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Unterricht und Wertung
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〈I.〉
An zwei Stellen wird das Verhältnis des Unterrichts zu Werten, zu lebendigen Gegenwartswerten besonders deutlich werden: im Deutschen und in der Geschichte. Im Deutschen wird es sich vorwiegend um ästhetische, im Geschichtsunterricht um ethische Werte handeln. Zunächst ist das gleichgültig. Gefragt wird: wertet der Unterricht (und damit die Schule) überhaupt, und an welchem Ziele ist dies Werten orientiert? Es soll nicht behauptet werden, daß jeder der folgenden Fälle typisch sei. Aber es soll doch die Ansicht zugrunde gelegt werden, ein brauchbares System müsse gewisse äußerste Möglichkeiten ausschließen. Im folgenden einige dieser Möglichkeiten ohne Kommentar:
In einer Obersekunda werden eine Anzahl Gedichte Walthers von der Vogelweide in der Ursprache gelesen. Sie werden übersetzt und einige werden auswendig gelernt. Das alles nimmt eine Reihe von Unterrichtsstunden in Anspruch. Der Ertrag dieser Stunden für den Schüler in ästhetischer Hinsicht ist die beständig wiederkehrende Äußerung des Lehrers, im Gegensatz zu Homer verwende Walther keine Flickwörter.
Einige Äußerungen, die den ästhetischen Standpunkt Goethe gegenüber bezeichnen: »Goethe ist überhaupt ganz realistisch, man muß nur verstehen, was er meint.« Oder: »Es ist das Eigentümliche in Goethes Werken, daß jedes Wort seinen Sinn hat, und zwar meist einen schönen, passenden.«
Oder: In einer höheren Klasse werden die Nibelungen in der Übersetzung, darauf in der Ursprache gelesen; ein bis zwei Abschnitte bilden die häusliche Lektüre; sie werden im Unterrichte nacherzählt. Nachdem so die Übersetzung durchgenommen ist, wird das Lied vom Lehrer in der Ursprache aus dem Lesebuche, das auch die Schüler vor sich haben, vorgelesen und teilweise übersetzt, teils durch Übersetzungsanleitungen kommentiert. Solche Durchnahme dauert kaum unter einem halben Jahre; und damit ist dann die Lektüre dieser Dichtung durchaus erschöpft. Auf den inneren Gehalt wird schlechterdings mit keinem Worte eingegangen.
Entsprechend kann sich die Schulbehandlung von »Hermann und Dorothea« gestalten. Es werden im Unterricht Stunde für Stunde in gemeinsamer Arbeit Dispositionen angefertigt (die jedoch stets auf die vom Lehrer gewünschte hinauslaufen); eine dieser Dispositionen folgt:
«4. Gesang: Euterpe.
I. Die Mutter sucht den Sohn:
a) auf der Steinbank,
b) im Stall,
c) im Garten,
d) im Weinberg,
e) im Wald.
II. Die Mutter findet den Sohn unter dem Birnbaum.
III. Gespräch zwischen Mutter und Sohn.
1. Hermanns Entschluß.
a) Die Not der Mitmenschen,
b) die Nähe des Feindes,
c) Hermanns Entschluß zu kämpfen.
2. Der Mutter Ermahnung.
3. Hermanns Geständnis.
4. Vermittelnder Plan der Mutter.»
Jede solche Disposition ist zu Hause auswendig zu lernen und mit verbindendem Text wiederzuerzählen. Womöglich mehrere Male in einer Stunde. Die aufsatzmäßige Behandlung des Gedichtes ergab die Themen: »Inwiefern ist der erste Gesang von ›Hermann und Dorothea‹ die Exposition des Gedichts?« (Man bemerke, wie in Ermanglung eines geistigen Eindringens die Dichtwerke in den Schulen so oft technisch zerfetzt werden!) Und: »Inwiefern ist das Gewitter in ›Hermann und Dorothea‹ symbolisch?« In diesem Aufsatz wurde eine Darstellung des Gewitters als symbolischer Ausgleich der Spannungen beim Epos, vor allem der erotischen Spannung zwischen den Liebenden (!), verlangt.
Eine Wertung des Gedichtes gibt der Unterricht nicht. Für die meisten Schüler aber ist es gewertet; der Name der Dichtung schon verursacht ihnen Übelkeit.
»Minna von Barnhelm« wird disponiert.
»Egmont« wird disponiert. Eine Probe:
»Egmont und der Secretär erledigen:
I. Amtsgeschäfte:
a) politische,
b) militärische.
II. Kriminalgeschäfte:
a) Geldangelegenheiten,
b) Warnung des Grafen Oliva.«
Wir schließen diese schwarze Liste, die wohl jeder Schüler beliebig verlängern könnte, mit einigen charakteristischen Worten eines Lehrers, die das Aufsatzwesen beleuchten. Der Schüler hält eine Ansicht, deren Beweis von ihm gefordert wird, für unrichtig und begründet dies dem Lehrer gegenüber zureichend. Die Antwort lautet, es handele sich in den Aufsätzen in erster Linie um Stilübung und die darin behandelten Stoffe seien nicht so wichtig, daß die Schüler sich Gewissensbisse zu machen brauchten, wenn sie etwas schrieben, was sie für unrichtig hielten. – Einer solchen Anschauung entspricht es, wenn bei der Rückgabe von Aufsätzen der Lehrer schroff entgegengesetzte Werturteile verschiedener Schüler regelmäßig mit den Worten begleitete: »Das können wir gelten lassen.«
Wir haben ohne Unterbrechung aufgezählt. Und nur dies möchten wir bemerken: in einem solchen Unterrichte stelle man sich eine Anzahl Schüler vor, denen es um Literaturfragen ernst ist. Der Unterricht bemüht sich nicht um ein ernsthaftes Verhältnis zum Kunstwerk. Bis zur Erschöpfung wird es inhaltlich und vielleicht formal analysiert, doch zu einer fruchtbar werdenden, d. h. vergleichenden Betrachtung kommt es nicht; es fehlen ja die Maßstäbe. So ergibt es sich: die Dichtungen der Klassik – und sie vor allem kommen in Betracht – erscheinen der Mehrzahl der Schüler als völlig willkürliche, jedes lebendigen Zusammenhanges entbehrende Spielereien für Ästhetiker; erscheinen unendlich trocken jedem, der seine Zeit mit »Nützlicherem« ausfüllen kann.
Wahrhaft verhängnisvoll aber wird dieser Zustand, wo es sich um moderne Kunst handelt. Vielleicht aber ist das schon zuviel gesagt. In den meisten Fällen handelt es sich gar nicht um moderne Kunst. Da dient denn zur Maxime etwa folgendes Wort eines in Oberprima unterrichtenden Lehrers: »Weiter als bis Kleist gehe ich mit Ihnen nicht. Modernes wird nicht gelesen.« Es sollte einmal ein deutscher Dichter oder Künstler unserer Zeit dem deutschen Unterricht beiwohnen und hören, wie da von moderner Kunst gesprochen wird (übrigens ist bei diesen Herren der Begriff »modern« ganz umfassend; große entgegengesetzte Strömungen bestehen nicht). Ein Herr kann vom Katheder herab lächerliches und grundloses Zeug über die Sezession sagen: »diese Leute wollen immer nur das Häßliche malen und erstreben nichts, als möglichst große Ähnlichkeit« – es darf nicht widersprochen werden. Der Moderne gegenüber steht, wenn sie einmal genannt wird, alles frei. »Ibsen – wenn ick schon det Schimpansengesicht sehe!« (Äußerung eines Lehrers.)
Da gibt es keine überlieferten, will also sagen gültigen Urteile. Die öffentliche Meinung übt noch keinen Zwang aus. Da ist alles »Geschmackssache«, die Schule kennt hier keine Verantwortung ihrer Zeit gegenüber. Nirgends vielleicht wird es deutlicher als hier, wie unfähig die Schule ist, aus sich selbst heraus zu werten. So erzeugt die Schule eine öffentliche Meinung der Gebildeten, deren literarisches Glaubensbekenntnis lautet: Goethe und Schiller sind die größten Dichter – die sich aber gelangweilt von ihren Dramen abwendet und der die moderne Kunst ein Gegenstand des Spottes oder verantwortungslosen Geredes wird.
Entsprechendes ist im Geschichtsunterricht die Regel. Aus einem sehr einfachen Grunde kann hier nicht gewertet werden. Politische Geschichte läßt sich nicht werten und Kulturgeschichte gibt es nicht. Denn innere Geschichte, die im Unterricht eine immer größere Rolle zu spielen beginnt, ist ja noch nicht Kulturgeschichte. Dazu macht sie erst der Gesichtspunkt. Der Blickpunkt aber auf unsere Kultur, als das Ergebnis der Jahrtausende, fehlt. Von der Entwickelung des Rechts, der Schule, der Kunst, der Ethik, der modernen Psyche schweigt, bis auf wenige Daten, dieser Unterricht. Der nüchterne Betrachter mag sich fragen, ob dieser Geschichtsunterricht ein Kulturbild gibt oder nicht vielmehr selbst eines darstellt! Ein einziger Punkt ist es, an dem der Geschichtsunterricht schließlich wertet: das ist der Augenblick, wo am Horizonte die Sozialdemokratie auftaucht. Aber welche Überzeugungskraft kann eine Wertung haben, die ganz offenbar nicht um der Erkenntnis willen (denn dann wäre stets gewertet worden), sondern aus Zweckgründen geschieht!
Auf dieser Grundlage bietet der Geschichtsunterricht das unerfreulichste Bild. Entweder gilt es ein Vorbeten oder Wiederkäuen zusammenhangloser oder oberflächlich verbundener Tatsachen aller Art – oder man sucht sich den »Kulturperioden« einmal bewußt zu nähern. Da paradieren denn die Schlagworte aus der Literaturgeschichte und ein paar berühmte Namen, oder endlich, es tritt zum Ersatz einer freien, großen Wertung die kleinlichste Beurteilung irgendeiner historischen Tat ein. Da wird denn gefragt: ist Napoleons Bestreben, Rußland zu unterwerfen, berechtigt gewesen oder nicht? – Und ähnliches wird gar in der Klasse uferlos debattiert.
Damit wären die vorzugsweise zur Wertung berufenen Unterrichtsfächer der Realschule betrachtet. Aber das humanistische Gymnasium hat noch seine humanistischen Werte, die den gegenwärtigen Kulturwerten gleichberechtigt zur Seite treten sollen. Darüber wird ein zweiter Artikel handeln.
〈II. Über das humanistische Gymnasium〉
Es ist verhältnismäßig leicht, gegen Mißstände und Verfehlungen im Unterricht zu polemisieren, gegen einen Gesichtspunkt zu kämpfen, von dem aus unterrichtet wird, oder für eine Neueinteilung der Lehrstoffe einzutreten. Sehr schwer ist es, gegen Gedankenlosigkeit zu Feld zu ziehen, Geistlosigkeit zu bekämpfen. Eigentlich unmöglich, sie läßt sich nur nachweisen. Dies undankbare Geschäft versuchten wir im vorigen für den Deutsch- und Geschichtsunterricht zu leisten. Noch schwerer ist das gleiche für die humanistischen Lehrfächer. Wir wissen gar nicht, was dieser humanistische Unterricht bezweckt (während wir vom Ziel eines Deutsch- und Geschichtsunterrichtes in einer modernen Schule immerhin einen Begriff haben).
Wir gestehen, daß wir im Grunde sehr viel Sympathie für die humanistische Bildung haben. Mit einer Art von verbissenem Trotz lieben wir sie, weil wir in ihr eine Schulgesinnung sehen, die eine edle Ruhe sich bewahrt hat und vom darwinistischen Zwecktaumel unserer übrigen Pädagogik verschont blieb. Da lesen wir den Sitzungsbericht der »Freunde des humanistischen Gymnasiums«, und mit Staunen hören wir, daß unter allgemeinem Beifall festgestellt wird, dem Mediziner und Juristen sei die Kenntnis der griechischen Sprache von großem Nutzen. Daß der Vortragende übrigens dankbar zurückblicke auf die Jahre, in denen …, und es folgen jene Phrasen, mit denen der, der es hinter sich hat, das dicke Fell sich streichelt und auf die »Jungen« herabblinzelt.
Dieser Ton, mit dem ein Herr jene »idealistische Gesinnung« zusamt der Kenntnis vieler Fremdwörter, welche das Gymnasium ihm »vermittelte«, gemächlich lobt, ist uns furchtbar. Peinlich ist uns jene behäbige Sentimentalität, die noch nach vierzig Jahren an der Familientafel (zwischen Fisch und Braten) die ersten Verse der Odyssee ertönen läßt. Die noch jetzt die Grammatik der Apodosis besser beherrscht als der Sohn, der schon in Prima sitzt. Die Intimität zwischen Philisterium und dem humanistischen Gymnasium ist höchst verdächtig. Wir empfinden: weil unsere Väter so innig allerlei verstaubte Gefühle mit Plato und Sophokles verbunden haben, darum müssen wir los von solcher Familienatmosphäre des Gymnasiums.
Und dennoch haben wir wohl eine Sehnsucht, manche vielleicht eine Vorstellung sogar von dem, was unser Gymnasium sein sollte. Kein Gymnasium sei es, in dem (günstigstenfalls) Winckelmannsches Griechentum begriffen wird (denn schon lange ist die »edle Einfalt und stille Größe« zum fatalen Inventar der höheren Töchterbildung geworden). Unser Gymnasium sollte sich berufen auf Nietzsche und seinen Traktat »Vom Nutzen und Nachteil der Historie«. Trotzig, im Vertrauen auf eine Jugend, die ihm begeistert folgt, sollte es die kleinen modernen Reformpädagogen überrennen. Anstatt modernistisch zu werden und aller Ecken eine neue, geheime Nützlichkeit des Betriebs zu rühmen. Das Griechentum dieses Gymnasiums sollte nicht ein fabelhaftes Reich der »Harmonien« und »Ideale« sein, sondern jenes frauenverachtende und männerliebende Griechentum des Perikles, aristokratisch; mit Sklaverei; mit den dunklen Mythen des Aeschylos. All dem sollte unser humanistisches Gymnasium ins Gesicht sehen. In dem dürfte dann auch griechische Philosophie gelehrt werden, was jetzt so verboten sein müßte wie die Lektüre von Wedekind. Jetzt nämlich lernt man nach einem Handbuch, daß Thales das Wasser für den Urstoff hielt, Heraklit aber das Feuer, Anaxagoras jedoch den Nous, dagegen Empedokles Liebe und Haß (und stürzte sich in den Ätna), Demokrit aber die Atome, und daß die Sophisten den alten Glauben zersetzten. (Zu dem, was die Philosophie am stärksten diskreditiert, gehört solcher Unterricht.)
Wie gesagt — wir kennen oder ahnen ein humanistisches Gymnasium, das wir lieben würden. In dieser Schule wäre griechische Plastik mehr als ein schmutziger Pappdruck, der gelegentlich für vier Wochen im Schulzimmer hängt. Solches Gymnasium könnte uns zum mindesten helfen. Die Pädagogen mögen sich fragen, ob sie uns diese Schule schaffen dürfen, die gegenwartsfeindlich, undemokratisch, hochgemut sein müßte und keine bequemen Kompromisse mit Oberrealschule, Realgymnasium, Reformgymnasium eingehen würde! Wenn wir aber im Namen der beiden Jahrtausende nach Christus solche Schule nicht haben dürfen, dann nehmen wir einen schweren, gefaßten Abschied vom Gymnasium.
Aber nicht länger dieser verwaschene Humanismus! Jetzt haben wir Ästhetentum ohne ästhetische Bildung in unseren Lektürenstunden. Geschwätz von σωφροσύνη, ohne die Maßlosigkeit des alten Asien zu ahnen. Platonische Dialoge ohne Lektüre des Symposion (vollständig, meine Herren, vollständig!).
Das aber bekennen wir nochmals: wir wissen nicht, was man meint, wenn man diese heutige humanistische Bildung uns vorsetzt. Aus jedem klassischen Buche lesen wir die »besten Stellen«, nur der Primus kann Griechisch ohne »Klatschen« verstehen, nur die notorisch Streberhaftesten machen freiwillige humanistische Arbeiten. Wir Schüler, die drinnen stehen, haben über und über genug von jener Heuchelei, die Geistlosigkeit und Urteilslosigkeit mit dem Mantel »griechischer Harmonie« deckt! Schwarze Liste:
Über Horaz: »Wir haben hier Horaz zu lesen; ob er uns gefällt oder nicht, ist ja ganz gleich; er steht im Lehrplan.« Äußerung eines Lehrers.
Bei einem Einwand gegen eine Beweisführung bei Cicero: »Wir wollen hier ja nicht unsere Ansichten entwickeln, sondern wissen, was Cicero sagt.«
Zum Kapitel »Klassische Kunst«: auf einem Gymnasium wird eines Tages kunstgeschichtlicher Unterricht eingeführt, der nach mehreren Wochen ebenso plötzlich, wie er kam, wieder verschwindet. Der Lehrer erklärt: »Ja, ich habe in jeder Woche so und soviel Stunden zu geben; damals hatte ich noch eine Stunde pro Woche zu wenig, gab also Kunstgeschichte. Jetzt ist das wieder in Ordnung.«
»Ach, glauben Sie doch nicht, daß man Ihnen Ihre Begeisterung für die Antike glaubt«, sagte zu einem Oberprimaner eines humanistischen Gymnasiums ein Lehrer.
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