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Epilog

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1912

Nicht ohne Zögern haben wir uns zu einer regelrechten »Bierzeitung« entschlossen, zu jener Form, die in mehr oder weniger plumpem oder persönlichem Witz nur ein verzerrtes Abbild jener »letzten Wahrheiten« gibt, die mancher Schüler seinem Lehrer laut sagen möchte. Doch konnten und wollten wir nicht darauf verzichten, flüchtig und mit möglichst kurzen Worten den Schleier zu lüften von dem, was hinter Scherz, Satire, Ironie liegt, wollten auch von der tieferen Bedeutung dessen reden, was die »Bierzeitung« nur in seinen zufälligen Symptomen fröhlich bekriegt. Und wollten so allem Kleinlichen und Spitzen, was die folgenden Seiten bringen, jede andere als fröhliche Bedeutung nehmen.

In diesem Sinne zuvor einen herzlichen und vorbehaltlosen Dank unseren Lehrern, die uns während einer langen Schulzeit immer wieder Beweise ihrer schweren Arbeit zu unserem Besten gegeben haben.

Zum zweiten aber stellen wir jene so einfache und ernste Frage: Was hat die Schule uns gegeben? Zunächst: Wissen, Wissen, Wissen. Manches davon kann fruchtbar werden, aber jetzt brauchen wir davon nicht zu reden; haben doch gerade die Besten unserer Lehrer uns immer wieder gesagt: »Nicht Wissen ist das, was die Schule Ihnen schließlich mitgeben soll«. – Sondern? – Arbeit und Gehorsam wollte sie uns mitgeben.

Über die Arbeit sprach in einer der letzten Aula-Reden Herr Dr. Steinmann, in der Rede, die eine Epoche bedeutete. Sprach er doch vor Lehrern und Schülern in der Aula einer Schule nicht über Geographie und Technik u.ä., sondern über die Schule. Er meinte, Arbeit sei ein absoluter Wert, es komme nicht darauf an, wofür man arbeite. Wir möchten ihm entgegnen, daß es für den jungen Menschen keine wichtigere Frage gebe, als die nach dem Ziele seiner Arbeit.

Auf diese Frage blieb uns die Schule die Antwort schuldig. Aus eigenster Erfahrung sagen wir, daß bei aller Schularbeit stets das quälende Gefühl des Willkürlichen und Ziellosen uns begleitete. Die Schule hat uns keine allgemeinen ernsten Pflichten gegeben, sondern nur Schulaufgaben. Und diesen täglichen Schulaufgaben gegenüber konnte sich kein lebendiges Pflichtgefühl entfalten, sondern die ewiggestrige Gewohnheit, nicht der Gedanke an ein Morgen, dem unsere Arbeit gelte, beherrschte unser Schulleben. Nicht der Gedanke, daß wir für Güter des Volkes oder der Menschheit, deren bewußte Glieder wir sind, arbeiten, durfte uns leuchten. Wir fassen das zusammen in einem Wort, dessen Schwere wir uns bewußt sind: Die Schule hat uns, indem unsere Arbeit kein Ziel vor sich sah, keine Ideale gegeben. Denn Ideale sind Ziele. (In solchen Gedanken aber mußten wir nicht selten Äußerungen unserer Lehrer über die Schulreform hören, wie: Die Schulreform wünscht Trennung der Schule vom Unterricht, oder: … so weit wir auch kommen mögen, ohne Arbeit wird nie etwas erreicht werden). Wir wollen kein Weniger an Pflichten, sondern ein Mehr: Das Bewußtsein, daß wir selber unsere Arbeit ernst nehmen müssen.

Die Schule hat uns keine Ideale und ernsten Pflichten gegeben. Sie hat uns – welch abgedroschene Phrase – auch keine Rechte gegeben. Wie wir unsere Arbeit nicht ernst nehmen konnten, so durften wir uns selber nicht ernst nehmen. Wir haben keine Schülerschaft bilden dürfen. Viel Freiheiten wurden uns gelassen, wir durften Repetitionen abhalten, durften einen Ausschuß wählen, wir hatten es in dieser Beziehung vielleicht besser, als Schüler mancher anderen Schule. Aber das alles ist Gnade, kein Recht. Es waren Konzessionen an starke Strömungen in der Öffentlichkeit, Experimente, die wir nur allzu deutlich als solche empfinden mußten. Es waren Neuerungen, die nicht als im Wesen der Schülerschaft begründet anerkannt wurden. Und demgemäß konnte alles das auch keinen offenen freudigen Verkehr zwischen Lehrern und Schülern herbeiführen.

Fern von der Schule hat bisher sich der beste Teil unserer Jugend abgespielt, fern von einer Schule, die dieser Jugendlichkeit keine Achtung entgegengebracht und ihr keine Ideale gegeben hat, die da glaubte, sogenannte »Dummejungenstreiche«, Unfug und kindisches Betragen gegen den Lehrer seien Äußerungen wahrer Jugendlichkeit. –

Nichts würden wir tiefer bedauern, als wenn Verstimmung oder gar ein feindlich veränderter Kurs in der Erziehung die Folge dieser mit ernstem Bedacht geschriebenen und weit von Pathetik entfernten Zeilen wäre. Und kein schöneres Ende unserer Schulzeit könnten wir denken, als wenn nicht trotz, sondern auf Grund dieser Zeilen offener Verkehr und offene Aussprache mit unsern Lehrern, die wir während der Schulzeit entbehren mußten, ermöglicht würde.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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