Читать книгу Ayélé, Tochter im Schatten - Véronique Ahyi-Hoesle - Страница 14
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ОглавлениеMarie-Eleonore beginnt ihre Arztkarriere in einem Krankenhaus von Chambery. Einmal im Vierteljahr kommt sie nach Quincieux, fragt nach meiner Gesundheit und meinen Zeugnissen. Bevor sie sich zum Gehen wendet, holt sie ein Scheckheft aus ihrer Handtasche, berechnet die drei Monate Unterhalt und addiert die sorgsam in einem Heft aufgeführten extra Ausgaben und überreicht den Scheck Mutter Denise, die lächelnd den Betrag überprüft. Ich hege ihr gegenüber keine Feindseligkeit mehr. Ich sehe diese Dame gerne, die mir bei jedem Besuch ein Geschenk mitbringt.
Die Sommerferien verbringe ich mit der Familie Perlin bei Denises Mutter in Juliénas, im Beaujolais. Sie wohnt dort in einem bescheidenen Haus ohne warmes Wasser oder Bad. Im Wohnzimmer, das gleichzeitig auch Küche und Werkstatt für ihre Flickschneiderei ist, stehen ein Tisch, der so wackelt wie ihre Zähne, eine Singer Handnähmaschine, sechs verschiedene Stühle und ein Herd. In der Ecke mit dem Fenster, das auf den Abfallhaufen des Restaurants Zur Rose sieht, steht ein alter abgewetzter Sessel und daneben eine Kommode, die ihre kümmerliche Habe birgt. Die Erwachsenen schlagen die Zeit tot und trinken den lieben Tag lang Kaffee, und die Kinder erfinden Spiele mit dem, was sie in ihrer Reichweite finden, weil weder Spielzeug noch Geld dafür da ist. Die Hortensien werden systematisch geköpft und spielen Blumenkohl auf den imaginären Gemüseständen, und Melonenkerne werden gewaschen und getrocknet zu Halsketten aufgefädelt. Nach einem solchen Tag, der keine Langeweile kennt, schlafen Blandine, Isabelle und ich im Schlafzimmer der Großmutter, alle drei im selben Bett.
Zurück aus den Ferien, findet meine Pflegefamilie einen Brief von Pierre-Epiphane vor, in dem er ankündigt, in sein Land zurückzukehren, da er gerade seine Studien beendet habe. Und er wünsche, seine Tochter mitzunehmen, die bei seiner Großmutter am Hof von Abomey aufwachsen soll. Marie-Eleonore, von Denise Perlin alarmiert, widersetzt sich dem vehement. Ihre Tochter wird nicht nach Afrika gehen. Diese Aussicht, verstärkt durch Fetzen von Unterhaltungen, die ich hier und da aufschnappe, jagt mir dennoch Angst ein.
Als ich Monate später aus der Schule komme, sitzt ein afrikanisches Paar mit einem Baby auf dem Schoß im Wohnzimmer. Mein sechster Sinn lässt sofort alle Alarmglocken schrillen, und ich mache auf dem Absatz kehrt, um mich zu verstecken. Zu spät, Mutter Denises schwerer Arm fällt auf mich hernieder. Ich zögere, ich will nicht guten Tag sagen. Ich fühle die drohende Masse von Mutter Denise. Widerwillig gehe ich hin. Der Mann fasst mich an der Hüfte und hält mich fest. Auweia! Es steht schlecht um mich. Einsilbig antworte ich auf seine Fragen und konzentriere mich auf das Baby auf den Knien der Frau. Es hat einen großen Kopf und große Augen. Mutter Denise findet es niedlich und doziert über die Frühreife schwarzer Kinder. Wo hat sie nur diesen Unsinn her? Vor mir hat sie doch noch nie welche gesehen. Ich profitiere von der Aufmerksamkeit, die sich auf das Baby richtet, mache mich los und flüchte zu Mireille, meiner Nachbarin, die neun, also drei Jahre älter ist als ich. Ich erzähle ihr von meinen Befürchtungen, und wir rennen zwischen die hohen Gräser ihres Gartens. Meine Angst vor Vipern ist verpufft, denn nichts ist schlimmer, als von diesen Fremden nach Togo entführt zu werden, wo sie mich ganz sicher den Krokodilen zum Fraß vorwerfen würden.
Denise Perlin ruft mich. Wir halten den Atem an. Wir verkriechen uns im Gras, bis es dunkel wird und die Besucher endlich gehen. Kaum erscheine ich wieder in der Küche, packt mich Mutter Denise beim Schopf. Sie verpasst mir eine denkwürdige Tracht Prügel und entzieht mir das Essen. Warum hat sie mir nicht gesagt, dass diese Leute von meinem Vater geschickt waren, der nur wissen will, wie es mir geht, und nicht, um mich zu entführen? Mit leerem Magen und das Herz voll Bitterkeit gehe ich zu Bett.