Читать книгу Ayélé, Tochter im Schatten - Véronique Ahyi-Hoesle - Страница 8
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ОглавлениеMarie-Eleonore isst täglich mit ein paar Studenten der politischen Wissenschaften aus Dahomey in der Mensa der Hochschule zu Mittag. Sie diskutieren leidenschaftlich über das ihr unbekannte, aufblühende Afrika. Der Kreis afrikanischer Freunde erweitert sich nach und nach. Eines Tages taucht plötzlich Pierre-Epiphane Akwuwi in der Gruppe auf. Er sieht gut aus – so scheint es – groß, mit muskulösen Beinen, die selbst seine Tennispartner verunsichern. Er kam vor zwei Jahren aus Togo nach einem für alle Intellektuellen dieser Zeit obligatorischen Zwischenaufenthalt an der der kolonialen Elitehochschule William Ponty im Senegal. Er studiert an der Hochschule der schönen Künste von Lyon und hat soeben den Preis für das beste Plakat der Stadt bekommen. Die französischen Studentinnen streiten sich um ihn. Er weiß es. Und er genießt es. Als Sohn einer dahomeischen Prinzessin und eines reichen togolesischen Geschäftsmanns ist er frei von den üblichen, lästigen Geldsorgen der Studenten.
Die Ermahnungen ihres Vaters und die Briefe ihres fernen Marquis können nicht verhindern, dass Marie-Eleonore diesen neuen togolesischen Freund sehr attraktiv findet. Die Gewandtheit, mit der er über Kunst redet und seine ungezwungene Gelassenheit, ziehen sie in seinen Bann. Wie verschieden ist er doch von dem Bild, dass ihr Vater von den Afrikanern zeichnet! Sie bewundert seine Hände und träumt davon, wie durch ihre Liebkosungen dieses Verlangen gestillt wird, das jede ihrer Begegnungen neu in ihr weckt. Um sich näher kennenzulernen, beschließen sie, zusammen zu lernen. Jeden Nachmittag begibt sich Marie-Eleonore zu ihm, ihre Medizinskripte unter dem Arm. Dann auch morgens, dann nachts, damit sie ihr Pensum schaffen, das sich neun Monate später durch meine Geburt konkretisiert.
Pierre-Epiphanes Zukunft scheint durch die Ankunft eines Kindes in keiner Weise beeinträchtigt. Sein Vater, obwohl streng, ist Zeit seines Lebens zwischen seiner Frau und seinen Geliebten hin und her gependelt, hat mit ihnen allen Kinder gezeugt und sie alle anerkannt. Den Traditionen verbunden, sieht sich Pierre-Epiphane durchaus in der Lage, dem väterlichen Beispiel zu folgen. Er will Marie-Eleonore heiraten, da er sie liebt, und will nach dem Studium nach Togo zurückkehren und seine junge europäische Frau und ihr Kind seiner Familie präsentieren. Pierre-Epiphanes schlichte Sicht der Dinge bringt Marie-Eleonore zur Verzweiflung. Sie weist seinen Heiratsantrag entschieden zurück. Auch wenn sie sich unzählige Male in den Armen ihres afrikanischen Liebhabers verlor, bleibt er doch für ihre Familie nur ein Eingeborener, ein Dreiviertelaffe aus dem Urwald. Allein die Vorstellung, mit ihm die Wohnung ihrer Eltern zu betreten, löst bei ihr Krämpfe aus. Schlaflose Nächte folgen. Sie sieht schlecht aus. Sie ist im dritten Monat und beobachtet ängstlich ihren Bauch. Wie lange wird sie noch ihre taillierten Kleider in vichy-rosa tragen können, ohne ihren Umstand zu verraten?
Mit den Rundungen ihres Bauchs verdüstert sich ihre Zukunft. Ihr bleiben nur noch Flucht und Lüge. Sie muss dem scharfen Blick ihrer Mutter entgehen und täuscht ein Praktikum am Krankenhaus Edouard Herriot vor. So vergrößern sich die Abstände zwischen den Besuchen bei ihren Eltern. Adele ist beunruhigt und besteht darauf, dass sie kommt. Am Wochenende steigt sie mit bangem Herzen in den blauen Regionalbus nach Villefranche-sur-Saône. Ein breiter Gürtel auf dem blauen Rock flacht ihren Bauch ab. »Warum quetscht sie mich heute so ein?«
Aus dem Fenster gelehnt, hält Adele Ausschau nach ihrem Liebling. Der Bus kommt um Viertel vor zwölf. Sie muss gleich da sein. Auguste, den der Hunger noch nicht quält, hat wie immer, wenn er nicht gerade redet, die Nase in einem Buch. Jean-Philippe, der jüngste Sohn und das schwarze Schaf der Familie, fragt, wo sie denn bleibt. Er ist schon von allen Schulen Villefranches geflogen und fühlt sich nur wohl, wenn er krumme Dinger dreht. Nachdem Auguste Jahre damit verbracht hat seinen Sprösslingen mit größter Strenge die Grundsätze von Anstand und Moral einzuschärfen, erwägt er nun ernsthaft diesen Tunichtgut in die Armee zu stecken. Charles, der Älteste, der sich nach Algerien abgesetzt hat, und die Verlobung von Claire, der Jüngsten, mit einem Hilfsarbeiter haben schon genug Kratzer am Image der Familie hinterlassen.
Marie-Eleonore geht langsam. Sie hat wahnsinnige Angst. Ihr Herz schlägt bis zum Hals. Sie biegt um die Ecke des letzten Häuserblocks. Ihre Schritte werden schwer. Die bevorstehende Konfrontation lähmt sie. Ihr Magen krampft. Sie sieht ihre Mutter am Fenster, die ihr zuwinkt. Eine unsichtbare Schnur schnürt ihr die Kehle zu. Noch hundert Meter. Geschlagen betritt sie das Gebäude und steigt zaghaft in den dritten Stock. Die Wohnungstür steht schon offen. Ihre Mutter steht im Gang, streckt ihr lächelnd die Arme entgegen und drückt sie an sich. Dann schaut sie ihr ins Gesicht und sagt besorgt: „Wie schlecht du aussiehst!“ Auguste kommt dazu, und nachdem er seine Tochter auf die Wange geküsst hat, bittet er sofort zu Tisch. Man kann die Uhr nach seinem Magen stellen. Marie-Eleonore legt ihre Tasche im Zimmer der Mädchen ab. Ein tiefer Seufzer entringt sich ihrer Brust. Heute muss sie es sagen.
Auguste isst mit viel Hingabe, kritisiert den Braten und kommentiert die Außenpolitik Frankreichs. Niemand hört zu. Er legt das Schweigen als allgemeine Zustimmung aus. Marie-Eleonore stochert zerstreut in den Pilzen am Kalbsbraten, den ihre Mutter ihr zuliebe zubereitet hat. Nach der Mahlzeit zieht sich Auguste nörgelnd zurück. Er hätte gerne weiter doziert, aber die Frauen verstehen ja nichts von Politik. Jean-Philippe verschlingt sein Essen halb auf dem Teller liegend und verzieht sich dann eilig zu seiner Bande.
Um die Stunde der Wahrheit hinaus zu schieben, deckt Marie-Eleonore den Tisch ab und macht den Abwasch; dann aber folgt sie schicksalsergeben ihrer Mutter in den Salon. Die Unterhaltung dreht sich um ihr Krankenhauspraktikum. Ihre Mutter will jede kleinste Einzelheit wissen. Adele lebt auf. Wie ist sie doch stolz auf ihre Tochter, die künftige Ärztin, Frau eines Piloten und Schwiegertochter des Marquis von Vermont! Sie strahlt vor Glück.
„Ah, mein Liebling, ich hab’s doch immer gewusst, dass du mein ganzer Stolz sein würdest!“ Und dann nimmt sie ihre Hände in die ihren und fragt sie zärtlich: „Was besorgt dich so? Du hast nichts gegessen. Du weißt, dass du mir alles anvertrauen kannst.“
Marie-Eleonore stottert einige Wörter und schluckt mit trockenem Mund. Adele insistiert und drückt die Hände ihrer Tochter fester.
„Lass sehen, was da nicht in Ordnung ist; sag, was ist denn so schlimm?“
Marie-Eleonore antwortet immer noch nicht. Sie dreht den Kopf zur Tür; will verschwinden. Dann kommt sie wieder zu Atem.
„Mama, ich, ich — ich bin schwanger“, lässt sie schließlich fallen.
Wie betäubt schaut ihre Mutter sie an und lässt sofort ihre Hände los. Hat sie sich verhört?
„Moment mal, du bist was?“
„Ich bin schwanger, Mama.“
Ihre Mutter starrt sie ungläubig an.
„Aber ich dachte, Pierre-Henri ist in den Vereinigten Staaten? Er ist also zurück und du hast mir nichts gesagt?“
Adele begreift nicht.
„Nein er ist nicht zurück!“
Auf dem Gesicht ihrer Mutter geht Überraschung in Verblüffung über. Sie verliert die Geduld.
„Würdest du dich bitte klarer ausdrücken?“ Adele richtet sich auf, durchbohrt sie mit Blicken, alle Zärtlichkeit ist verschwundenen.
„Ich warte!“, fährt sie sie an.
Marie-Eleonore kommt wieder zu Atem. Sie hat sie noch nie so gesehen. Ihre Stimme wird heiser.
„Von einem Freund, einem Studenten.“
„Ach so! Das ist ein geringeres Übel. Und was studiert er? Medizin, Physik?“
„Nein Mama, er ist Kunststudent. Er ist Künstler.“
„Du bist von einem Künstler schwanger?“, wiederholt sie, indem sie jede Silbe betont. Ihr ganzes Leben beginnt zu schwanken. Kein Besuch bei den Vermont mehr, kein Medizinstudium. Wie konnte ihre Lieblingstochter ihre ganze Hoffnung so zunichtemachen? Ist denn ihr Leben nur Fluch und Mittelmäßigkeit? Nein, sie will verstehen und fasst sich.
„Und was machen seine Eltern? Sie sind doch hoffentlich nicht unter unserem Stand?“
„Ich weiß nicht, Mama. Ich kenne seine Eltern nicht.“
Endlose Sekunden vergehen, dann wieder die Mutter.
„Und was wirst du tun? Wirst du ihn heiraten? Du weißt, dass eine ledige Mutter in unserer Familie keinen Platz hat!“
„Nein, Mama, ich werde ihn nicht heiraten.“
Adele Durands Fragen werden immer schärfer. „Nein, und warum nicht? Sag’ mir nicht, dass ein Künstler unserer Familie nicht würdig sei. Wann wirst du ihn uns vorstellen?“
„Mama, ich kann ihn euch nicht vorstellen.“
Und murmelnd setzt sie hinzu:
„Er ist schwarz!“
Ihre Mutter wird blass. Sie ist am Rand einer Ohnmacht. Marie-Eleonore schaut sie ängstlich an.
„Er ist was?“ fragt sie und fixiert sie mit den Augen. „Würdest du das bitte wiederholen? Was sagst Du da? Ein Schwarzer?“ Sie hält einen Moment lang inne. „Ein Neger! Seit wann studieren die Neger? Die können doch nicht einmal lesen und schreiben!“ Sie schüttelt den Kopf. Sie kann es nicht fassen. Es zieht ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie wiederholt laut, wie um sich selbst zu überzeugen: „Meine Tochter, von einem Neger schwanger!“ Der Ekel steht ihr im Gesicht. „Bist du ganz sicher, dass er schwarz ist? Richtig schwarz? Kohlschwarz?“
Marie-Eleonore kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ja Mama, er ist sehr schwarz.“
Adele schüttelt den Kopf und steht schließlich auf. Rot vor Zorn und Schande, geht sie um den Tisch herum. Man stelle sich den Skandal vor! Die Gedanken jagen sich in ihrem Kopf. Da muss sofort gehandelt werden. „Du bist also schwanger. Und in welchem Monat?“
„Im vierten, Mama.“
„Was, im vierten? Ich denke du studierst Medizin und weißt, wie man Kinder macht! Hättest du das nicht verhindern können?“
„Ja Mama, ich weiß, und wenn ich gekonnt hätte, hätte ich abgetrieben. Beruhige dich. Ich finde eine Lösung. Ich gebe mein Studium deshalb nicht auf, ich verspreche es Dir.“
Dieser Satz besänftigt ein wenig den Zorn ihrer Mutter, die aber dennoch sofort die Dinge in die Hand nimmt. Sie überlegt blitzschnell. Zuerst den Anschein wahren. Einen kleinen Neger seinem Schicksal zu überlassen ist kein Verbrechen; in Afrika sterben alle Tage genug davon, aber sich den Kommentaren der Nachbarn und Freunde auszusetzen, wäre glatter sozialer Selbstmord. Die Lösung erscheint ihr auf einmal sonnenklar: Sobald die Schwangerschaft zu sichtbar wird, wird Marie-Eleonore in Lyon bleiben, wird wie vorgesehen entbinden und ihr Kind gleich nach der Geburt zur Adoption freigeben. Sie wird nicht die Erste sein, die das tut!
Ihr Ton war ohne Widerrede.
Marie-Eleonores Machtlosigkeit empört mich. Ich trete sie, damit sie reagiert. Sie legt die Hand auf ihren breiten Gürtel, damit ich mich beruhige und ihre Kapitulation akzeptiere. Ich denke nicht daran und trete doppelt stark. »He, rühr’ dich! Du willst mich aufgeben, weil ich ein paar Jahre zu früh geboren werde? Glaubst du denn, dass dir dein Marquis auch ein so schönes Baby machen würde? Ich bin doch ein Produkt der Liebe. Ich werde dein Honigkuchen sein; du wirst mich zum Anbeißen finden.« Ich trete meine Mutter mit der Energie der Verzweiflung. Besiegt fleht sie darum, dass ich nach der Geburt in eine Pflegefamilie gegeben werde. Meine Großmutter willigt ein. Sie kann ja immer noch Druck machen, damit die Trennung endgültig wird. Mein Schicksal ist besiegelt, die Ehre der Familie ist gerettet. Der Ton ist wieder normal geworden. Ihre Verlobung mit Pierre-Henri von Vermont wird Marie-Eleonore wegen zu großer Entfernung auflösen.
Soeben taucht Auguste Durand aus seiner Siesta auf. Er ahnt nichts von dem Tsunami, der beinahe seine Familie vernichtet hätte. Es ist vier Uhr. Er fordert eine Scheibe vom englischen Kuchen und eine Tasse Tee. Er schaltet das große Radio für die Nachrichten ein. Der Sprecher eröffnet mit den zunehmenden Unabhängigkeitsbewegungen der afrikanischen Kolonien. Adele hört nicht hin. Sie freut sich über ihre Entscheidung. Marie-Eleonore hält ihre Tränen zurück. Sie will die Liebe ihrer Mutter zurückerobern. Sie wird Professor für Medizin und Direktorin eines großen Forschungslaboratoriums werden.