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Die Freie Schulgemeinde

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1911

Wenn ich hier im Rahmen einer Zeitschrift eine so bedeutende Gründung wie die Freie Schulgemeinde Wickersdorf (bei Saalfeld in Thüringen) zu charakterisieren suche, so ist zweierlei vorauszuschicken. Im Bestreben, den theoretischen, ideellen Gehalt der Schule darzustellen, muß ich auf eine Schilderung des täglichen, lebendigen Schullebens, das ja an sich durchaus wichtig ist, um den vollkommenen Eindruck einer Schule zu erwecken, verzichten. Ebensowenig kann ich im Bestreben, das Positive der Schulidee zu betonen, die Folgerungen ziehen, zu denen ein Vergleich der Wickersdorfer Anschauung mit den in der Familien- und Staatsschulerziehung verkörperten Prinzipien herausfordert. Für das erste verweise ich auf die Wickersdorfer Jahresberichte, für das zweite auf das zweite Jahrbuch der Freien Schulgemeinde.

Die F. S. G. ist nicht hervorgegangen aus dem Bedürfnis einer partiellen Reform; im Mittelpunkte steht nicht: »Weniger Griechisch – mehr Sport«, oder: »Keine Prügelstrafe, sondern ein Verhältnis gegenseitiger Achtung zwischen Lehrern und Schülern«. Wenn auch viele Forderungen der modernen Pädagogik in ihrem Programm enthalten sind, wenn auch vor allem ein freier, nicht durch dienstliche Autorität geregelter Verkehr zwischen Lehrer und Schüler zu den selbstverständlichen Voraussetzungen gehört, das Wesentliche der Gründung liegt überhaupt nicht auf engstem pädagogischen Gebiet, ein philosophischer, metaphysischer Gedanke ist ihr Mittelpunkt, ein Gedanke allerdings, der „unabhängig ist von der kosmologischen Metaphysik irgendwelcher Parteien”1232.

Dieser Gedankengang ist, kurz ausgeführt, folgender: „Auf dem Weg zu ihrem Ziele gebiert sich die Menschheit beständig einen Feind: ihre junge Generation, ihre Kinder, die Verkörperung ihres Trieblebens, ihres Individualwillens, den eigentlich tierischen Teil ihres Bestandes, ihre sich ihr beständig erneuernde Vergangenheit. Keine wichtigere Aufgabe also für die Menschheit, als sich dieses Bestandes ihrer selbst zu bemächtigen, ihn einzuführen in den Prozeß der Menschwerdung. Das ist die Erziehung.” Die Schule ist der Ort, wo es dem kindlichen Geiste aufgehen soll, „daß er nicht ein isoliertes Bewußtsein ist, sondern daß er von früh auf gesehen und erkannt hat vermittelst eines über ihm waltenden, ihn beherrschenden objektiven Geistes, dessen Träger die Menschheit ist, und durch den sie Menschheit ist.” Alle idealen Güter, Sprache und Wissenschaft, Recht und Moral, Kunst und Religion, sind Äußerungen dieses objektiven Geistes. Eine langsame, mühevolle Wanderung hat die Menschheit, den Träger des objektiven Geistes, bis zu der heute erreichten Höhe geführt. Und die Epoche, in der wir jetzt stehen, ist die bisher wichtigste in der Entwicklung des menschlichen Geistes. „Die Signatur dieser Epoche ist die beginnende Emanzipation des Geistes.” Im Sozialismus tritt der Geist den Ausartungen des Kampfes ums Dasein entgegen, im Evolutionismus erkennt er die logische Weltentwicklung, in der Technik nimmt der Geist den Kampf mit den Naturmächten auf. Die Welt ist Objekt des menschlichen Geistes geworden, der früher erdrückt wurde „von der Übermacht der Materie”. Der philosophische Vertreter dieser Anschauung ist bekanntlich vor allem Hegel.

Damit ist die Aufgabe des Individuums bestimmt. Es hat sich in den Dienst dieses objektiven Geistes zu stellen und in der Arbeit an den höchsten Gütern seine Pflicht zu erfüllen. In der bewußten Ableitung dieses Gedankens aus dem Metaphysischen liegt ein religiöses Moment. Und auch nur dieses religiöse Bewußtsein kann schließlich als letzte Antwort dienen auf die Frage nach dem Zweck, der Notwendigkeit eines Unterrichts, dessen absolutes, oberstes Ziel es nicht ist, die jungen Menschen für den Kampf ums Dasein zu wappnen.

Aber noch zwei wichtige Fragen erheben sich. Zunächst: »Ist die Jugend überhaupt einer so ernsten Überzeugung, eines so heiligen Willens fähig?« Eine unbedingt beweisende Antwort läßt sich auf diese Frage nicht geben. „Wer in der Jugend … nur eine Vorbereitungszeit ohne eigenen Wert sieht, und in der Schule nur die Vorübung für den späteren Kampf ums Dasein als den eigentlichen Lebensinhalt,” für den dürfte eine Vertiefung und Heiligung des Lehrens und Lernens nicht in Frage kommen.” Jedoch schon Rousseau spricht die Ansicht aus, daß zu keiner Zeit der Mensch empfänglicher für große Ideen sei, begeisterter den Idealen sich hingebe, als in den Entwicklungsjahren, Die Gründe liegen nahe: die Interessen des Berufslebens, die Sorge um die Familie haben den Horizont des Jünglings noch nicht verengert – und, was hiermit Zusammenhangs aber noch mehr ins Gewicht fällt: er kennt noch nicht die Gleichförmigkeit des Tages, der Sitten – die Konvention, »das ewige Gestrige, das immer war und immer wiederkehrt« und der schlimmste Feind alles Großen ist.

»Wohl: mag der Jüngling fähig sein, nicht nur die Aufgabe zu erfassen, sondern auch im einzelnen Falle ihr gemäß zu handeln. Wird er dann noch jung sein, wird er noch die naive Freude am Leben behalten?« Auch das läßt sich abstrakt nicht beweisen; ein Blick in die Jahresberichte oder besser noch ein Besuch der Schule überzeugt.

Zu den wichtigsten Erziehungsfragen, welche die F. S. G. löst, gehört das Problem der Koedukation. In Wickersdorf sieht man nicht, wie an vielen anderen Orten, den Schwerpunkt dieser Frage auf sexuellem Gebiet, wenn auch natürlich dieser Faktor mitzusprechen hat. Sondern es entscheidet die Frage: „Gibt es ein spezifisch männliches oder weibliches Ziel, auf das hin dem Leben die Richtung gegeben werden soll?”

Von vielen Seiten werden wir die Fragen bejahen hören, wird uns Goethes: »Die Knaben zu Dienern, die Mädchen zu Müttern« erwidert werden. Darauf erwidert Dr. Wyneken (der Verfasser des Jahrbuchs): „Soll das nun heißen: das, was die Zeit vom 20. bis 40. Lebensjahre ausfüllt, soll auch schon die vom 1. bis 20ten ausfüllen?” Darin sieht er eine Beschränkung des geistigen Fortschritts; von vornherein wird die Frau auf ein enges Gebiet beschränkt, und „die alte Identifizierung von Geschlecht und Beruf” verhindert ein für allemal einen Fortschritt des Weibes. Gerade wir aber leben in einer Zeit, wo ein gewaltiger Umschwung in Leben, Anschauung und Beurteilung der Frau vor sich geht, und es wäre beschränkt, wollten wir jetzt die Frau „mit vorgefaßten Begriffen” erziehen, mit Rücksicht auf „ein täglich fragwürdiger werdendes Häuslichkeitsideal” und auf „andere Vorstellungen, die der Philister unter dem ›Ewig-Weiblichen‹ begreift”.

Das ist der Standpunkt der F. S. G. gegenüber der Frage, ob beide Geschlechter die gleiche Erziehung genießen sollen. Und wollte man nun den allerdings schwerwiegenden Einwand gegen diese Ausführungen erheben: »Die vorwiegend physiologische Bedeutung des Weibes für die Menschheit steht einer solchen, auf das Geistige gegründeten Auffassung entgegen«, so lautet die Antwort: „Und mag die eigentliche Bestimmung des Weibes biologisch sein – erst das Weib wird mehr als ein Tier oder eine Sklavin, wird Mensch und des Mannes Genossin sein, das sich dieser seiner Bestimmung selbst und bewußt weiht.”

Die Worte über die Notwendigkeit der gemeinsamen Erziehung der Geschlechter jedoch (im 1. Wickersdorfer Jahrbuch) bergen eine so weitschauende und edle Idee, daß ich es mir nicht versagen kann, sie wiederum im Wortlaut anzuführen:

„Die Jugend ist die Zeit der Empfänglichkeit für die absoluten Werte des Lebens, die Zeit des Idealismus. Sie ist die einzige Zeit, … in der ein soziales Empfinden entstehen kann, das nicht auf dem Opportunismus beruht, nicht das größtmögliche Glück möglichst vieler erstrebt, sondern das die Gesellschaft ansieht als eine Organisation zum Zwecke der Förderung des Geistes. Die Einheit der Menschheit vor dem Geiste darf da nicht preisgegeben werden, wo die junge Generation seinem Dienste geweiht wird. Schon in der Jugend sollen beide Geschlechter nicht nur die gleiche Sprache sprechen und verstehen lernen, sondern sie auch miteinander sprechen. Hier in der Jugend sollen sie den tiefen, wichtigsten Bund miteinander schließen, der alle späteren unvermeidlichen Trennungen überdauert. Hier sollen sie nicht nur die gleiche Lebensrichtung empfangen, sondern sie sich auch gegenseitig geben. Hier, wo sie einander in gleicher Richtung streben und sich entwickeln sehen, sollen sie den großen Glauben aneinander finden, aus dem allein die Achtung vor dem andern Geschlechte entspringen kann. Die Erinnerung, daß sie einmal Kameraden gewesen sind im heiligsten Werke der Menschheit, daß sie einmal zu zweien »ins Tal Eidophane«, in die Welt der Idee geblickt haben, diese Erinnerung wird das stärkste Gegengewicht gegen den sozialen Kampf der Geschlechter bilden, der immer war, zu unsrer Zeit aber in hellen Flammen auszubrechen und die Güter, zu deren Hüterin die Menschheit bestellt ist, zu gefährden droht. Hier in der Jugend, wo sie noch Menschen im edlen Sinne des Wortes sein dürfen, sollen sie auch einmal die Menschheit realisiert gesehen haben. Dies große, unersetzliche Erlebnis zu gewähren, ist der eigentliche Sinn der gemeinsamen Erziehung.”

Bliebe das sexuelle Moment. Es wird nicht hinweggeleugnet, nicht vertuscht, sondern kräftig bejaht. Im Streben nach den gleichen Zielen, im ersten Einblick in neue Welten des Wissens und des Gedankens, in täglichen gemeinsamen Erlebnissen, sollen Knaben und Mädchen sich vor allen Dingen als Kameraden achten lernen. Aber „dem gewöhnlichen Knaben von 16 Jahren ist das Mädchen wesentlich Geschlechtswesen”. Und dieses Bewußtsein ist natürlich und nicht völlig auszulöschen. Es soll auch nicht ausgelöscht werden. Im Gegenteil: „Es gibt dem Verkehr eine gewisse Färbung, es verleiht ihm eine Anmut und Zartheit, die nur ein armseliger Pedant wegwünschen könnte; und gerade dies Empfinden erhält immer jene edle Distanz, deren Bestehen die Vorbedingung jedes dauernden … Verkehrs ist.”

Das hohe Ziel einer Koedukation, wie sie im Programm der F. S. G. enthalten ist, fordert allerdings dreierlei: physisch und geistig gesunde Schüler, taktvolle, einflußreiche Lehrer und zwischen beiden rückhaltlose Offenheit.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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