Читать книгу Ayélé, Tochter im Schatten - Véronique Ahyi-Hoesle - Страница 7
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ОглавлениеSeine älteste Tochter, Marie-Eleonore, ist zweifellos die Begabteste der Familie. Wie Adele liebt sie Bücher. Wenn die Mutter ihr Werke vorschlägt, die Auguste verboten hat, liest sie sie abends mit der Taschenlampe unter der Bettdecke. Die Intelligenz ihrer Tochter macht Adele glücklich. Sie fühlt es: sie wird Erfolg haben. Sie dressiert sie wie ein gelehriges Tier. Keine Auszeichnung soll ihr entgehen. Als sie ihr Abitur mit Schwerpunkt Philosophie in der Tasche hat, ist ihre weitere Laufbahn schon vorgeplant. Marie-Eleonore tauscht Aristoteles gegen Hippokrates: sie studiert Medizin. Adele hat entschieden.
Dem elterlichen Joch entsprungen, genießt Marie-Eleonore ihr Studentenleben. Sie wohnt in einem Studio in der Nähe der Grange-Blanche in Lyon. Sie entdeckt das Kino und das Theater. Sie beklatscht Gérard Philippe in Mariannes Launen von Alfred de Musset am Théâtre des Célestins, und sie verschlingt die Werke von Sartre und von Simone de Beauvoir. Die Welt bewegt sich. Der Algerienkrieg ist in vollem Gange, die Länder Afrikas fordern ihre Unabhängigkeit, und die ersten schwarzen Studenten setzen ihren Fuß auf französischen Boden.
Die Wochenenden verbringt Marie-Eleonore bei ihren Eltern. Die Diskussionen mit ihrem Vater verlaufen lebhaft. Besonders die politischen. Auguste hasst nicht nur die Franzosen, sondern auch alle Ausländer. Die Deutschen sowieso, aber auch die Engländer, weil sie General de Gaulle erlaubt haben, seinen teuflischen Aufruf an die Franzosen von England aus zu senden, die ungebildeten Kaugummi kauenden Amerikaner und die Spanier und Portugiesen, die den Franzosen die Arbeit wegnehmen. Aber vor allem und überhaupt die Neger, diese auf Palmen hockenden Bananenfresser, die meinen, einen Anspruch auf Unabhängigkeit zu haben! Und dass er diesen Dreiviertelaffen zuhört, ist der Gipfel der Ketzerei dieses verfluchten Generals.
Nach diesen sonntäglichen Debatten, die unweigerlich zum Monolog werden, zieht sich Auguste zur Siesta zurück, die für den Geschmack seiner Frau immer zu kurz ausfällt. Marie-Eleonore und sie profitieren von der Ruhe und machen es sich in ihrem geliebten kleinen Salon gemütlich. Die alten Möbel und die große Bibliothek neben dem Kamin schaffen eine schöne und vertrauliche Atmosphäre. Adele stickt und fragt, was das Studium und die Liebe machen. Sie findet ihre Tochter mit ihren langen blonden, geflochtenen Haaren und ihren strahlend blauen Augen schön. Der Nachmittag verläuft in trauter Zweisamkeit, und am Abend verlässt Marie-Eleonore ihre Eltern, begleitet vom glückseligen Lächeln ihrer Mutter und der nachdrücklichen Warnungen ihres Vaters vor all diesen Ausländern, die nur darauf lauern, den Ruf von Mädchen aus gutem Hause zu ruinieren.
Marie-Eleonore hat viele Freunde, und eines Tages begegnet sie dem Sohn eines Marquis, Pierre-Henri de Vermont. Er will Pilot werden. Er liebt sie. Sie ihn nicht. Aber Adele. Ein „Aahdliger in der Faahmilje“, das ist unverhofft. Eine solche Verbindung würde ihr endlich Zugang zu einem Milieu verschaffen, das ihrer würdig ist. Die gegenseitige Vorstellung der Familien erfolgt auf Schloss Vermont. Adele Durand ist „ent-zückkt“. Sie kann ihre guten Manieren zeigen und mit zugespitztem Mund „Litteraatuhr“ reden und sich vor allem über ihr Lieblingsthema auslassen, die Qualitäten ihrer Tochter. „Sehen Sie, Maarie-Elehonore ist schoohn im sechhsten Semester der Medizin; sie hat eine gläähnzende Zukunft vor sich“. Adele verkauft ihre Tochter so gut, dass die Verlobung noch vor der Abreise Pierre-Henris in die Vereinigten Staaten gefeiert wird. Er steckt ihr einen Ring an den Finger, der seiner väterlichen Großmutter gehört hat. Ein Diamant, der die Studentinnen im Hörsaal vor Neid erblassen lässt.