes zu den Notleidenden kommt, die sie so dringend brauchen: durch Menschen, die ihm nachfolgen, durch seine Schülerinnen und Schüler. Das aber bedeutet: Eine Kirche, die an den Leidenden am Wegesrand achtlos vorbeigeht, weil sie ständig mit sich selbst beschäftigt ist und ihr frommes Programm pflegt, eine solche Kirche hat es nicht verdient, beachtet und gehört zu werden. Einzig eine barmherzige Kirche ist auch eine glaubwürdige Kirche! Beim Thema »Barmherzigkeit« geht es somit um die Existenzberechtigung unseres Glaubens.
Darum lassen Sie uns gründlich prüfen, ob es wahr ist, dass wir einen Vater im Himmel haben, der barmherzig ist. Und wenn dies so ist, dann lassen Sie uns alles dafür tun, dass seine göttliche Barmherzigkeit unser Leben durchdringt und unsere Herzen erobert. Denn dann – und erst dann! – werden wir zu Nachfolgerinnen und Nachfolgern von Jesus, die Gottes Barmherzigkeit in diese Welt tragen, indem wir an den Notleidenden auf unserem Lebensweg nicht achtlos vorbeigehen. Bewegt von der Barmherzigkeit unseres himmlischen Vaters werden wir zu Menschen, die fühlen, was sie sehen.
Und wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann!
Volker Halfmann