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Wer ist mein Nächster?

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Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter steht nicht im luftleeren Raum, sondern in einem ganz bestimmten Zusammenhang, den uns der Evangelist Lukas schildert:

Ein Mann, der sich im Gesetz Moses besonders gut auskannte, stand eines Tages auf, um Jesus mit folgender Frage auf die Probe zu stellen: »Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu bekommen?« 16

Vermutlich kennen Sie das auch: Bestimmte Fragen stellen wir nicht deshalb, weil wir nach einer Antwort suchen, sondern aus völlig anderen Motiven. Manche Fragen werden gestellt, um Interesse zu heucheln, und andere, um sich eine unangenehme Wahrheit vom Leib zu halten. Bei der Frage des Gesetzeslehrers ging es darum, Jesus auf die Probe zu stellen und seine Rechtgläubigkeit zu testen. Wollte man heute eine Professorin für Theologie oder einen Pfarrer auf ihre Haltung zum Wort Gottes hin prüfen und aufs Glatteis führen, so würde man sie wohl eher danach fragen, wie sie zur biblischen Bewertung der Homosexualität stehen – damals jedoch war dies noch nicht so ein heiß diskutiertes Thema. Stattdessen wird Jesus nach der einen grundlegenden Norm gefragt, mit der sich das gesamte jüdische Gesetz zusammenfassen lässt – nach damaliger Lesart bestehend aus 248 Geboten und 365 Verboten. Eine knifflige und heikle Frage.

Jesus aber lässt sich nicht in die Ecke dessen drängen, der sich rechtfertigen muss. Stattdessen antwortet er mit einer Gegenfrage: »Was steht darüber im Gesetz Moses? Was liest du dort?« 17 Schließlich ist der Fragende ein Experte, da wird er doch wohl eine Antwort kennen!

Selbstverständlich kennt der Mann die Antwort, da er sich mit dieser Problemstellung schon länger befasst hat. Er antwortet mit dem Doppelgebot der Liebe (zusammengefasst aus 5. Mose 6,5 und 3. Mose 19,18): »›Du sollst den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit deiner ganzen Kraft und all deinen Gedanken lieben.‹ Und: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.‹« 18

»Na also«, sagt Jesus sinngemäß, »warum fragst du mich dann überhaupt, wenn du die Antwort doch längst kennst? Halte dich daran und du wirst leben!« 19

Auf einmal ist es der Gesetzeslehrer, der sich genötigt fühlt, sich zu rechtfertigen. Helmut Gollwitzer bemerkt dazu treffend:

Er will sich gegen die Beschämung und Verlegenheit wehren – mehr noch: Er will seine vorherige Überlegenheit retten – mehr noch: Er will sich dem Gericht des Gebotes entziehen, vor dem er als der Nicht-Liebende steht. Er tut das mit einer Frage, die keineswegs aus der Luft gegriffen ist und gegen die nichts zu sagen wäre, wenn sie als echte Frage aus einem bedrängten Herzen käme: »Und wer ist mein Nächster?« 20

Damals wie heute wurde diese Frage wirklich diskutiert: »Wenn Gott uns zur Nächstenliebe auffordert, wer ist denn dann bitteschön unser Nächster? Gibt es eine Grenze der Nächstenliebe – und falls es sie gibt, wo genau verläuft diese? Wen muss ich lieben und wen nicht?«

Für das Judentum der damaligen Zeit war klar, dass auf jeden Fall jeder Volksgenosse ein Nächster war, doch schon bei den sogenannten »Proselyten« gab es Uneinigkeit. Das waren Menschen, die nicht als Juden geboren, sondern erst später zum Judentum hinzugekommen waren. Richtig hitzig wurde die Debatte, wenn es darum ging, ob das Gebot der Nächstenliebe auch für den Fremdling und den Feind gelten solle. Hier gab es verschiedene Auslegungen: eine verengende, die einzig im Volksgenossen einen Nächsten sah, und eine erweiterte, die das Gebot der Nächstenliebe auch auf den Fremden und den Feind bezog. Wer aber hatte nun recht und woran sollte man sich halten?

Aus heutiger Sicht ist es wohl eher die Globalisierung, die uns bei der Frage nach der Nächstenliebe zu schaffen macht. Da unsere Welt immer enger zusammengerückt ist, hören wir nicht mehr nur vom Leiden unseres Nachbarn, sondern auch von ertrinkenden Flüchtlingen im Mittelmeer und verhungernden Kindern im Jemen. Und damit fühlen wir uns oft überfordert, da wir schließlich nicht überall helfen können. Wer also ist heute unser Nächster?

Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann

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