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Ziele und Wege der studentisch-pädagogischen Gruppen an reichsdeutschen Universitäten
Оглавление(mit besonderer Berücksichtigung der »Freiburger Richtung«)
1913
Aus eigner Arbeit kenne ich nur die gleichgerichteten Gruppen von Berlin und Freiburg. Ich werde also über die Praxis der übrigen Gruppen nicht sprechen, sondern ich werde nur die grundlegenden Unterschiede der sog. Freiburger Richtung von den übrigen, wie sie mir sich darstellen, ausführen und schließlich einiges zur Praxis der Freiburger sagen.
Die pädagogische Studentenbewegung wurzelt in allgemein-studentischen Verhältnissen. Wir sind gewohnt, alle zukunftsreichen, reformfreudigen Strebungen in der Studentenschaft dem Einfluß der sozialen Erkenntnis und dem sozialen Pflichtgefühl zuzuschreiben. Den bedeutendsten Ausdruck hat die soziale studentische Gesinnung in der Freien Studentenschaft gefunden. Aber auch die abstinenten Studentenvereine, die Arbeiterkurse, die Wanderbühne und viele andere wurzeln in sozialer Erkenntnis und sozialem Gefühl. Das ist wohl auch die Grundlage der meisten studentischen Vereinigungen für Schulreform oder für Pädagogik. In der Studentenschaft stieg durch eigne Erfahrung oder Studium die Einsicht auf, daß die Schule einer Reformierung bedürfe; daß ferner diese Reform eine der wichtigsten Zukunftsfragen sei. Und damit ist für den Studenten die Pflicht gegeben, sich mit der pädagogischen Frage zu befassen: als Vater einer neuen Generation, vielleicht sogar als ihr Lehrer. Solche Teilnahme an der pädagogischen Frage der Gegenwart bedeutet kein Hereinpfuschen in eine Praxis, die nur dem Pädagogen zugänglich ist, vielmehr zunächst theoretische und praktische Orientierung, die als solche und als studentische parteilos ist. Gerade diese Einstellung der Studentenschaft auf die pädagogische Frage ist schon ausführlich begründet worden, vor allem auf der Breslauer Rede von Prof. Stern im vorigen Jahre1234. In dieser Richtung strebt wohl die Mehrzahl studentisch-pädagogischer Gruppen, bis auf Berlin, Freiburg und Jena.
Die Begründung dieser unsrer studentischen Gemeinschaften ruht auf andern Gedanken und andern Gefühlen. Neben dem sozialen Gedanken nämlich beginnt allmählich in der vorstrebenden Studentenschaft ein Neues Platz zu greifen, zwar nicht im Gegensatz zur sozialen Bewegung, aber doch im deutlichen Gefühl des Unzureichenden, das die Sozialbetätigung bisher hatte. Heute steht neben der Freistudentenschaft die Freischar. Zwar sind beide der Zahl nach nicht zu vergleichen, dennoch ist die Freischar der vorläufige Typus einer neuen studentischen Gesinnung. Wir haben erfahren, daß der Freien Studentenschaft – und von ihr spreche ich hier als Typus – bei aller Modernität des Strebens eines fehlte, so daß ihre Entwicklung bisher unendlich gehemmt wurde: die Ursprünglichkeit. Jenes Arbeiten in und für eine namenlose Masse ist Pflicht, das wissen wir. Aber die allgemeinen sozialen Ziele als: Vertretung der Nicht-Inkorporierten, Ämter, Arbeiterkurse, sowie auch ihre gesamte Bildungsarbeit, unter die auch die pädagogische Gruppe als Typus fällt – ihnen fehlt eine innere, notwendige Verbindung mit dem studentischen Geiste. Man hat diese Verbindung theoretisch zu konstruieren gesucht: aber dabei setzte Behrens ein Ideal der Universitas voraus, das zwar Aufgabe ist, aber nicht den Boden heutiger studentischer Gemeinschaften bilden kann. Der einzelne Freistudent – nochmals: ich beziehe mich hier auch auf Gruppen, die der Freistudentenschaft organisatorisch nicht angeschlossen sind – widerlegt diese theoretischen Konstruktionen immer wieder. Es handelt sich in freistudentischer Arbeit immer, sei es um soziale Bedürfnisse der Studentenschaft als abstractum, sei es um Bedürfnisse einer noch abstraktem Öffentlichkeit. Die ungeheure soziale Betriebsamkeit ist nichts aus studentischem Geiste ursprünglich Gewachsenes. Sie ist eine Kopie des öffentlichen Lebens, in dem der einzelne sein Bewußtsein so oft verloren hat und in der allgemeinen Rastlosigkeit sich betäubt. Trotz allem gibt es wohl eine innerlich gegründete und zugleich höchst soziale Betätigung der Studentenschaft. Aber uns scheint, als wäre dieser studentische Geist erst zu entwickeln. Noch fehlen die Zusammenhänge zwischen Person und Arbeit. Das erklärt vielleicht jene merkwürdige Verschiedenheit in der Schätzung studentischsozialer Arbeit und des einzelnen sozial tätigen Studenten.
Als Vertreter einer neuen Auffassung studentischen Lebens nannte ich die Freischar. Ich will hier keine Analyse ihres Geistes geben – obwohl auch das unserm Thema nicht allzu fern läge –, sondern nur das eine betonen: sie hat, bewußt oder unbewußt, zum ersten Male in unsern Tagen die Jugend in das Zentrum modernen studentischen Gefühls gestellt. Noch hat sie diesen Gedanken der Jugend im eigentlichen studentischen Leben nicht fruchtbar machen können. Sie hat sich in Einzelbünde abgeschlossen. Aber trotz allem: in dem Gegensatze von Freischar und Freistudentenschaft gewahren wir im großen Leben der Studentenschaft die gleichen Gegensätze vorgebildet, wie sie zwischen der Freiburger und den übrigen Richtungen walten.
Nicht Schule und Schulreform, sondern Jugend steht im Zentrum des Freiburger Gedankenkreises. Und zwar nicht sowohl ein Verhältnis zur Jugend als Objekt, sondern das Bewußtsein studentischer Jugend selbst im einzelnen Studenten. Wir machen nicht die Voraussetzung eines Interessenkreises und wir sprechen nicht von einer abstrakten, allgemeinen Pflicht. Vielmehr vom Zustande des Studenten. Er, der heute nicht in dem engern Arbeitskreise der Freistudentenschaft seine Stelle findet, dem auch die Exklusivität der Freischar verboten ist, um von andern Gemeinschaften zu schweigen, gehört in einen neuen Kreis. Wir schließen uns der Freistudentenschaft an, denn sie ist der Boden, auf dem Arbeit für die ganze Studentenschaft geleistet wird, und wir haben keinen Grund zu statutenmäßiger Abschließung. Die Freiburger Richtung schließt sich zunächst nicht zu einem Zwecke, sondern auf dem Grunde der Notwendigkeit zusammen: sie ist zu verstehen aus der Leere und Jugendlosigkeit der übrigen studentischen Gemeinschaften. Wiewohl sie eng mit der Freischar, eng mit der Freistudentenschaft verbunden sein könnte, vermißt sie in der einen den Sinn für das studentische Ganze, in der andern die Jugend.
So bezeichnen wir den Anspruch der Freiburger Richtung im studentischen Leben, so bezeichnen wir ihren Ursprung. Schulreform ist nicht ihr Ausgangspunkt, sie ist zunächst nicht als Beteiligung an der heutigen pädagogischen Arbeit gemeint und zunächst nicht auf die pädagogische, vielmehr auf die studentische Frage gerichtet. Wir finden uns aber im Sachgebiet der Pädagogik, dort finden wir den Gegenstand, an dem wir, zunächst fast symbolisch und innerlich, unsere studentisch-jugendliche Gesinnung entwickeln.
Es ist hier der Ort, auf den wesentlichen Vorwurf einzugehen, den man wohl der Freiburger Richtung gemacht hat. Sie degradiere eine studentische Bewegung zur Partei im öffentlichen Kampfe. Wäre das richtig, so würde es tatsächlich gerade das widerlegen, worauf es uns ankommt: die Autonomie des studentischen Geistes wäre vernichtet. Aber es gibt einen Standpunkt jenseits der Neutralität, der, von innen heraus verstanden, dennoch nicht Partei ist. Ja, in der Frage, die wir hier von der Studentenschaft aus behandeln, scheint Neutralität uns am ehesten Partei. – Ich sagte schon, wir sind keine Instanz zur Lösung der pädagogischen Frage. Aber wir sind der Überzeugung, daß Wichtiges noch nicht gesagt, ja, noch nicht gefragt worden ist, daß da, wo unsere erste Jugend war, häufig ein Trümmerfeld unbekannter Gewalten liegt. Also kann auch Orientierung nicht unsere Meinung sein. Und also ist es von vornherein eine falsche Fragestellung: Partei oder Nicht-Partei? Wir halten nicht Umschau unter heutigen Schulreformern, wem es zu folgen gelte. Denn wir sind durchaus damit beschäftigt, die Dinge aus uns selbst heraus zu entwickeln. Und da kann es geschehen, daß einer empfindet wie wir, daß auch er zu Fragestellungen aus dem Geiste der Jugend kommt – ja, mag sein, daß er sie anregte. Dennoch, Kommilitonen, sind wir nicht die übereifrigen Parteigänger Gustav Wynekens, sondern wir wissen uns mit ihm in einer Front streitend und wissen ihn einen Führer, aber nicht Führer zu einem Ziele, das er uns vermittelt, sondern dem Ziele, das uns unmittelbar gegeben ist. Darum trifft uns der Vorwurf der Parteilichkeit nicht.
Vielleicht allzulange mußte ich mich mit Abgrenzungen aufhalten. Sie werden jetzt ungeduldig nach Konkretem fragen. Ich will versuchen, einige Andeutungen zu geben. Aber Sie werden sich selbst sagen: wären meine Worte hier allzu sicher, allzu genau, sie würden dem, was ich sagte, widersprechen. Denn das Jugendbewußtsein ist etwas Werdendes in uns. Man kann nur von Symptomen und höchstens von Symbolen reden. Denn jedes Denken und viele Erlebnisse bringen uns hier ständige Erweitrung des Bewußtseins, und vieles, was wir in Gesprächen schon erreichten, ist uns in der Gemeinschaft zu gestalten noch nicht gelungen.
Für die Praxis ist zweierlei grundlegend: die studentische Gemeinschaft selbst und die Art, wie sie den pädagogischen Gegenstand als ihr nächstes Objekt aus sich entwickelt, als einen Spiegel ihrer eignen Bedürfnisse und Strebungen. Niemals werden unsere Gruppen den Versuch machen, vom Gesamtleben der Studentenschaft sich abzuschließen. Wollen sie doch gerade in ihr wirken, durch ihre Gegenwart, den Ton und die Gesinnung, die in ihnen entsteht und mehr noch entstehen wird, tragen sie zur Durchdringung der Studentenschaft mit jugendlichem Geiste bei. Nur persönlich wird die Zusammensetzung unsrer Gruppen, je näher sie ihrem Ziele stehen, ein besondres Bild bieten. Zahlenmäßige Erfolge, Propaganda, Interessengewinnung erstreben wir zunächst nicht. Nur wo Studenten und Studentinnen die innere Meinung unsrer Arbeit verstehen, werden sie uns willkommen sein. So wird durch persönliche Zusammensetzung und nur durch diese unsere Gruppe sich von der Masse der Studentenschaft absondern, und sie hofft, zunächst und zuallererst durch ihr Dasein wirken zu können.
Endlich einige Worte über die Art unsrer Arbeit. Sie dient der Ausprägung jugendlichen Geistes vor allem in der pädagogischen Fragestellung. Sie ist an technischen Fragen als solchen nicht interessiert, ebensowenig an der reinen Orientierung im Bestehenden. Unser Interesse liegt da, wo Jugend und Kulturwerte sich auseinandersetzen, in einer neuen philosophischen Pädagogik. Kunsterziehung, Religions- und Moralunterricht, politische Erziehung, Koedukation – das sind die Fragen, die wieder und wieder bei uns diskutiert werden. Zwar behandeln wir dies theoretisch, dennoch prägt sich eine praktische Gesinnung hier aus: sowenig bei uns der junge Student prinzipielle Schwierigkeit hat, die Fragen, die die Geistesbildung des Schülers angehen, zu verstehen, da auch er jung ist und denselben unbedingten Zug zu den Werten und Wertungen fühlt – sowenig soll bei uns z. B. das Lehrerproblem seine Peinlichkeit behalten. Wir haben noch selten über die Stellung des Lehrers zum Schüler diskutiert, weil uns in diesen Fragen die Grundlagen klar sind: die Erziehung, wenn sie im Geiste der Jugend geschieht, kennt kein isoliertes persönliches Machtproblem: Lehrer – Schüler; sondern der Lehrer erhält den Wert durch seinen Ernst und seine Jugendlichkeit.
Die theoretische Diskussion in den Gruppen ist nur ein Teil unsrer Arbeit. Mit dem andern Teile stehen wir im Jugendkampfe selbst. Zunächst vor allem im Kampfe der Schuljugend. Durch ihre Zeitschrift »Der Anfang«, durch die Sprechsäle, in denen Schüler und einige Studenten Zusammenkommen, stehen wir in engster Verbindung mit der Schuljugend: wir wissen, daß ihr Kampf der unsere ist. Hier ist natürlich hervorzuheben, daß die Schulreform nur ein sehr begrenztes Gebiet jugendlicher Betätigung ist. Wir suchen in unsern Gruppen sozusagen immanent Hochschulreform von innen heraus zu treiben. Hier sollen wiederum die Schüler mit uns verbunden sein: in Berlin beginnt man, Schüler zu sozial-studentischen Veranstaltungen (Märchenvorlesung, Gruppenabende der Abteilung für Schulreform) heranzuziehen.
Es ist im Rahmen dieses Vortrages nicht möglich gewesen, den Begriff der Jugendkultur zu entwickeln. Das scheint, nachdem die Schriften Dr. Wynekens, nachdem der »Anfang« dies von so verschiedenen Seiten getan haben, auch nicht unbedingt mehr nötig zu sein. Er bildete die Voraussetzung des Gesagten. Ich suchte zu zeigen: es gibt zwei Möglichkeiten studentisch-pädagogischer Arbeit. Aus dem sozialen Gedanken fließt die eine, und es ist ihr nicht gelungen, innerliche Verbindung mit der Idee des Studententums zu gewinnen, eine solche Verbindung würde heute Erneuerung studentischen Geistes bedeuten müssen. Die andere Möglichkeit beruht in der Kultur jugendlichen Geistes, die notwendig die Studentenschaft der Schülerschaft verbindet: es entsteht eine neue studentische Gesinnung, die ihren nächsten Gegenstand im Verhältnis des Studenten zur Pädagogik findet.
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