Читать книгу Ayélé, Tochter im Schatten - Véronique Ahyi-Hoesle - Страница 9
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ОглавлениеMit Ende Oktober stellt Marie-Eleonore alle Besuche bei ihren Eltern ein. Wie verabredet erklärt ihre Mutter ihrem Mann, dass ihre Tochter Nachtwachen macht und ihre Prüfungen vorbereitet. Trotz den Protesten ihrer Mutter trifft sich Marie-Eleonore weiterhin mit Pierre-Epiphane. Er macht ihr keine weiteren Heiratsanträge, und beide bereiten gemeinsam meine Geburt vor. Das heißt, sie klappern alle Sozialstationen und Pflegefamilien ab. Aber alle Besuche mit meinem Vater enden mit einer Ablehnung. Man mag die Schwarzen nicht, außer denen, die ihr Leben für die Ehre der ‚Grande Nation‘ gelassen haben und tausende Kilometer von ihrem Zuhause entfernt, auf dem Ehrenfriedhof Tata Sénégalais bei Chasselay begraben sind. Mit viel Ausdauer finden sie schließlich doch noch eine Pflegefamilie für mich in Saint-Germain-au-Mont-d’Or, einem Arbeitervorort von Lyon.
Marie-Eleonore ist inzwischen im siebten Monat und verbringt Weihnachten zum ersten Mal nicht mit ihren Eltern. Auguste bedauert ihr Fernbleiben, weil er zum Jahresende gerne seine ganze Familie um sich versammelt sieht. Listenreich verspricht ihm Adele einen Besuch, wenn die Prüfungen vorbei sind. Das Geheimnis muss gewahrt werden. Und es wird gewahrt.
Auf dass ihr Gott ihre nicht immer einwandfrei katholische Einstellung vergebe, begibt sich Adele jeden Sonntag zur Kirche, angetan mit Handschuhen, Hut, Messbuch und ihrer Miene der Untadeligkeit. An den Abenden näht und strickt sie für die afrikanischen Waisen. Die Fotos zerlumpter schwarzer Kinder, die die Missionare ihr nach der Rückkehr aus dem Tschad gezeigt haben, haben ihr Mitleid erregt. Himmel, sind sie süß mit ihren großen traurigen Augen und ihren laufenden Nasen. Ihre Enkelin könnte auch süß sein, sogar mit perfekt geputzter Nase, wie es sich für Kinder aus Familien gehört, wo es eine Zuckerzange gibt und man den Tee durch ein silbernes Teesieb gießt.
Marie-Eleonore kann ihre heimliche Schwangerschaft kaum ertragen. Sie räuchert mich, sie hungert mich aus und haut mich auf die Pobacken. Am berechneten Tag der Entbindung klammere ich mich mit allen Kräften an. So leicht soll sie mich nicht loswerden. Zehn Tage später leiten die Ärzte die Entbindung ein. Ich habe mein letztes Wort noch nicht gesprochen. Die Nabelschnur um den Hals kommt nicht in Frage, ich will mich ja nicht erwürgen; also wähle ich eine hübsche Querlage. Ein Kaiserschnitt wird nötig. Bestens! Die Narbe wird sie täglich an ihre Feigheit erinnern.
Bei meiner Geburt gibt mir Pierre-Epiphane den Namen Claudine in Erinnerung an seine verstorbene Schwester und Ayélé als seiner Erstgeborenen. Nach einer Woche verlässt Marie-Eleonore das Krankenhaus mit einem kleinen mageren Kätzchen im Korb. Am selben Abend noch ruft Adele ihre Tochter an.
„Du bist es also los?“ fragt sie schroff.
„Ja, ich habe sie gerade bei ihrer Pflegefamilie abgegeben. Mama, es ist ein kleines Mädchen. Sie heißt Claudine.“
Meine Großmutter nimmt es nicht zur Kenntnis und legt auf. Alles ist erledigt. Marie-Eleonore kann in ihre Familie zurückkehren.