Читать книгу Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann - Volker Halfmann - Страница 25

Vom Objekt zum Subjekt

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Über die Frage, ob denn die Nächstenliebe eine Grenze kennt, ließe sich lange diskutieren – so lange, dass bei den vielen tiefgründigen Gedanken die einfachen Taten in Vergessenheit geraten würden. Es gibt ein Theoretisieren, welches im Grunde nur dazu dient, uns die lästige Praxis zu ersparen. Doch bei Jesus kommt man damit nicht durch, denn »alle intellektuellen Fragen wandeln sich bei Jesus zu existenziellen, alle theoretischen zu praktischen, alle unechten zu echten.« 21

Das muss nun auch unser Gesetzeslehrer erfahren, denn Jesus fragt ihn: »Wer von den dreien war nun deiner Meinung nach der Nächste für den Mann, der von Räubern überfallen wurde?« 22 Und indem Jesus so fragt, dreht er die Fragestellung (»Wer ist mein Nächster?«) um: Auf einmal geht es nicht mehr darum, welcher der zahlreichen Menschen um mich herum mein Nächster ist, sondern darum, für welchen dieser Menschen ich zum Nächsten werde, weil ich an ihnen vorbeikomme und ihre Not nicht übersehe. Der Begriff des Nächsten wird bei Jesus nicht mehr als Objekt gefasst (einer, den ich mir aussuche), sondern als Subjekt: Nun bin ich der Nächste für den, der meine tatkräftige Hilfe braucht – so ist es gewissermaßen der Notleidende, der mich aussucht, indem er halb tot auf meinem Weg liegt.

Joachim Jeremias schreibt dazu:

Der Schriftgelehrte denkt von sich aus, wenn er fragt: Wo ist die Grenze meiner Pflicht (V. 29)? Jesus sagt ihm: denke von dem Notleidenden aus, versetz dich in seine Lage, überleg dir: Wer erwartet Hilfe von mir (V. 36)? Dann wirst du sehen, dass es keine Grenze für das Liebesgebot gibt! 23

Bei Jesus sind die Lösungen immer einfach – zumindest einfach zu verstehen: »Nun geh und mach es genauso!« 24

Die Erzählung vom barmherzigen Samariter ist kein typisches Gleichnis, bei dem die Bildhälfte einer noch zu deutenden Sachhälfte entspricht (wie etwa das Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld 25), sondern es handelt sich hier um eine Beispielerzählung: Der barmherzige Samariter gibt uns ein Beispiel dafür, wo unsere Nächstenliebe gefordert ist und wie sie konkret aussieht. So einfach ist das: Jesus sucht Nachmacher – Menschen, die genau so handeln, wie dieser Samariter gehandelt hat.

Die Frage nach der Grenze der Nächstenliebe hat sich damit noch nicht erledigt, aber für unser tägliches Handeln tritt sie zunächst einmal in den Hintergrund, da wir genug damit zu tun haben, uns um diejenigen zu kümmern, die seelisch oder körperlich blutend an unserem persönlichen Wegesrand liegen – denn für solche Menschen sind wir der Nächste.

Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann

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