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Gedanken über Gerhart Hauptmanns Festspiel

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1913

I. Der »historische Sinn«

Noch ist die Menschheit nicht zum ständigen Bewußtsein ihres historischen Daseins erwacht. Nur zuzeiten befiel Einzelne und Völker die Erleuchtung, daß sie im Dienste einer unbekannten Zukunft stünden, und es wäre wohl denkbar, solche Erleuchtung als historischen Sinn zu bezeichnen. Aber die Gegenwart versteht darunter etwas ganz Anderes, und denen, die am mächtigsten vom Gefühl einer zukünftigen Aufgabe beseelt sind, wirft sie »Mangel an historischem Sinn« vor. Denn so nennt sie den Sinn für das Bedingte, nicht für das Unbedingte, für das Gegebene, nicht für das Aufgegebene. So stark ist der »historische Sinn« der Zeit, dieser Sinn für Fakten, Gebundenheit und Vorsicht, daß sie vielleicht ganz besonders arm ist an eigentlich »historischen Ideen«. Diese nennt sie meist »Utopien« und läßt sie an den »ewigen Gesetzen« der Natur scheitern. Sie verwirft eine Aufgabe, die nicht in ein Reformprogramm gefaßt werden kann, die eine neue Bewegung der Geister fordert und ein radikales Neu-Sehen. In einer solchen Zeit muß die Jugend sich fremd fühlen und auch machtlos. Denn ein Programm hat sie noch nicht. Da erstand Gerhart Hauptmann ihr als ein Befreier.

II. Hauptmanns Festspiel

Puppen agieren Deutschlands Befreiung. Sie sprechen in Knittelversen. Die Bühne des Puppentheaters ist Europa; die Geschichte – nie gefälscht – ist oft zusammengestrichen. Der Krieg von 1806 ist eine Kriegsfurie, Napoleons Untergang nur das Verblassen eines Bildes. Philistiades tritt auf und unterbricht die Geschichte. Was bedeutet das? Ist es eine »geistvolle Idee«? Nein, es ist tiefe, offenbarende Bedeutung. Nicht die Fakten machen 1813 groß und auch nicht die Personen. Diese Puppen als Personen sind sicherlich nicht groß, sondern primitiv. Ihre Sprache hat keine Weihe, nichts Jambisch-Ewiges. Sondern sie stoßen ihre Worte heraus oder suchen sie oder lassen sie fallen, wie die vor 100 Jahren es taten. Also nicht Geschehnisse, nicht Personen, nicht Sprache tragen den Sinn in sich selbst. Aber die Fakten sind vom Geist geordnet, die Puppen aus dem Holze ihrer Idee geschnitzt, die Sprache voller Suchen nach der Idee. Nach welcher Idee? Fragen wir uns, ob wir nicht vor 100 Jahren zu jenen überlegen lächelnden Bürgern gezählt hätten, weil man uns nicht recht antworten konnte auf diese Frage. Denn der »neudeutsche Nationalstaat« war kein Programm, sondern er war nur der deutsche Gedanke. Dieser Gedanke, von keinem dieser Menschen ganz erfaßt, in keinem ihrer Worte klar gesprochen, glühend gemeint in jeder ihrer Taten: er ist der Geist auch dieses Spiels. Vor ihm sind die Menschen Puppen (ohne private Charaktere und Mucken), Puppen in der Macht des Gedankens. Nach dieser Idee dehnen sich die Knittelverse: als sprächen die Menschen so lange, bis der Sinn aus ihrer Sprache erstünde. Unter diesen Tätigen aber war auch die Jugend, die sehr unklar war und sehr begeistert, wie ihre Führer.

Aber schon damals lebten die Überschauenden und Reifen. Da sagt zu Blücher der »erste Bürger«:

Ist der Welteroberer einmal perdu,

dann sing ich ganz gern Ihre Melodie.

Und haben Sie ihn zur Strecke gebracht

dann ändert sich alles über Nacht,

dann werde ich mich gewiß nicht sträuben

und etwa gar napoleonisch bleiben.

Wie die Dinge jetzt liegen, werd’ ich zuletzt

immer wieder ins Recht gesetzt.

Und mit der Jugend spricht man heute nicht anders wie damals:

Großmäulige, unreife Gymnasiasten.

Nehmt eure Fibel und geht in die Klasse …

Was, Fritz, Du hier? mein eigner Sohn? …

Überstiegenes Geschwätz! puerile Narrheiten.

Einer antwortet ihnen:

O ihr Knechtseelen! wie ich euch hasse.

Unbewegliche, fühllose, träge Masse.

Ein dicker, schlammiger Most, ohne Gärung,

ohne Feuer und ohne Klärung.

Kein Funke verfängt, kein Strahl durchdringt euch,

kein Geist, doch jeder Fußtritt bezwingt euch.

Beide, Bürger und Studenten, die heute so reden, – hätten sie vor 100 Jahren gelebt, sie hätten nicht anders gesprochen. Denn nicht Erkenntnisse, sondern Gesinnung bestimmen ihr geschichtliches Tun, und Gesinnungen sind durch alle Zeiten die gleichen. An das Ende des Kampfes stellte Hauptmann das Fest, und erst dort erhält Form und Sprache, was die drängende Seele des täglichen Geschehens war. Die deutsche Mutter wird griechische Gestalt annehmen, denn das Fest bedeutet den Eintritt in das Reich der Kultur, zu dem der Kampf nur den Weg bahnte. Athene Deutschland:

Und darum laßt uns Eros feiern! Darum gilt

der fleischgewordnen Liebe dieses Fest, die sich

auswirkt im Geist! Und aus dem Geiste wiederum

in Wort und Ton, in Bildnerei aus Erz und Stein,

in Maß und Ordnung, kurz in Tat und Tätigkeit.

Im Kampfe wird nichts erkämpft als Freiheit. Sie ist die erste Notwendigkeit in der Welt der Gewalten. Im Feste darf der Tag und die besinnungslose Tätigkeit zum Bewußtsein des Geistes gelangen. Das Fest feiert den Frieden als den verborgenen Sinn des Kampfes. Der erkämpfte Friede wird die Kultur bringen.

III. Die Jugend und die Geschichte

Schule und Haus schieben unsere ernstesten Gedanken als Phrase beiseite. Unsere Furcht vor dem Oberlehrer ist fast symbolisch; er mißversteht uns beständig, erfaßt nur unsere Buchstaben, nicht unsern Geist. Wir sind furchtsam vor vielen Erwachsenen, denn sie nehmen peinlich genau, was wir sagen, aber nie verstehen sie, was wir meinen. Sie schulmeistern die Gedanken, die noch kaum in uns selber entstanden.

Nun wissen wir, daß Unklarheit kein Vorwurf ist, daß noch niemand, der Ernstes wollte, ein Programm für die Neugierigen und die Skeptiker bereit hatte. Zwar mangelt uns der »historische Sinn«. Aber doch fühlen wir uns blutsverwandt mit der Geschichte, nicht mit der vergangenen, sondern mit der kommenden. Wir werden nie die Vergangenheit verstehen, ohne die Zukunft zu wollen.

Die Schule macht uns indifferent, sie will uns sagen, Geschichte sei der Kampf zwischen dem Guten und Bösen. Und früher oder später setzt sich doch das Gute durch. Da hat es keine Eile mit dem Handeln. Die Gegenwart, sozusagen, ist nicht aktuell – die Zeit ist unendlich. Uns aber will scheinen, als sei Geschichte ein strengerer und grausamerer Kampf. Nicht um Werte, die schon feststehen – um Gutes und Böses. Sondern wir kämpfen für die Möglichkeit der Werte überhaupt, die ständig bedroht ist, für die Kultur, die in ewiger Krisis lebt: denn mit jeder Gegenwart werden die alten Werte älter; was Schwungkraft war wird Trägheit, Geist wird Dummheit. Und überdem geht das eine, größte historische Gut verloren: die Freiheit. Freiheit aber ist kein Programm, sondern nur erst der Wille dazu, eine Gesinnung.

Die Geschichte ist der Kampf zwischen den Begeisterten und den Trägen, den Zukünftigen und den Vergangenen, den Freien und Unfreien. Die Unfreien werden stets den Kanon ihrer Gesetze uns vorweisen können. Wir aber werden das Gesetz, unter dem wir stehen, noch nicht nennen können. Daß es Pflicht ist, fühlen wir. In diesem Gefühl wird die Jugend Mut haben zu dem, was die andern Phrase nennen. Sie wird handeln und mögen andere sie verworren nennen. Sie ist verworren wie der Geist der Geschichte. Er erstrahlt erst im Fest.

Gerhart Hauptmann danken wir einen jugendlichen Sinn des Kampfes und Festes.

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