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Die Jugend schwieg

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1913

Der »Täglichen Rundschau« gewidmet

Jetzt heißt es stramm bleiben. Wir wollen uns keinesfalls von der Tatsache des freideutschen Jugendtages überwältigen lassen. Wir erlebten zwar eine neue Wirklichkeit: 2 000 junge moderne Menschen kommen zusammen, und auf dem Hohen Meißner sah der Sehende eine neue körperliche Jugend, eine neue Spannung der Gesichter. Das ist uns nichts als Bürgschaft für den Jugendgeist. Wanderungen, Festgewänder, Volkstänze sind nichts Letztes und – im Jahre 1913 – noch nichts Geistiges.

Wir einzelne werden dem Jugendtage nicht eher unsern begeisterten Gruß zollen, bis der Gesamtgeist so mit dem Willen zur Jugend sich erfüllte, wie heute nur erst einzelne. Bis dahin wird im Namen der Jugend immer wieder die geistige Forderung an den Jugendtag gestellt werden.

Folgendes geschah auf der Vertreterversammlung auf dem Hanstein. Ein Redner endete: »… zum Heile der Freiheit und des Deutschtums!« Eine Stimme: »Und der Jugend!« Hastig verbessert sich der Redner: »Und der Jugend!«

Es geschah Schlimmeres. Bei der Verteilung der Sportpreise wurde der Name Isaacsohn genannt. Das Gelächter einer Minderheit erscholl darauf. Solange noch einer dieser Lacher einen Platz unter der freideutschen Jugend hat, wird sie ohne Adel und Jugendlichkeit sein.

Dieser Jugendtag bewies es: nur wenige verstehen den Sinn des Wortes »Jugend«. Daß von ihr allein neuer Geist, der Geist ausstrahlt. Noch suchten sie nach greisenhaften, vernunfthaltigen Vorwänden ihres Sich-Findens, nach Rassenhygiene oder Bodenreform oder Abstinenz. Darum durften Machtsüchtige es wagen, durch Parteijargon das Fest der Jugend zu verunreinigen. Prof. Dr. Keil rief: »Die Waffen hoch!« Zwei Männer traten zum Schutze der Jugend ein. Wyneken und Luserke. Sie stammen beide von der freien Schulgemeinde. Wyneken versprach mit den Seinen sich wie eine Mauer vor eine Jugend zu stellen, auf die man eindringt, wie auf eine Wahlversammlung. Den Wickersdorfern, die in ihren weißen Mützen eine geschlossene Schar auf dem Meißner waren, vertrauen wir für diesen Kampf.

Die Jugend schwieg. Wenn sie »Heil« rief, so war es lauter bei der Rede des Chauvinisten Keil als bei den Worten Wynekens. Mit Schmerz bemerkte man, wie sie von den onkelhaften Worten des Avenarius sich gekitzelt fühlte. Daß diese Jugend joviale Bonhomie ertrug, ist das Schlimmste. Daß sie sich von jedem »Abgeklärten« den heiligen Ernst rauben läßt, mit dem sie zusammen kam. Daß sie lächelnde Leutseligkeit entgegennimmt, anstatt Distanz zu fordern. Diese Jugend hat den Feind, den geborenen, den sie hassen muß, noch nicht gefunden. Aber wer von denen auf dem Hohen Meißner hat ihn erlebt? Wo blieb der Protest gegen Familie und Schule, den wir erwartet hatten? Hier hat keine politische Phrase den Weg des jugendlichen Fühlens geglättet. Blieb er deshalb unbeschritten? Hier war noch alles zu leisten. Und hier ist das Jugendliche zu offenbaren, die Empörung: gegen das Elternhaus, das die Gemüter verdumpft, gegen die Schule, die den Geist auspeitscht. Die Jugend schwieg. – Sie hat noch nicht die Intuition gehabt, vor der der große Alterskomplex zusammenbricht. Jene gewaltige Ideologie: Erfahrung – Reife – Autorität – Vernunft – der gute Wille der Erwachsenen – sie wurde am Jugendtage nicht gesehen und nicht gestürzt.

Die Tatsache des Jugendtages bleibt das einzig Positive. Sie genügt, um uns gerüstet das nächste Jahr wieder zusammen zu führen, und so alle Jahre, bis auf einem freideutschen Jugendtage die Jugend spricht.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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