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2.3 Die Naturvorstellungen unserer wissenschaftlich geprägten Zivilisation…

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Noch weiter freilich wühlt der „Geist“ dieser Wissenschaft und er geht in verschiedenen Hinsichten auch über das Weltbild der „klassischen Physik“ hinaus. Dessen Einschränkung beginnt mit jenen drei berühmten Arbeiten, die Albert Einstein (1879–1955) im Jahre 1905 in den „Annalen der Physik“ veröffentlicht. Jeder Beobachter, so entwickelt es Einstein in seiner „Speziellen Relativitätstheorie“, der sich relativ zu einem anderen bewegt, führt sozusagen seine eigene Zeit mit sich; diese Bezogenheit der Zeit auf ein bewegtes System, die der Alltagserfahrung von der gleichförmig fließenden Zeit widerspricht, beendet die Vorstellung einer „absoluten Zeit“. Die Quantentheorie, die Max Planck (1858–1947) entwickelt, zwingt ferner dazu, einlinige Vorstellungen von Kausalität und Determinismus aufzugeben. Der Charakter der naturwissenschaftlichen Forschung und ihrer Ergebnisse gilt gegenüber früheren Konzeptionen noch einmal als verändert. Indem die Physik ins mikrokosmisch Kleine und in astronomische, makrokosmische Weiten vorstößt, erzielt sie Resultate, die komplex und methodisch hochtechnisiert gewonnen werden. Der „Umsturz im Weltbild der Physik“ des 20. Jahrhunderts zeigt „Natur“ nicht mehr so sehr als etwas, das „vorhanden“ ist und in der rechten oder falschen Weise empirisch „wahrgenommen“ werden kann, sondern, in Weiterführung und ungeheurer Steigerung einer Entwicklung, die beim Galileischen Fernrohr begann, als Funktionsbegriff hochkomplizierter und aufwendigster Erkenntnisapparate (z.B. von Teilchenbeschleunigern). „Komplexität und Selbstorganisation“ werden neue Paradigmata des Naturverständnisses.6

Zugleich entsteht hiermit der durch ältere Konzepte nicht mehr einholbare – wenn auch in Zusammenschau und Weltbild-Synthesen verschieden interpretierte – Inbegriff heutigen Weltwissens, an dem wir nicht vorbei können, wenn wir uns über unseren Ort in der Welt zu orientieren versuchen. All dies zu überschauen und im Kontext zu diskutieren, ist Gegenstand gegenwärtiger Naturphilosophie, die die Ergebnisse und Vorgehensweise der Naturwissenschaften systematisiert und deren Theorie darstellt, ohne den Kontakt zu ihren Ursprüngen aufzugeben.

Das Weltall des 20. Jahrhunderts insgesamt ist damit, wenn wir versuchen, uns die Dinge zurecht zu legen, nicht mehr, wie das der Antike, ein ewiger, räumlich begrenzter, kugelförmiger Kosmos, der in sich noch „Zentrum“ und „Heimat“ wäre. Das Weltall erscheint auch nicht mehr, wie dann im Mittelalter weiterentwickelt, als „Ordo“, d.h. als eine von einem welttranszendenten Schöpfer uns zur Heimstatt erschaffene und mit uns erhaltene Hierarchie. Und es ist drittens nun ebenfalls nicht mehr, wie im 19. Jahrhundert angenommen, ein in der Art einer Maschine zu denkendes, gänzlich determiniertes bzw. rational geordnetes Gesamtsystem. Es gibt, weder in geozentrischer, noch in heliozentrischer Version, eine „Mitte“, auf die als einen ausgezeichneten Ort bezogen wir Menschen leben. Das Sonnensystem liegt am Rand einer Galaxie unter sehr vielen anderen, die inselgleich das Weltall bevölkern und dieser unser Wohnort im All ist nach den Maßstäben moderner Kosmologie nicht nur von nicht besonderer Art, sondern sogar eher unbedeutend. Das Weltall ist auch nicht unveränderlich und ewig, sondern in einer dramatischen Entwicklung begriffen, entstanden aus einem „Urknall“, seit dem, wie es heißt, die Galaxien „auseinanderfliegen“. Möglicherweise „zieht“ sich, wie es heißt, das Universum ab einem gewissen Punkte wieder „zusammen“ und „explodiert“ von Neuem. Für seine Entstehung, so der berühmte („Pop“-)Physiker Stephen Hawking, sei kein Gott notwendig gewesen; für seine Erklärung bedarf es, heißt es jedenfalls bei ihm, auch keiner Philosophie. Das Entstehen des Alls aus dem Nichts sei physikalisch vorstellbar, das Universum erzeugt sich gleichsam selbst.7

In all dem steckt ganz offenkundig ein sozusagen interpretatives Moment, d.h. sobald ein „Weltbild“ formuliert wird, fließen auch Annahmen in die Darstellung ein, die durch strenge Wissenschaft wohl kaum mehr gedeckt sind. Es gibt auch Versuche, neueste Erkenntnisse etwa zum Universum mit religiösen Auffassungen in Einklang zu bringen. Vor allem aber drängt sich der Eindruck auf, dass all dies sich in Dimensionen abspielt, die wir auf unsere Menschengeschichte nicht mehr beziehen können – es wird unplausibel, dass derlei „für uns“ eingerichtet worden sei –, und so hat man auch in anthropologischen Bestimmungen Konsequenzen gezogen und im Menschen nicht mehr Maß und Zentrum der physikalischen Schöpfung, sondern in einem berühmt gewordenen und vielzitierten Bild einen „Zigeuner am Rande des Universums“ gesehen, „das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen“ (Jacques Monod). Es handelt sich um einen vorläufigen Endpunkt in einer Entwicklung, die mit der „kopernikanischen Revolution“ begonnen hat: um eine Abkehr von der Vorstellung eines „von jemandem“ eingerichteten sinnvollen Kosmos, für das Aufgehen jenes „Absolutismus der Wirklichkeit“, der angsterregenden Übermacht der Welt und der Grundlosigkeit eines stummen und unermesslichen Weltalls, wie sie Hans Blumenberg (1920–1996) so eindringlich beschrieben hat. Der Mensch, so stellt er fest, ist nicht „Adressat der kosmischen Veranstaltung“; sein Dasein vollzieht sich „unterhalb der Schwelle kosmischer Relevanzen“.8

Zugleich hat jedoch jener unbedeutende, um eine gleichfalls unbedeutende Sonne kreisende Gesteinsbrocken, der sich vor etwa viereinhalb bis fünf Milliarden Jahren gebildet hat, ausgehend von seinen Ozeanen eine Entwicklung hervorgebracht, an deren Ende eine Intelligenz steht, die eben dieses Szenario und diese Vorstellungen von der Welt, sich durch jene vergangenen Weltbilder hindurcharbeitend, vor Augen hat. Freilich stehen wir der Grausamkeit und Blindheit der Evolution9 generell wie auch in Sonderheit unserer eigenen als Menschen möglicherweise mit ähnlich geringen Möglichkeiten einer Sinndeutung gegenüber, wie der Frage nach dem Ursprung des Weltalls als der modernen wissenschaftlichen Version des metaphysischen Problems, warum überhaupt etwas existiert und nicht vielmehr nichts.10

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