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Barmherzigkeit kennt keine Auswahlkriterien

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Wörtlich sagt Jesus: »Ein Mensch (ἄνθρωπός) ging hinab von Jerusalem nach Jericho.« Für die damaligen Hörer ist sofort klar: Bei diesem Menschen muss es sich um einen Mann handeln, da eine Frau diesen Weg niemals allein gehen würde. Zudem wird es sich um einen Juden handeln, denn er geht von der Hauptstadt Israels hinab in die bedeutende jüdische Stadt Jericho – ein Weg, der zu 95 Prozent von Juden genutzt wurde.

Auch wir haben vermutlich gleich ein Bild vor Augen, wenn wir diese Erzählung hören, und das ist völlig in Ordnung. Nur dürfen wir dabei nicht vergessen, dass Jesus hier sehr bewusst offenlässt, um wen genau es sich bei dem Reisenden handelt. Es ist einfach ein Mensch – und das bedeutet: Seine Herkunft und soziale Stellung sind ebenso bedeutungslos wie sein Geschlecht oder seine Hautfarbe. Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes, ist sein Ebenbild. Jeder Mensch ist von Gott geliebt und gewollt – das gibt ihm seine unantastbare Würde. Und wenn ein solcher Mensch unsere Hilfe benötigt, weil er sich in einer Notlage befindet, dann hat er genau diese Hilfe zu erhalten – unabhängig von seiner Nationalität, seinem sozialen Milieu, seiner Religion oder seinen Überzeugungen.

Barmherzigkeit kennt keine Auswahlkriterien – Gottes Barmherzigkeit nicht, und unsere sollte sie auch nicht kennen! Letztlich ist es nicht einmal entscheidend, ob der notleidende Mensch seine schlimme Lage selbst verschuldet hat. Wer seelisch oder körperlich verblutet, braucht keine Moralpredigten und Ratschläge, sondern lebensrettende Erste-Hilfe-Maßnahmen!

Der Abstieg von Jerusalem hinab nach Jericho ist ein Trampelpfad, der sich über rund 27 Kilometer erstreckt und dabei durch die Judäische Wüste führt, eine Gegend voller Steine und Geröll mit zahlreichen Höhlen und unübersichtlichen Abzweigungen. Hier lebte (oder besser hauste) zur Zeit von Jesus ein Teil der verelendeten Landbevölkerung und versuchte, sich durch regelmäßige Raubzüge das Überleben zu sichern.

Bereits der Einstieg in den über eintausend Höhenmeter hinabführenden Pfad wurde die »Blutsteige« genannt, da jeder wusste, dass hinter diesem Einstieg die Gefahr lauerte. Diesen Weg alleine zu gehen war also ziemlich verantwortungslos – es war geradezu eine Einladung, überfallen zu werden. Und eben dies könnte man unserem Reisenden natürlich vorwerfen, als er blutüberströmt und halb tot am Wegesrand liegt: »Wie kann man nur so blöd sein und sich in eine solche Gefahr begeben? Jeder weiß doch, dass es in dieser Gegend von Räubern nur so wimmelt. Tja, mein Freund, nun musst du selbst schauen, wie du hier wieder rauskommst. Wer nicht hören will, der muss halt manchmal fühlen.« So in etwa würde die typische Reaktion eines Besserwissers lauten, der selbst über jeden Fehler erhaben erscheint und den das Leid des Überfallenen völlig kaltlässt. Der Barmherzige jedoch verzichtet auf solche Belehrungen und tut stattdessen das, was wirklich vonnöten ist: Er packt an, um zu helfen und Leben zu retten.

Barmherzigkeit kennt keine Auswahlkriterien, sie gilt auch jenen, die ihr Leiden selbst verschuldet haben! Wer sich mit dieser Vorstellung schwertut, der sollte sich von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass Gottes Barmherzigkeit genauso handelt. Auch sie gilt jenen Menschen, die sich durch ihren Ungehorsam und ihr unachtsames Verhalten selbst in Todesgefahr begeben haben. Wer darum heute als Christ lebt, wer Jesus Christus nachfolgt und Gott seinen Vater nennt, der kann dies nur, weil Gott eingegriffen und angepackt hat, indem er in Jesus Mensch geworden ist und die Welt mit sich versöhnt hat: »Gott ist so barmherzig und liebte uns so sehr, dass er uns, die wir durch unsere Sünden tot waren, mit Christus neues Leben schenkte, als er ihn von den Toten auferweckte. Nur durch die Gnade Gottes seid ihr gerettet worden!« 14

Das Kennzeichen von Gnade ist, dass man sie nicht verdient hat und sie sich auch nicht verdienen kann. Gottes Barmherzigkeit gilt uns gerade nicht, weil wir so tadellos wären, dass er einfach nicht anders kann, sondern weil er unser Elend gesehen hat und ihm das, was er gesehen hat, zu Herzen gegangen ist.

Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann

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