Читать книгу Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann - Volker Halfmann - Страница 19
Persönliche Schicksale
ОглавлениеJeder von uns ist früher oder später auf Barmherzigkeit angewiesen. Mir ist noch kein Mensch begegnet, der nicht an irgendeiner Stelle seines Lebensweges »unter die Räuber« gekommen wäre, wobei diese Räuber sehr verschieden aussehen können. Hier nur eine kleine Auswahl von Menschen, denen ich begegnet bin und die sich ihr Leben eigentlich ganz anders vorgestellt hatten:
Ich stehe in der Halle des Hamburger Hauptbahnhofes und frage mich, was ich mit den verbleibenden zweieinhalb Stunden machen soll, da fällt mein Blick auf Georg. Der alte Mann hockt in einer offenen Fotokabine, stützt sich auf seinen Handwagen und kämpft gegen den Schlaf. Sein verwahrlostes Erscheinungsbild deutet darauf hin, dass er auf der Straße lebt und hier im Bahnhof Pfandflaschen sammelt. Sein Anblick geht mir zu Herzen; deshalb gehe ich zu ihm und frage ihn, ob er Lust hat, mit mir zu essen. Zunächst ist er misstrauisch, doch nach ein paar Erklärungen sagt er schließlich zu. In den kommenden zwei Stunden erfahre ich durch Georg sehr viel darüber, wie schnell die eigenen Lebensträume zerplatzen können.
Georg ist 71 Jahre alt und lebt seit sieben Jahren auf der Straße. Aufgrund seines schlurfenden Gangs hatte ich zunächst gedacht, er sei alkoholisiert, doch das ist nicht der Fall. Georg leidet unter »MG« (Myasthenia gravis), einer seltenen neurologischen Erkrankung, die zu Lähmungen führt und von den Augen auf den ganzen Körper übergehen kann. Wenn dies der Fall ist, sind die Chancen auf eine Heilung gering, vor allem dann, wenn die Krankheit erst relativ spät diagnostiziert wurde. Und genau dies ist bei Georg der Fall. Aufgrund seiner Lähmungserscheinungen musste er seinen Beruf als Technischer Zeichner aufgeben, doch lange Zeit konnte keine Ursache gefunden werden. In seiner Verzweiflung betäubte er sich mehr und mehr mit Alkohol, was schließlich zur Trennung von seiner Frau führte.
Georg ist der typische Fall eines Menschen, bei dem es kein Schwarz oder Weiß, kein Gut oder Böse gibt. Er ist eindeutig »unter die Räuber« gekommen, hat aber infolgedessen auch eigene Fehler gemacht. Er hat sein Leben vor die Wand gefahren. Hier, im Bahnhof, darf er in einem gekennzeichneten Wartebereich von Mitternacht bis morgens um 5 Uhr übernachten, danach schlurft er durch die Gegend auf der Suche nach einem Platz, an dem er ungestört die vorbeihetzenden Geschäftsleute beobachten kann. »Alles ist schneller, hektischer und unpersönlicher geworden«, meint Georg. Dennoch steckt ihm von Zeit zu Zeit jemand ein paar Euro zu und Georg ist sich sicher, dass dies an seiner freundlichen Ausstrahlung liegt.
Während wir uns unterhalten, kommt Mareike zu uns, um von Georg eine Zigarette zu schnorren. Mareike ist voll bis unter die Haarspitzen und kann sich nur noch schwer artikulieren. Wenn es stimmt, was sie mir erzählt, dann hat sie vor zwei Jahren ihren Mann durch einen tragischen Autounfall verloren – da waren sie gerade mal zehn Wochen verheiratet. Das hat sie völlig aus der Bahn geworfen. Inzwischen ist sie im Methadon-Programm und muss sich jeden Tag die fünf Euro Rezeptgebühr erbetteln.
Während sie das erzählt, knufft Georg mich in die Seite und gibt mir ohne ein Wort zu verstehen: »Komm schon, Kumpel, die fünf Euro kannst du doch locker verkraften.« Also kaufe ich für alle eine Brezel sowie einen Kaffee und stecke Mareike auch noch die fünf Euro zu, worauf sie sich überschwänglich bedankt und mehrfach betont, ich hätte ihr den Tag gerettet. Etwas skeptisch frage ich mich, worin diese Rettung wohl konkret bestehen wird – aber dennoch habe ich das Gefühl, das Richtige getan zu haben.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass ich alles andere bin als die männliche Variante von Mutter Teresa. Solche Begegnungen wie die mit Georg und Mareike hatte ich bislang nicht sehr oft, da ich diese Menschen viele Jahre gar nicht wahrgenommen habe. Falls ich sie doch gesehen habe, so hat mich ihr Anblick wohl meistens kaltgelassen. Das hat sich erst in den letzten Jahren langsam verändert. Wenn ich heute durch eine Stadt wie Hamburg gehe, dann stelle ich erschrocken fest, wie weit die Schere zwischen Arm und Reich dort auseinandergeht. Während die Geschäftsleute mit ihren Business-Koffern zum nächsten Termin eilen, hocken in zahlreichen Hauseingängen Obdachlose in ihren Schlafsäcken und hoffen darauf, dass für sie ein paar Euro abfallen. Während japanische Touristen zur nächsten Sehenswürdigkeit geführt werden, torkelt eine Gruppe Betrunkener über die Straße und sorgt für ein Verkehrschaos. Ich will hier nicht schwarzmalen – diese Stadt hat sicherlich ihre liebenswerten Seiten. Doch wer die Augen nicht verschließt, der sieht auch sehr viel Elend: Drogenhandel, Obdachlosigkeit, Armut, Prostitution und Gewalt.
Ich bin kein Sozialromantiker! Mir ist völlig klar, dass es wesentlich mehr Anstrengungen braucht, als das, was ich getan habe, um diesen Menschen zu helfen. Auch ist mir bewusst, dass es vorschnelle Hilfeleistungen gibt, die im Ergebnis nach hinten losgehen und das Elend nicht verringern, sondern es geradezu fördern (vermutlich kennt jeder den Rat, einem Obdachlosen kein Geld zu geben, da er es an der nächsten Ecke versaufen wird). Das alles weiß ich. Dennoch kann ich an der Not dieser Menschen nicht länger achtlos vorbeilaufen. Und je mehr ich ihre Geschichten höre, umso mehr wird mir klar, dass es das Schicksal bislang recht gut mit mir gemeint hat (wobei ich als Christ wohl eher sagen würde, dass Gott mich reich beschenkt hat). Darum halte ich es für ein Gebot der Barmherzigkeit, etwas davon weiterzugeben.
Die vielen Argumente hingegen, mit denen wir zu erklären versuchen, warum eine spontane Hilfe ungenügend oder gar kontraproduktiv wäre, scheinen mir der hilflose Versuch zu sein, solche Menschen auf Abstand zu halten und sie mit reinem Gewissen links liegen zu lassen. Etwas Hilfe geht nämlich immer!
Im Wartebereich der Caritas-Kleiderkammer sitzt die junge Alia und schaut sich ängstlich in dem überfüllten Raum um. Sie ist seit vierzehn Monaten in Deutschland und kann sich mit ihren bislang erworbenen Deutschkenntnissen so einigermaßen verständigen. Durch Dritte erfahre ich von ihrer Geschichte – und die schnürt mir das Herz zusammen:
Alia stammt aus Syrien und war dort eine fleißige Schülerin, bevor sie aufgrund des Krieges gemeinsam mit ihrem Bruder nach Ägypten ziehen musste. Ohne Arbeitserlaubnis lebten sie dort am Rande der Gesellschaft und beschlossen, nach Europa zu fliehen, um dort ein neues Leben in Freiheit und Würde anzufangen. Nachdem sie all ihre Ersparnisse zusammengekratzt hatten, wurden sie von einer Schmugglerbande in ein völlig überfülltes Fischerboot gezwängt. Bereits nach wenigen Seemeilen ging das Benzin aus und immer mehr Wasser drang in das marode Boot. Die Kinder schrien in ihrer Todesangst und ihre Mütter fingen an, laut zu beten. Als das Boot schließlich sank, klammerte sich Alia, die nicht schwimmen konnte, verzweifelt an einen Rettungsring. In den nächsten Stunden musste sie mit ansehen, wie zahlreiche Flüchtlinge den Kampf ums Überleben verloren. Einige von ihnen zogen einfach ihre Rettungswesten aus und versanken im Meer. Unter ihnen war auch die Mutter des kleinen Esat. In dem Wissen, dass sie bald sterben würde, übergab sie ihren Sohn Alia und bat sie, sich um ihn zu kümmern. Zwei weitere Tage vergingen, in denen Alia versuchte, sich und den kleinen Esat über Wasser zu halten und die Hoffnung nicht aufzugeben. Schließlich wurden sie von einem Handelsschiff gesichtet und an Bord genommen. Wie durch ein Wunder überlebten Alia und der kleine Esat, doch bis zu fünfzig Menschen ertranken im Mittelmeer, darunter auch ihr Bruder.
Nun sitzt mir diese schwer traumatisierte junge Frau gegenüber, die verzweifelt versucht, das alles hinter sich zu lassen. Ob das ohne fachliche Hilfe gelingen kann – bei allem, was sie durchgemacht hat? Ich weiß es nicht, aber ich kann ihr an diesem Tag zumindest ein guter Zuhörer sein, jemand der sie willkommen heißt und ihr etwas Mut zuspricht. Auch das ist bereits ein kleiner Akt der Barmherzigkeit. Die weitaus größere Barmherzigkeit aber geht von den vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern in der Kleiderkammer aus, die sich für Menschen wie Alia einsetzen, weil ihnen ihr Schicksal zu Herzen geht.
Als ich früher Zeitungen austrug, begegnete mir Elena. Morgens um vier Uhr stand sie auf ihrem Balkon und flehte mich an, ihr von der nächsten Tanke eine Flasche Wodka zu besorgen. Ich unterbrach meine Tour und ging zu ihr in die Wohnung, wo sie mir ihre Geschichte erzählte: Elena war über mehrere Jahre sexuell missbraucht worden, sowohl von ihrem Vater als auch von ihrem Onkel. Ihre Mutter wusste davon, doch sie war zu schwach, um etwas dagegen zu unternehmen. Mit den Jahren lernte Elena, den unerträglichen Schmerz in ihrer Seele zu betäuben und zu verdrängen. So wurde sie letztlich suchtkrank, abhängig von Medikamenten und vom Alkohol. Schon mehrmals war sie zur Entgiftung und in Therapie gewesen, doch immer zusammen mit Männern, die zu ihrem Täterkreis gehören könnten und ihr Leiden noch verstärkten. Es gibt Kliniken für traumatisierte Menschen und Kliniken für Alkoholkranke, aber die allerwenigsten von ihnen sind auf beides spezialisiert. Und so fand sie über Jahre nicht die passende Hilfe.
Damals war ich mit dieser Begegnung schlichtweg überfordert. Immerhin weigerte ich mich konsequent, ihr Alkohol zu besorgen. Stattdessen bot ich Elena an, sie in ein Krankenhaus zu fahren. Aber das lehnte sie kategorisch ab. Soweit ich mich erinnere, klingelte ich ein paar Tage später noch einmal bei ihr, doch da öffnete sie nicht.
Mir ist jedoch in lebhafter Erinnerung geblieben, wie urplötzlich auf meinem Lebensweg Menschen auftauchen können, deren Lebensträume zerplatzt sind, weil sie unter die Räuber gekommen sind: Menschen, die geschlagen und erniedrigt wurden und die man halb tot zurückgelassen hat. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist viel mehr als ein literarisches Meisterwerk, es ist die bittere Wahrheit, die sich Tag für Tag tausendfach wiederholt.
Steffi ist Ende vierzig und hat vor Kurzem ihren Ehemann verloren. Nach zwei schweren Jahren mit Bestrahlungen, Chemotherapie und immer neuen Krankenhausaufenthalten hat der Krebs gesiegt und seinem Leben ein Ende gesetzt. Steffi ist am Ende und fällt in eine tiefe Depression. Wer ihr begegnet und die Fähigkeit besitzt, genau hinzuschauen, der sieht eine völlig verzweifelte Frau, die keinerlei Lebensmut mehr besitzt. Als sie ihren Mann kennenlernte, war er bereits an Krebs erkrankt, aber beide hofften auf Heilung und damit auf ein langes gemeinsames Leben. Doch diese Hoffnung wurde bitter enttäuscht. Inzwischen sind vier Wochen vergangen, seit ihr Mann beerdigt worden ist, und alle um sie herum gehen ihren gewohnten Alltagspflichten nach. Irgendwie scheint das Leben an ihr vorbeizulaufen. Was Steffi jetzt braucht, sind Menschen, die nicht achtlos an ihr vorübergehen, sondern fühlen, was sie sehen. Solche Menschen werden für sie da sein, sie besuchen und einfach zuhören.
Werke der Barmherzigkeit sind nicht immer aufwendig, ganz im Gegenteil: Oft sind es kleine Gesten der Zuwendung, die einen Leidenden wieder aufrichten können. Doch auch wenn sie noch so klein sind, sie geschehen nicht einfach von selbst, sondern kommen aus den Herzen von Menschen, die in der Lage sind, mitzufühlen.
Gudrun ist 83 Jahre alt und hat ihr halbes Leben in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung inmitten der Stadt verbracht, im Erdgeschoss eines vierstöckigen Mietshauses. Schon sehr viele Menschen hat sie in den vergangenen Jahren kommen und gehen sehen, doch sie ist immer geblieben. Warum soll sie auch woanders hin? Hier fühlt sie sich wohl, hier ist ihr Zuhause und hier wird man sie auch eines Tages raustragen müssen – so stellt sie sich das vor. Doch dann kommt ein Brief, der ihr den Boden unter den Füßen wegzieht. Bereits vor einigen Monaten hat man damit begonnen, das Haus zu renovieren: Da wurde irgendetwas am Dach gemacht und auch die Heizung schien wohl erneuert zu werden. »Soll mir nur recht sein«, dachte Gudrun, »vielleicht wird es dann ja mal richtig warm in meiner Wohnung.« Nie aber hätte sie sich träumen lassen, dass diese Arbeiten zur Katastrophe führen könnten, zur Katastrophe ihres drohenden Auszugs. In dem Brief steht schwarz auf weiß, dass sich ihre monatliche Miete um 260 Euro erhöhen wird – und dieses Geld hat sie nicht!
Gudrun ist am Boden zerstört und hat niemanden, an den sie sich wenden könnte. Mehr und mehr zieht sie sich zurück, grüßt nicht einmal mehr die netten jungen Leute von nebenan. Gudruns Hausarzt verschreibt ihr regelmäßig Schlaftabletten und da sie immer vorsorgt, hat sie inzwischen eine ganze Schublade voller Tabletten. Vermutlich wird man sie wirklich bald raustragen aus ihrer Wohnung. Es sei denn, es gibt in ihrem Umfeld Menschen, die sie wahrnehmen, ihre Verzweiflung sehen und daraufhin tun, was sie können, um ihr zu helfen.