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Die Schulreform, eine Kulturbewegung

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1912

Die erste propagatorische Tat aller, die im Dienste der Schulreform wirken, muß sein: die Schulreform zu erretten von dem Odium, als sei sie ein Interesse der Interessierten oder ein Dilettantensturm gegen den Handwerkerstand der Pädagogen. »Die Schulreform ist eine Kulturbewegung«, das ist der erste Satz, der erfochten werden muß. Nur er rechtfertigt es, wenn aus dem Publikum immer wieder der Ruf nach Schulreform erschallt, wenn er immer wieder ans Volk gerichtet wird. Und anderseits: nur aus dieser Devise klingt aller Ernst und alle Hoffnung derer, die sich dieser Aufgabe widmen. – Eins zuvor! Man wird uns entgegenhalten; »Sehr begreiflich, was Ihr wollt! Kein neuer Gedanke, kein neuer Einfall erwacht in unserer lauten, demokratischen Zeit, der nicht sofort dringend Eingang sucht in die breitesten Massen, jeder will eben eine ›Kulturbewegung‹ sein, denn nicht nur einen Ehrentitel, sondern auch Macht bedeutet dieses Wort.« Und diesem Einwande gegenüber ist zu zeigen, daß die Schulreform jenseits spezieller wissenschaftlicher Thesen steht, daß sie eine Gesinnung, ein ethisches Programm unserer Zeit ist; gewiß nicht in dem Sinne, daß jeder es vertreten müsse, doch mit der Forderung: jeder muß zu ihm Stellung nehmen! – Kurz: in der Schulreformbewegung sprechen sich klar und dringend Bedürfnisse unserer Zeit aus, die, wie wohl all ihre größten Nöte, auf ethisch-kulturellem Gebiete liegen. Die Schulreform ist nicht weniger wichtig, als unser soziales und religiöses Problem – vielleicht aber klarer.

In vieler Hinsicht kann von der Schulreform als einer Kulturbewegung gesprochen werden. Man könnte in jeder Reformbestrebung eine Kulturbewegung sehen: »In allem Neuen liegen lebensvolle Kräfte, ungeformt und gärend, aber verheißungsvoll …« Mit diesen und ähnlichen Vorstellungen gilt es ein für allemal zu brechen. Es ist ebenso sinnlos wie verwerflich, von Kulturbewegungen zu reden, wenn man nicht weiß, welche Bewegungen die Kultur fördern oder hemmen. Jedem Mißbrauch des verheißungsvollen und verführerischen Wortes wollen wir durch Klarheit begegnen. In diesem Sinne und in ganz bewußter, enger Beschränkung, die auch der Raum gebietet, sollen nur drei Elemente, diejenigen drei allerdings, die jedem aussichtsvollen schulreformatorischen Streben zugrunde liegen, als kulturell wertvoll und unersetzlich erwiesen werden.

Was heißt und zu welchem Ende wollen wir Schulreform? so möchten wir Schillers bekanntes Thema variieren. Rudolf Pannwitz hat Erziehung einmal sehr treffend als »Fortpflanzung geistiger Werte« definiert. Das nehmen wir an und fragen nun: was heißt, sich mit der Fortpflanzung geistiger Werte beschäftigen?

Das heißt erstens: wir wachsen hinaus über unsere Gegenwart. Nicht nur, daß wir sub specie aeternitatis denken – indem wir erziehen, leben und wirken wir sub specie aeternitatis. Wir wollen eine sinnvolle Kontinuität in aller Entwicklung; daß alle Geschichte nicht zerfalle in Sonderwillen einzelner Zeiten oder gar Individuen, daß die Aufwärtsentwicklung der Menschheit, an die wir glauben, nicht mehr in dumpfer biologischer Unbewußtheit vor sich gehe, sondern dem zielsetzenden Geiste folge: das wollen wir, d. h. Pflege der natürlichen Aufwärtsentwicklung der Menschheit: Kultur. Der Ausdruck dieses unseres Wollens ist: Erziehung.

Werte fortpflanzen, das heißt aber noch ein Zweites. Nicht nur die Fortpflanzung des Geistigen und in diesem Sinne Kultur wird Problem, sondern die Fortpflanzung des Geistigen, das ist die zweite Forderung. Es erhebt sich die Frage nach den Werten, die wir unsern Nachkommen als höchstes Vermächtnis hinterlassen wollen. Die Schulreform ist nicht nur Reform der Fortpflanzung der Werte, sie wird zugleich Revision der Werte selbst. Das ist ihre zweite grundlegende Bedeutung für das kulturelle Leben.

Im schulreformatorischen Leben unserer Tage offenbart sich klar genug diese doppelte Beziehung zur Kultur. Neue Methoden des Unterrichts und der Erziehung entstehen. Hier handelt es sich um die Art der Fortpflanzung und man kennt die Mannigfaltigkeit der Forderungen, die erhoben werden. Dringend mag man den Ruf nach Wahrhaftigkeit in den Erziehungsmethoden nennen. Man empfindet es als unwürdig, wenn der Lehrer ein Wissen vermittelt, von dessen Notwendigkeit er nicht überzeugt ist, wenn er das Kind, ja, noch den Jüngling mit Maßnahmen (Tadel, Arrest) erzieht, die er selber nicht ernst nimmt, oder wenn er gar mit innerlichem Lächeln – »geschieht ja zu seinem Besten« – ein moralisches Verdammungsurteil fällt. – Die Beziehung auf das Kulturproblem ist ganz klar. Es gilt einen Ausweg zu finden aus dem Widerstreit zwischen natürlicher wahrhaftiger Entwicklung einerseits und der Aufgabe, das natürliche Individuum zum kulturellen umzubilden anderseits, jener Aufgabe, die ohne Gewalt niemals lösbar sein wird.

Doch scheint es fast, als ob hier der Kampf noch ruhe, wenn wir nach dem anderen Schlachtfeld hinüberblicken, wo um die Werte gekämpft wird – die Werte, die der neuen Generation vermacht werden sollen. Es ist ein wüstes Getümmel. Nicht die wenigen Heere weniger Gegner, sondern der erbitterte Kampf aller gegen alle. Neben Schild und Schwert (ev. noch einigen vergifteten Pfeilen) jeder geschmückt mit einer Parteifahne. Die großen Gegner, die im öffentlichen Leben einander zu freierem und froherem Kampfe gefunden haben, die Vertreter großer entgegengesetzter religiöser, philosophischer, sozialer, ästhetischer Anschauungen – auf diesem Felde machen ihnen die Streiter um einzelne Fächer – »Griechisch«, »Englisch«, »Latein in Quarta«, »Latein in Tertia«, »Handfertigkeit«, »Bürgerkunde«, »Turnen« – den Platz streitig. Alles sehr tüchtige, unersetzliche Krieger an sich; doch stiften sie nur Verwirrung, solange sie nicht ihren Platz im Heere eines der großen Streiter gefunden haben – logisch verbunden eben mit den großen Gegensätzen, deren frischer Kampfruf in den Mauern der Schule erstickt wird.

Das engste Band aber zwischen Kultur und Schulreform – die Jugend bildet es. Die Schule ist die Institution, welche der Menschheit das Erworbene als Besitz verwahrt und stets von neuem entgegenbringt. Aber was auch die Schule leiste, es bleibt Verdienst und Leistung der Vergangenheit, wenn auch bisweilen der jüngsten. Der Zukunft kann sie nichts weiter entgegenbringen als strenge Aufmerksamkeit und Ehrfurcht. Die Jugend aber, der die Schule dient, die sendet ihr gerade die Zukunft. Ein Geschlecht empfängt die Schule, in allem Realen und allem Gewissen unsicher, selbstsüchtig vielleicht und unwissend, natürlich und unkultiviert (im Dienste der Schule muß es sich bilden), ein Geschlecht aber zugleich voll der Bilder, die es mitbringt aus dem Lande der Zukunft. Die Kultur der Zukunft ist doch schließlich das Ziel der Schule – und so muß sie schweigen vor dem Zukünftigen, das in der Jugend ihr entgegentritt. Selbst wirken lassen muß sie die Jugend, sich begnügen damit, Freiheit zu geben und zu fördern. Und so sehen wir, wie die dringendste Forderung moderner Pädagogik nichts will als Raum für die werdende Kultur schaffen. In der Jugend, die allmählich lernen soll zu arbeiten, sich selbst ernst zu nehmen, sich selbst zu erziehen, im Vertrauen zu dieser Jugend vertraut die Menschheit ihrer Zukunft, dem Irrationalen, das sie nur verehren kann, der Jugend, die nicht nur soviel mehr erfüllt ist vom Geiste der Zukunft — nein! — die überhaupt soviel mehr erfüllt ist vom Geiste, die die Freude und den Mut neuer Kulturträger in sich fühlt. Es erwacht immer mehr das Bewußtsein vom unbedingten Wert dieser neuen Jugend Froh- und Ernstsinn. Und die Forderung hat man ausgesprochen, die Gesinnung dieser Jugend solle eine öffentliche Meinung, ein Kompaß des Lebens werden. Versteht Ihr nun, Kommilitonen, warum wir uns an Euch Kulturträger wenden?

Jugend, neue Schule, Kultur – das ist der circulus egregius, den wir immer wieder durchlaufen müssen in allen Richtungen.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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