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Romantik

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Eine nicht gehaltene Rede an die Schuljugend

1913

Kameraden! Wenn wir schon irgendeinmal an uns gedacht haben, nicht an uns als Einzelne, sondern an uns als Gemeinschaft, als Jugend, oder wenn wir von der Jugend gelesen haben, – immer wieder dachten wir uns, daß sie wohl romantisch sei. Tausende von guten und schlechten Gedichten sagen es, von Erwachsenen hören wir, daß sie alles darum geben würden, noch einmal jung zu sein. Das ist doch alles Wirklichkeit, die wir wohl in Augenblicken ganz überraschend und froh fühlen, wenn wir eine gute Arbeit gemacht haben, eine Kletterpartie, etwas gebaut haben, oder eine mutige Erzählung lesen. – Kurz und gut: ungefähr so, wie mir plötzlich einmal – ich weiß noch, es war auf einer Treppenstufe – zum Bewußtsein kam: ich bin doch noch jung (ich war wohl 14 Jahre alt, und was mich so froh machte, war, daß ich von einem Luftschiff gelesen hatte).

Jugend ist ganz umgeben von Hoffnung, Liebe und Bewunderung: derer, die noch nicht jung sind, der Kinder, und derer, die es nicht mehr sein können, weil sie ihren Glauben an ein Besseres verloren haben. Das fühlen wir: daß wir Repräsentanten sind, jeder einzelne von uns steht für Tausende, so wie jeder Reiche für Tausende von Proletariern, jeder Begabte für Tausende Unbegabter steht. Wir dürfen uns fühlen als Jugend von Gottes Gnaden, wenn wir es so verstehen.

Und nun denke ich mir, wir wären auf einem Jugendkongreß mit Hunderten oder Tausenden junger Teilnehmer. Plötzlich höre ich Zwischenrufe: Phrase – Unsinn! und ich sehe auf die Bänke, und neben ganz wenigen von Stürmischen, die mich unterbrechen, liegen da Hunderte fast schlafend. Einer oder der andere richtet sich ein wenig auf, scheint mich aber nicht ernst zu nehmen.

Da fällt mir etwas ein:

»Ich sprach von der Jugend von Gottes Gnaden, ich sprach von unserem Leben, wie es in der Tradition ist, der Literatur, bei den Erwachsenen. Aber die Jugend, zu der ich rede, schläft oder zürnt. Etwas muß faul sein im Staate Dänemark. Und ich danke Eurem Schlaf und Zorn, denn davon wollte ich reden. Ich wollte fragen: was halten wir von der Romantik? Haben wir sie? Kennen wir sie? Glauben wir an sie? Tausendstimmiges Lachen und ein einzelstimmiges leidenschaftliches Nein.«

»Also wir verzichten auf die Romantik, wir vielleicht als die erste Jugend wollen die nüchterne Jugend sein?«

Wieder ertönte es »nein«, von dem nur drei oder vier ganz klare Stimmen mit ihrem »ja« sich abhoben. Da sagte ich weiter:

»Ihr habt mir geantwortet, und ich selber antworte mit. Allen denen, die glauben eine zeitlose Jugend vor sich zu haben, eine ewig romantische, die ewig sichere, die den ewigen Weg ins Philisterium geht. Wir sagen ihnen: Ihr belügt uns und Euch. Mit Euren väterlichen Gesten, mit Eurer weihräuchernden Verehrung raubt Ihr uns das Bewußtsein. Ihr erhebt uns in rosige Wolken, bis wir den Boden unter den Füßen verloren haben. Dann gewärtigt Euch immer mehr eine Jugend, die in narkotischem Individualismus schläft. Das Philisterium lähmt uns, damit es allein die Zeit beherrsche; wenn wir uns aber lähmen lassen, von den idealischen Narkosen, dann sinken wir ihm schnell nach, und die Jugend wird die Generation der späteren Philister.«

Ich weiß nicht, Kameraden, aber ich fürchte, damit bin ich bei der Romantik. Nicht bei der Romantik, bei keiner wahren, aber bei einer sehr mächtigen und gefährlichen. Es ist genau dieselbe, die uns Schillers keusche weltbürgerliche Klassik zersetzt in bequeme Gemütlichkeitspoesie für Bürgertreue und Partikularismus. Aber ich will der falschen Romantik etwas nachgehen. Sie klebt uns an auf Schritt und Tritt, und ist doch nichts, als das fettige Kleid, das ein besorgtes Philisterium uns umwarf, damit wir selber uns nicht recht erkennen sollten.

Unsere Schule steckt voller falscher Romantik. Was man uns von Dramen gibt, oder von Geschichtshelden, von Siegen der Technik und der Wissenschaft, das ist unwahr. Wir erhalten es außerhalb des geistigen Zusammenhangs. Diese Dinge, von denen man uns sagt, daß sie uns bilden sollen, sind ewige Einzeltatsachen und Kultur ein glücklicher Zufall. Manche Schule mag nicht einmal weit genug sein, ihn einen glücklichen zu nennen. Denn wo erfahren wir je von der lebendigen Geschichte, die den Geist zum Siege führt, in der der Geist seine Eroberungen erficht, die er selber bildet? Man lullt uns ein, macht uns gedankenlos und tatenlos, da man uns die Geschichte verschweigt. Das Werden der Wissenschaft, das Werden der Kunst, das Werden des Staates und des Rechtes. Damit wurde uns die Religion des Geistes, aller Glaube an ihn genommen. Das war die falsche Romantik, daß wir in allem unendlich Einzelnen das Außerordentliche sehen sollten, anstatt es im Werden des Menschen, in der Geschichte der Humanität zu sehen. So macht man eine unpolitische Jugend, die ewig beschränkt ist auf Kunst, Literatur und Liebeserlebnisse, auch darin ungeistig und dilettantisch. Die falsche Romantik, Kameraden, diese groteske Isoliertheit vom Werden, in die man uns setzte, hat viele von uns blasiert gemacht; solange mußten sie an das Nichtige glauben, bis der Glaube selbst ihnen nichtig wurde. Die Ideallosigkeit unserer Jugend ist der letzte Rest ihrer Ehrlichkeit.

So steht es um die Bildung einer Jugend, Kameraden, die man in krampfhafter Bemühung isoliert vom Wirklichen, die man umnebelt mit Objektivitäts-Romantik, mit Ideal-Romantik, mit Unsichtbarkeiten. Wir wollen nicht eher hören von Griechentum und Germanentum, von Moses und Christus, von Arminius und Napoleon, von Newton und Euler, bis man uns den Geist in ihnen zeigt, die fanatische tätige Wirklichkeit, in der diese Zeiten und Menschen lebten und in der sie ihre Gesinnung erfüllten.

So steht es um die Romantik der Schulbildung, die uns alles unwahr und unwirklich macht.

Also, Kameraden, begannen wir uns stürmisch uns selber zuzuwenden. Wir wurden die viel gelästerte, individualistische und Übermenschen-Jugend. Das war wirklich kein Wunder, daß wir dem Ersten jubelnd zufielen, der uns zu uns selber rief, zum Geist und zur Ehrlichkeit. Das war sicherlich Friedrich Nietzsches Mission unter der Schuljugend, daß er ihr etwas über das Morgen und Gestern und Heute von Schulaufgaben wies. Sie konnte es nicht mehr tragen. Und sie machte auch diese Idee zur Pose, wie man sie stets zu solchem Verfahren gezwungen hatte.

Jetzt rede ich vom Allertraurigsten. Wir, die wir mit Nietzsche aristokratisch sein wollten, anders, wahr, schön, wir hatten ja keine Ordnung in der Wahrheit, keine Schule der Wahrheit. Noch weniger haben wir einen Platz der Schönheit. Wir haben gar keine Formen mehr, Du zueinander zu sagen, daß es nicht schon gewöhnlich klänge. Wir sind so unsicher von der ewigen idealen Pose geworden, die die Schule uns aufzwingt, von ihrer mürben Feierlichkeit, daß wir zueinander gar nicht mehr edel und frei zugleich sein können. Sondern: Frei und unedel oder edel und unfrei.

Wir brauchen eine schöne und freie Gemeinschaft, damit das Allgemeine auszusprechen sei, ohne gemein zu werden. Diese Möglichkeit haben wir noch nicht und die wollen wir uns schaffen. Wir scheuen uns nicht, zu sagen, daß wir noch trivial sein müssen, wenn wir von diesem Jugendlichen reden. (Oder wir müssen eine weltfremde akademische oder eine ästhetische Geste annehmen.) Noch sind wir so unkultiviert in unserm Gemeinschaftlichen, daß Ehrlichkeit banal wirkt.

Also sieht es so aus, wenn das Erotische, von dem wir alle fühlen, wie sehr es der Offenheit bedarf – wenn es sich einmal aus der verschwiegenen Dunkelheit hervorwagt:

Daß die Schuljugend sich in Kinos austobt (Oh, was nützt es, die Kinos zu verbieten!), daß Kabarettdarbietungen, gut genug, die überreizten Sexualgefühle Fünfzigjähriger zu beleben, jungen Studenten zugemutet werden! Im Erotischen, wo zum mindesten die reife Jugend zwischen 20 und 30 den Ton angeben sollte, läßt diese Jugend sich umgeben und ersticken von greisenhaften und perversen Gepflogenheiten. Längst ist man gewohnt, das empfindliche, wenn Ihr wollt prüde, Sexualempfinden des jungen Menschen zu übersehen. Die Großstadt reitet täglich und nächtlich ihre Attacke gegen ihn. Aber man drückt lieber die Augen zu, als daß man eine jugendliche Geselligkeit schaffte. Nachmittage, an denen junge Menschen Zusammenkommen und in ihrer erotischen Atmosphäre leben dürften, anstatt eine gedrückte und lächerliche Minderheit bei den Gastereien der Erwachsenen zu bilden. (Das Symposion wird auf der Schule nicht gelesen; aber wenn Egmont sagt, daß er nachts sein Liebchen besuche – das wird gestrichen.) –

Immerhin: eines ist tröstlich, so verpönt dergleichen zu sagen ist, so gestaltet es sich doch und entsteht, – verborgen jedoch, statt frei.

Das ist die alte Romantik, genährt nicht von uns, nicht von unseren Besten, sondern von denen, die uns zu einer tatenlosen Nachbetung des Bestehenden erziehen wollen. Und dagegen habe ich Euch, Kameraden, eine neue Romantik, ganz unbestimmt, ganz fern, dennoch, wie ich hoffe, gewiesen. Eine Romantik, die in ihrer Haltung bezeichnet sein soll durch Offenheit, die wir am schwersten im Erotischen uns gewinnen werden und die doch von da aus unser tägliches Sein und Gehaben durchdringen soll. Eine Romantik der Wahrheit, die geistige Zusammenhänge, die Geschichte der Arbeit, erkennen soll; diese Erkenntnis sich zum Erlebnis werden läßt, um höchst unromantisch und nüchtern danach zu handeln.

Das ist die neue Jugend, die Nüchterne und Romantische. Aber wir glauben nicht, daß dieses Romantische entbehrt werden kann, daß es zopfig, jemals überwunden sein könne. Dies ist das Unüberwindliche: der romantische Wille zur Schönheit, der romantische Wille zur Wahrheit, der romantische Wille zur Tat. Romantisch und jugendlich: denn dieser Wille, der dem reifen Manne Notwendigkeit und anerzogene Tätigkeit sein mag, in uns erlebt ihn eine Zeit freiwillig, erstmalig, unbedingt und stürmisch. Er prägt immer die Geschichte sittlich und gibt ihr ihr Pathos, wenn er auch ihren Inhalt ihr nicht gibt.

Und wenn Ihr Euch hier am Schlusse noch einmal umseht, dann gewahrt Ihr vielleicht, fast überrascht, wo eigentlich Ihr steht: an einer Stelle, wo die Romantik zurückgegangen ist zu den Wurzeln alles Guten, Wahren und Schönen, die unbegründbar sind. Wo der narkotische Imperativ »Wein, Weib, Gesang« nicht mehr sinnliche Phrase sein soll: wo Wein Abstinenz bedeuten kann, Weib eine neue Erotik, Gesang kein Bierlied, sondern ein neues Schülerlied.

Aber jetzt schließe ich, denn ich erwarte die Beschuldigung, die ich nicht fürchte: der Jugend ihre Ideale geraubt zu haben.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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