Читать книгу Ayélé, Tochter im Schatten - Véronique Ahyi-Hoesle - Страница 6

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Adele Morin, meine Großmutter, einzige Tochter einer bekannten Modistin aus Chalons-sur-Saône und eines Unternehmers und notorischen Spielers, nährt eine Leidenschaft: die Forschung. Und sie hat einen Traum: sie will Marie Sklodowska übertreffen. Mit achtzehn Jahren sieht sie sich bereits als Leiterin eines gigantischen Laboratoriums. Natürlich nicht von so einem ordinären Kartoffelschuppen, in dem Radium und Polonium entdeckt wurden, nein, als Chefin eines richtigen Forschungslabors, schimmernd und keimfrei sogar von außen, denn ein Ausnahmewesen wie sie kann sich nur in der Maßlosigkeit entwickeln. Sie würde Universitätsprofessorin, gar Ordinarius, und selbstredend dreifache Nobelpreisträgerin werden. Ihr Name wird mit den größten wissenschaftlichen Entdeckungen der Welt verbunden sein, und Generationen von Studenten werden an Elite-Universitäten studieren, die nach ihr benannt sind. Dieser Vorsehung sicher, liest Adele in den Ferien nur noch wissenschaftliche Werke und kann den Beginn ihres ersten Semesters kaum erwarten. Ihr Abitur mit Auszeichnung war nur die erste Etappe ihres außergewöhnlichen Werdegangs.

Versunken in ihre Bücher und ihre glorreiche Zukunft, merkt sie nicht, wie sich die öden Streitigkeiten ihrer Eltern häufen. Während sie ganz ihrem Universum hingegeben ist, von Formeln bevölkert, die sie wie Popcorn verschlingt, häufen sich die Spielschulden ihres Vaters immer mehr. Der Verkauf der von der Mutter gefertigten Hüte reicht nicht mehr aus sie abzulösen. Tausend Hypotheken führen zum Bankrott und zur Auflösung der Firma. Das Haus wird beschlagnahmt und alles, außer dem Klavier und den Büchern, kommt unter den Hammer. Ruiniert zieht die Familie in eine bescheidene Wohnung in der Rue des Remparts, und damit ihnen die Tochter nicht länger auf der Tasche liegt, muss sie so schnell wie möglich unter die Haube. Zutiefst enttäuscht muss Adele auf die Universität verzichten. Eine lebenslange, tiefe Frustration entsteht. Erstickt von Hass gegen ihre, wie sie meint, weniger begabten Mitschüler, die nun in den großen Städten studieren, und einen grenzenlosen Groll gegen ihre Eltern hegend, zieht sie sich zu Chopin und Baudelaire zurück. Aber weder Musik noch Dichtung lindern ihren Schmerz. Die bisher unbekannte Armut und die Leere, die ihr zum Alltag geworden sind, führen sie lustlos und gleichgültig in die Arme Augustes, eines jungen graduierten Ingenieurs der Technischen Hochschule von Cluny. Gleich nach der Hochzeit zieht Adele zu ihrem Mann, schenkt ihm einen ersten Sohn, Charles, und zwei Jahre später ihre erste Tochter, Marie-Eleonore.

Das junge Paar lebt ohne Leidenschaft und Freude zusammen. Auguste Durand ist früh verwaist, und unter dem Schutz und der Bevormundung seiner älteren Schwester aufgewachsen, die er als Morgengabe mitbringt. Er gefällt sich als junger Hahn im Korb, lässt nicht mit sich diskutieren und duldet keinen Widerspruch. In ihrer an Hörigkeit grenzenden Hingabe verteidigt seine Schwester den Despoten, und schleudert vorwurfsvolle Blicke zu Adele, kaum dass sie in deren geblähten Nasenflügeln oder einem nur leichten Zittern ihrer Lippen Anzeichen eines schlecht unterdrückten Aufstands zu entdecken meint. Eine Schwägerin ohne Erbe, die eine auch noch so geringe Missbilligung zu zeigen wagt, muss auf der Stelle in ihre Schranken verwiesen werden. Die Minuten, die Stunden, Tage und Jahre vergehen in Verdrossenheit. Trotz des fernen Grollens der Hitlerschen Stiefel bringt Adele als pflichtbewusste Ehefrau zwei weitere Kinder zur Welt. Der Krieg bricht aus. Auguste wird Hauptmann der Reserve. Als überzeugter Anhänger Pétains verfolgt er die Abdankung der dritten französischen Republik und die Gründung der Vichy-Regierung mit Genugtuung. Der Aufruf General de Gaulles und die Befreiung Frankreichs erscheinen ihm als Hochverrat. Er schreit seine Unzufriedenheit heraus, gilt als Kollaborateur, und wäre die Familie nicht bei Nacht und Nebel nach Lyon geflohen, wäre er am nächsten Morgen abgeholt und an die Wand gestellt worden.

Ihr überstürzter Umzug in eine spartanisch eingerichtete Dreizimmerwohnung und Augustes folgende Arbeitslosigkeit sind Ursache fortwährender Spannungen. Seine politische Vergangenheit ist ihm gefolgt, und niemand will ihn mehr einstellen. Adele profitiert zum ersten Mal von ihrem Abitur und arbeitet als Sekretärin in einer Versicherungsgesellschaft. Sie ist zwar nicht Forscherin, aber wenigstens kann sie tagsüber dem Nörgeln ihrer Schwägerin und ihres Mannes entfliehen, der sie mit seinem Jammern über seine Gefangenschaft den letzten Nerv kostet. Abends lässt sie ihn seinen Unmut abladen, zuckt mit den Schultern, macht sich an ihren Haushalt und staucht mit Genugtuung die zusammen, von der sie immer so abschätzig behandelt wurde.

Aber Gott hat Mitleid mit den vier Kindern, die unter einem Feldwebel heranwachsen: Auguste wird von einer Chemiefabrik im nahen Villefranche-sur-Saône als leitender Angestellter eingestellt. Die Familie kann in eine größere Wohnung ziehen, in der die Mädchen und Jungen jeweils ein eigenes Zimmer bekommen. Auguste selbst findet seinen Status als Mann wieder und damit natürlich auch neue Gründe zum Nörgeln. Trauer erfüllt ihn, als seine geliebte Schwester allzu früh durch die Schwindsucht abberufen wird.

Ayélé, Tochter im Schatten

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