Читать книгу Ayélé, Tochter im Schatten - Véronique Ahyi-Hoesle - Страница 12

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Achtzehn Monate nach meiner Ankunft zieht die Familie Perlin in ein Haus mit einem Hof für die Kinder, einem Gemüsegarten und Obstbäumen und drei neuen Pflegekindern, damit sie die Raten abzahlen können. Die Mehrarbeit für Mutter Denise verursacht Spannungen, aber dessen unbewusst und noch mit unsicheren Schritten entdecke ich meine neue Welt. Ich fühle mich zuhause und lasse keinen Unfug in meiner Reichweite aus.

Eines Tags, ich konzentriere mich gerade auf den Knauf des Backofens, der sich nicht drehen lassen will, weil ich die Feinheiten der Sicherung noch nicht begriffen habe, kommt Marie-Eleonore, begleitet von ihrer Freundin Martine. Wie gewohnt bringt sie mir ein zu großes und zu teures Kleid mit, das Mutter Denise die Augenbrauen hochziehen lässt, sobald sie ihr den Rücken kehrt. Ich nähere mich ihr widerwillig zur Begrüßung. Hinterlistig ziehe ich sie an ihren langen Zöpfen und verstecke mich im halb offenen Wandschrank des Nebenzimmers. Zum ersten Mal und zu Mutter Denises großem Erstaunen kündigt Marie-Eleonore an, dass sie zwei Wochen Urlaub mit mir verbringen will. Es wäre gut, meint sie, wenn Claudine einige Tage mit ihren Eltern fortführe.

Für die Reise verwandelt mich Mutter Denise in ein reizendes zivilisiertes kleines Mädchen. Sie zähmt meine Lockenmähne mit einem Satinband, und zieht mir für diese Gelegenheit ein zur Geburt geschenktes Kleid an und dazu weiße Baby-Stiefelchen. Sie schneidet mir die Nägel und putzt mir die Ohren. Ich staune über meine eigene Schönheit, und während ich auf dem Kunstledersofa sitzend die Ankunft meiner erhabenen Eltern erwarte, zupfe ich gewissenhaft die Schaumflocken, die aus den Kissen herausschauen. Plötzlich ziehen Geräusche vom Gang her meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich trippele zur Haustür. Verblüfft weiten sich meine Augen. Vor mir ein Schwarzer! Ein großer schwarzer Mann, der mir die Arme entgegenstreckt und mich beim Name ruft! Panik. Ich mache auf dem Absatz kehrt und flüchte mich in die Röcke von Mutter Denise. Mein Vater kommt näher. Hysterie. Er will mir die Haare streicheln. Ich drehe den Kopf weg und schreie. Durch mein Verhalten beschämt, ergreift er wortlos meine Sachen, geht schnell die Treppe hinunter und legt sie in den Kofferraum. Marie-Eleonore folgt ihm auf dem Fuß mit ihrer strampelnden Tochter in den Armen. Von weitem verabschiedet sie sich mit einem Kopfnicken von Mutter Denise und versucht, mich neben sich auf dem Rücksitz unterzubringen. Ein Kampf bricht los. Ich schlage und beiße wie ein wildes Tier. Entnervt verabreicht sie mir eine Ohrfeige, die meine Schreie verzehnfacht. Langsam und schweren Herzens schließt Mutter Denise die Haustür. Isabelle und Blandine, mucksmäuschenstill im Wohnzimmer, hören mein Schreien und fragen ihre Mutter, ob ich bald zurückkomme. „Ja“, antwortet sie ihnen, „sehr bald“. Mein Aufbruch in den Urlaub lässt sie nichts Gutes ahnen.

Meine Eltern haben ein Chalet am Fuß der Berge, gegenüber dem Montblanc gemietet. Jeden Morgen vor dem Frühstück geraten sie in Verzückung, wenn die Strahlen der Sonne die verschneiten Gipfel vergolden. Mich lässt diese Schönheit kalt. Ich will etwas essen. In einer Stunde ist der Montblanc noch genauso schön. Solange mein junger Magen nicht gesättigt ist, schreie ich mir die Lunge aus dem Hals. Dann aber, glücklich und zufrieden, kann der Tag beginnen.

Beide wissen nicht, wie sie mich nehmen müssen. Mein Vater malt mir afrikanische Landschaften mit Zebuherden auf Papier, die für mich nur graue Flecken sind. Mir wären die großen braunen Kühe lieber gewesen, die ich sehe, wenn die Perlin Kinder abends mit mir die Milch vom Bauernhof holen. Aus Langeweile spiele ich mit den Stiften, nage sie an und zerreiße die Blätter. Ich mag das Geräusch des Papiers, wenn ich es zu Schnipseln verarbeite. Nach einer halben Stunde und am Ende seiner Geduld, schickt er mich zu meiner Mutter. Schwupps, entreiße ich ihr das Buch. Sie seufzt und nimmt ihre Lektüre wieder auf. Ich krieche unter ihr Buch. Wenn Blicke töten könnten... Ich lächle und klettere auf ihren Schoß. Entnervt schließt sie ihr Buch und schlägt einen Spaziergang vor. Kaum unterwegs, falle ich auf Kieselsteine und lasse den Kinderwagen los, in dem ich mich weigere zu sitzen. Mein Vater rennt den Abhang hinunter hinterher, während meine Mutter meine Wunden inspiziert. Nach einer Woche sind sie so erschöpft, dass sie einvernehmlich beschließen, mich zu Mutter Denise zurückzubringen.

Kaum angekommen, stürze ich mich in Vater Eugènes Arme, der im Schatten des Kirschbaums den Progrès de Lyon liest. Ich küsse ihm ausgiebig und nass die Backe und werfe seine unvermeidliche Mütze auf den Boden, damit man seine schöne Glatze sieht. Isabelle und Blandine haben mein Lachen gehört, kommen angerannt und bemerken sofort meine verschrammten Knie. Missbilligend schauen sie zu meiner Mutter. Sie waren sich sicher, dass sie nicht richtig auf mich aufpassen würde. Und um mich vor dieser Rabenmutter in Sicherheit zu bringen, nehmen sie mich an der Hand und führen mich hinter das Haus zu den Hortensien, wo sie mir das weiße Kaninchen zeigen, das die Nachbarn ihnen geschenkt haben. Das ist natürlich viel spannender als der Montblanc!

Marie-Eleonore und Pierre-Epiphane bleiben etwa zwanzig Minuten, trinken eine Tasse Kaffee aus den unechten chinesischen Teetassen und erzählen vom Urlaub. Die Ringe unter ihren Augen und ihr abgerissenes Aussehen zeugen von dem, was sie durchgemacht haben. Vor ihrer Abfahrt suchen sie mich im Hof. Aber ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, mit dem Kaninchen Bekanntschaft zu schließen, als mich für diese Eltern zu interessieren, die ich eine Woche lang ertragen musste.

Sie gehen, glücklich und erleichtert, endlich wieder allein zu sein. Noch weiß ich nicht, dass ich meinen Vater erst viele Jahre später wiedersehen werde.

Ayélé, Tochter im Schatten

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