Читать книгу Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter Benjamin - Страница 187
Der Moralunterricht
Оглавление1913
Vielleicht ist man versucht, alle theoretischen Erörterungen über Moralunterricht von vornherein mit der Behauptung abzuschneiden: moralische Beeinflussung ist eine durchaus persönliche Angelegenheit, die sich jeder Schematisierung und Normierung entzieht. Mag dieser Satz richtig sein oder nicht; die Tatsache, daß Moralunterricht als allgemein und notwendig gefordert wird, kümmert sich jedenfalls nicht um ihn; und solange Moralunterricht theoretisch gefordert wird, muß die Forderung auch theoretisch geprüft werden.
Im folgenden soll versucht werden, den Moralunterricht rein auf sich selbst zu stellen. Es soll nicht gefragt werden, inwieweit eine relative Besserung gegenüber einem unzulänglichen Religionsunterricht erreicht wird, sondern wie der Moralunterricht zu absoluten pädagogischen Forderungen sich verhält.
Wir stellen uns auf den Boden der Kantischen Ethik (denn für diese Frage ist eine Verankerung im Philosophischen unentbehrlich). Kant unterscheidet Legalität und Moralität, ein Unterschied, der gelegentlich ausgedrückt wird: »Bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetze gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen.« Zugleich ist damit eine weitere Bestimmung des sittlichen Willens gegeben: er ist »motivfrei«, einzig bestimmt durch das Sittengesetz, die Norm: handle gut.
Durch zwei paradoxe Sätze Fichtes und des Konfuzius fallt ein helles Licht auf diese Gedankenreihe.
Fichte leugnet die ethische Bedeutung des »Konflikts der Pflichten«. Augenscheinlich gibt er da nur eine Deutung unseres Gewissens; wenn wir in Erfüllung einer Pflicht eine andere vernachlässigen müssen, so geraten wir wohl in eine – sozusagen – technische Bedrängnis, doch innerlich fühlen wir uns nicht schuldig. Denn das Sittengesetz verlangt nicht, daß dies und jenes Materielle, sondern, daß das Sittliche getan werde. Das Sittengesetz ist Norm des Handelns, aber nicht sein Inhalt.
Nach Konfuzius birgt das Sittengesetz die doppelte Gefahr, daß es dem Weisen zu hoch, dem Toren zu niedrig erscheine. Das besagt: der empirische Vollzug der Sittlichkeit ist niemals in der sittlichen Norm bezeichnet – und so ist es Überschätzung, wenn man in ihr schlechthin jedes empirische Gebot gegeben glaubt; gegen den Toren aber wendet sich Konfuzius, indem er meint, daß jede noch so legale Tat sittlichen Wert nur erhält, wenn sie sittlich gemeint war. – Damit kommen wir wieder zu Kant und seiner berühmten Formulierung: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.« Dieser Satz, richtig verstanden, enthält die ganze Grundgesinnung der Kantischen Ethik, auf die allein es uns hier ankommt. »Wille« bedeutet in diesem Zusammenhang nichts Psychologisches. Der Psycholog konstruiert in seiner Wissenschaft eine psychologische Tat, und bei deren Zustandekommen bildet der Wille als Ursache höchstens einen Faktor. Dem Ethiker kommt es auf das Sittliche der Tat an, und sittlich ist sie nicht, sofern sie aus zahlreichen Gründen, sondern sofern sie aus der einen sittlichen Absicht hervorging; der Wille des Menschen faßt seine Verpflichtung gegen das Sittengesetz auf; darin erschöpft sich seine ethische Bedeutung.
Wir stehen hier vor einer Überlegung, die geeignet scheint, den Ausgangspunkt aller Erwägungen über sittliche Erziehung zu bilden. Denn die Einsicht in die Antinomie der sittlichen Erziehung, die vielleicht nur ein Einzelfall einer allgemeinen Antinomie ist, liegt vor uns:
Ziel der sittlichen Erziehung ist Bildung des sittlichen Willens. Und doch ist nichts unzugänglicher, als eben dieser sittlicher Wille, da er als solcher keine psychologische Größe ist, die man mit Mitteln behandeln könnte. In keiner einzelnen empirischen Beeinflussung haben wir die Gewähr, wirklich den sittlichen Willen als solchen zu treffen. Der Hebel für die Handhabung der sittlichen Erziehung fehlt. So unzugänglich das reine und doch allein gültige Sittengesetz ist, so unnahbar ist dem Erzieher der reine Wille.
Diese Tatsache in ihrem ganzen Gewicht zu begreifen, ist Voraussetzung einer Theorie der sittlichen Erziehung. Sogleich muß gefolgert werden: da der Vorgang der sittlichen Erziehung prinzipiell jeder Rationalisierung und Schematisierung widerstreitet, so kann er nichts mit irgendeiner Art von Unterricht zu tun haben. Denn im Unterricht besitzen wir das (prinzipiell) rationalisierte Erziehungsmittel. – Wir begnügen uns hier mit dieser Deduktion, um unten diesen Satz in der Betrachtung des gegebenen Moralunterrichts lebendig zu machen.
Ist nun etwa der Bankerott der sittlichen Erziehung die Folge dieser Überlegungen? Das wäre nur dann der Fall, wenn Irrationalismus den Bankerott der Erziehung bedeutete. Irrationalismus bedeutet lediglich den Bankerott einer exakten Erziehungswissenschaft. Und der Verzicht auf eine wissenschaftlich geschlossene Theorie der moralischen Erziehung scheint uns wirklich die Folge des Gesagten. Immerhin soll im folgenden versucht werden, die Möglichkeit einer sittlichen Erziehung als eines Ganzen, wenn auch nicht in systematischer Geschlossenheit im einzelnen, zu entwerfen.
Hier scheint das Prinzip der Freien Schulgemeinde, der sittlichen Gemeinschaft grundlegend. Die Form, in der in ihr die sittliche Erziehung vor sich geht, ist Religiosität. Denn diese Gemeinschaft erlebt immer aufs neue einen Prozeß in sich, der Religion erzeugt und religiöse Betrachtung weckt, den Prozeß, den wir »Gestaltgewinnung des Sittlichen« nennen möchten. Wie wir schon sahen, steht das Sittengesetz jedem Empirisch-Sittlichen (als einem Empirischen) beziehungslos fern. Und doch erlebt die sittliche Gemeinschaft es immer wieder, wie die Norm sich umsetzt in eine empirische legale Ordnung. Bedingung eines solchen Lebens ist Freiheit, die dem Legalen seine Einstellung auf die Norm ermöglicht. Durch diese Norm aber wird der Begriff der Gemeinschaft erst gewonnen. Das Ineinander von sittlichem Ernst im Bewußtsein gemeinschaftlicher Verpflichtung und von Bestätigung der Sittlichkeit in der Ordnung der Gemeinschaft, scheint das Wesen der sittlichen Gemeinschaftsbildung zu sein. Aber es widerstrebt als ein religiöser Prozeß jeder näheren Analyse.
Damit stehen wir vor einer eigenartigen Umkehrung sehr aktueller Behauptungen. Während sich heute allerorts die Stimmen mehren, die Sittlichkeit und Religion für prinzipiell unabhängig voneinander halten, scheint es uns, daß erst in der Religion, und nur in der Religion der reine Wille seinen Inhalt findet. Der Alltag einer sittlichen Gemeinschaft ist religiös geprägt.
Dies ist theoretisch und positiv über sittliche Erziehung zu sagen, bevor eine Kritik des bestehenden Moralunterrichtes gegeben werden kann. Und auch bei dieser Kritik werden wir uns stets die bezeichnete Gesinnung gegenwärtig halten müssen. Rein dogmatisch gesagt liegt die tiefste Gefahr des Moralunterrichts in der Motivation und Legalisierung des reinen Willens, d. h. in der Unterdrückung der Freiheit. Wenn der Moralunterricht wirklich die sittliche Bildung des Schülers sich zum Ziel setzt, steht er vor einer unerfüllbaren Aufgabe. Wollte er bei dem Allgemeingültigen bleiben, so käme er nicht über das hier Gesagte oder gewisse Kantische Lehren hinaus. Näher läßt sich mit den Mitteln des Intellekts, d. h. allgemeingültig das Sittengesetz nicht erfassen. Denn wo es seine konkreten Inhalte erhält, ist es bestimmt von der Religiosität des einzelnen. Und die hierdurch gesetzte Schranke zu übertreten, in das noch ungestaltete Verhältnis des einzelnen zur Sittlichkeit einzudringen, verwehrt Goethes Wort: »Das Höchste im Menschen ist gestaltlos und man soll, sich hüten, es anders als in edler Tat zu gestalten.« Wer erlaubt sich heute (außerhalb der Kirche) noch die Mittlerrolle zwischen Mensch und Gott; oder wer möchte sie in die Erziehung einführen, da wir erwarten, daß alle Sittlichkeit und Religiosität aus dem Alleinsein mit Gott entspringe?
Daß der Moralunterricht kein System hat – daß er sich eine unerfüllbare Aufgabe gesetzt hat – es ist der zweifache Ausdruck der gleichen, verfehlbaren Grundlage.
So bleibt ihm denn nichts weiter übrig, als anstatt der moralischen eine seltsame Art von staatsbürgerlicher Erziehung zu betreiben, in der alles Notwendige noch einmal freiwillig und alles im Grunde Freiwillige notwendig sein soll. Man glaubt, die sittliche Motivierung durch rationalistische Beispiele ersetzen zu können, und sieht nicht, daß darin die Sittlichkeit schon wieder vorausgesetzt ist1233. Etwa wenn man dem Kinde am Frühstückstisch die Nächstenliebe nahelegt, indem man ihm die Arbeit der Vielen schildert, denen es erst seinen Genuß verdankt. Es mag traurig sein, daß das Kind derartige Einblicke ins Leben oft erst im Moralunterricht erhält. Aber Eindruck übt diese Ausführung doch nur auf ein Kind aus, das Sympathie und Nächstenliebe schon kennt. Nur in der Gemeinschaft, nicht im Moralunterricht wird es diese erfahren.
Nebenbei sei bemerkt: die »spezifische Energie« des moralischen Sinnes, moralisches Einfühlungsvermögen wächst wohl nicht im Aufnehmen der Motivationen, des Stoffes, sondern nur in der Betätigung. Es besteht die Gefahr, daß der Stoff bei weitem die moralische Reizbarkeit übersteige und sie abstumpfe.
Eine gewisse Skrupellosigkeit der Mittel zeichnet den Moralunterricht aus, da er ja über die eigentlich sittliche Motivierung nicht verfügt. Nicht nur rationalistische Überlegungen, mit Vorliebe auch psychologische Erregungen müssen ihm dienen. Selten geht man wohl so weit, wie ein Redner auf dem Berliner Kongreß für Moralunterricht, der unter anderem riet, sogar an den Egoismus des Schülers zu appellieren (hier kann es sich nur noch um ein Mittel zur Legalität, nicht mehr zur sittlichen Erziehung handeln). Aber auch die Berufung auf Heldenmut, jegliches Fordern und Loben des Außerordentlichen, soweit es auf Gefühlsexaltation hinausläuft, hat mit der Stetigkeit der moralischen Gesinnung nichts zu tun. Kant wird nicht müde, solche Praktiken zu verurteilen. – Im Psychologischen liegt noch die besondere Gefahr einer sophistischen Selbstanalyse. In ihr erscheint alles notwendig, gewinnt genetisches Interesse, statt des moralischen. Wohin führt es, wenn man etwa die Arten der Lüge zerlegt und aufzählt, wie ein Moralpädagog vorschlägt?
Wie gesagt, wird das eigentlich Sittliche notwendigerweise umgangen. Dafür noch ein bezeichnendes Beispiel, wie die vorherigen der »Jugendlehre« von Foerster entnommen. Ein Junge wird von seinen Kameraden geschlagen. Foerster argumentiert: Du schlägst zurück, um deinem Selbstbehauptungstrieb zu genügen; wer aber ist dein stetester Feind, gegen den Abwehr am nötigsten ist? Deine Leidenschaft, dein Vergeltungstrieb. Also behauptest du dich im Grunde, indem du nicht zurückschlägst, den inneren Trieb unterdrückst. Dies ein Beispiel für psychologische Umdeutung. In einem ähnlichen Fall wird dem Knaben, den seine Kameraden schlagen, in Aussicht gestellt, er werde schließlich doch siegen, wenn er sich nicht wehre, und die Klasse werde ihn in Ruhe lassen. Aber eine Berufung auf den Ausgang hat mit sittlicher Motivation nicht das geringste zu tun. Die Grundstimmung des Sittlichen ist Abkehr, nicht Motivierung durch den eigenen, noch überhaupt einen Nutzen.
Es würde den Raum überschreiten, in die minutiöse und moralisch oft geradezu gefährliche Praktik weitere Einblicke zu gewähren. Von den technischen Analogien zur Moral, von der moralistischen Behandlung der nüchternsten Dinge wollen wir schweigen. Zum Schluß folgende Szene aus einer Schreibstube. Der Lehrer fragt: »Welche schlimmen Dinge wird wohl derjenige tun, der sich nicht dazu zwingt, mit den Buchstaben ganz genau die bezeichnete Linie einzuhalten, sondern stets darüber hinausgleitet?« Die Klasse soll eine erstaunliche Fülle von Antworten geliefert haben. Ist das nicht schlimmste Kasuistik? Zwischen derartigen (graphologischen) Beschäftigungen und moralischem Gefühl besteht keine Verbindung mehr.
Diese Art des Moralunterrichtes ist übrigens keineswegs, wie behauptet wird, unabhängig von den herrschenden Moralanschauungen, eben von der Legalität. Im Gegenteil: die Gefahr, die legale Konvention zu überschätzen, ist unmittelbar gegeben, da der Unterricht mit seiner rationalistischen und psychologischen Begründung niemals die sittliche Gesinnung, sondern nur das Empirische, Vorgeschriebene treffen kann. Oft wird das selbstverständliche Wohlverhalten auf dem Grunde solcher Überlegungen dem Schüler außerordentlich bedeutend erscheinen. Der nüchterne Begriff der Pflicht droht verlorenzugehen.
Will man aber trotz allem und wider bessere Überlegung Moralunterricht, so suche man die Gefahren auf. Gefährlich sind heute nicht mehr die urchristlichen Gegensätze: »gut-böse« gleich »geistig-sinnlich«, sondern das »Sinnlich-Gute« und das »Geistig-Böse«, die beiden Formen des Snobismus. In diesem Sinne könnte der »Dorian Gray« von Wilde einem Moralunterricht zugrunde gelegt werden.
Wenn so der Moralunterricht weit entfernt ist, einer absoluten pädagogischen Forderung zu genügen, so kann und wird er doch seine Bedeutung als Übergangsstadium haben. Nicht sowohl, indem er ein, wie wir sahen, höchst unvollkommenes Glied in der Entwicklung des Religionsunterrichtes darstellt, als dadurch, daß er dem Mangel der jetzigen Bildung Ausdruck gibt. Der Moralunterricht bekämpft das Peripherische, Überzeugungslose unseres Wissens, die intellektuelle Isoliertheit der Schulbildung. Es wird sich darum handeln, des Bildungsstoffes nicht von außen, mit der Tendenz des Moralunterrichtes, Herr zu werden, sondern die Geschichte des Bildungsmaterials, des objektiven Geistes selbst zu erfassen. In diesem Sinne muß man hoffen, daß der Moralunterricht den Übergang zu einem neuen Geschichtsunterricht darstelle, in dem dann auch die Gegenwart ihre kulturhistorische Einordnung findet.
—————