Читать книгу Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter Benjamin - Страница 183
Dialog über die Religiosität der Gegenwart
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Ich hatte einen Freund besucht, in der Absicht, in einem Gespräch Gedanken und Zweifel über die Kunst zu klären, die mir die letzten Wochen gebracht hatten. Es war schon kurz vor Mitternacht, als das Gespräch vom Zweck der Kunst die Wendung auf die Religion nahm.
ich Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir diejenigen nennen würden, die in unserer Zeit ein gutes Gewissen im Kunstgenuß haben. Die Naiven und die Künstler nehme ich aus. Naiv nenne ich die, die von Natur aus fähig sind, in einer augenblicklichen Freude nicht einen Rausch zu empfinden – wie es uns so oft geht – sondern denen eine Freude eine Sammlung des ganzen Menschen ist. Diese Leute haben nicht immer Geschmack, ich glaube fast, ihre Mehrzahl gehört zu den Ungebildeten. Aber sie wissen, was anfangen mit der Kunst, und sie lassen sich nicht von den Kunstmoden verfolgen. Und dann die Künstler: nicht wahr – hier liegt kein Problem? Bei ihnen gehört die Kunstbetrachtung zum Fach.
er Sie als Kulturmensch verraten ja alle Tradition. Wir sind erzogen, nach dem Wert der Kunst nicht zu fragen. L’art pour l’art!
ich Mit Recht sind wir so erzogen. Das l’art pour l’art ist die letzte Schranke, die die Kunst vor dem Philister schützt. Sonst würde jeder Schulze über das Recht der Kunst wie über die Fleischpreise verhandeln. Aber wir haben hier Freiheit. Sagen Sie mir: was halten Sie vom l’art pour l’art? Vielmehr: was verstehen Sie überhaupt darunter? Was heißt das?
er Das heißt ganz einfach: die Kunst ist nicht die Dienerin des Staates, nicht die Magd der Kirche, sie ist nicht mal für das Leben des Kindes. Usw. L’art pour l’art heißt: man weiß nicht wohin mit ihr – mit der Kunst.
ich Ich glaube Sie haben Recht, was die meisten betrifft. Aber wieder nicht für uns. Ich glaube, wir müssen uns von diesem Mysterium des Philisters, dem l’art pour l’art losmachen. Für den Künstler und nur für den ist es gesagt. Für uns hat es einen anderen Sinn. Natürlich soll man nicht an die Kunst gehen, um seine eitlen Phantasien zu empfangen. Wir können uns aber doch nicht mit dem Staunen begnügen. Also »l’art pour nous«! Entnehmen wir dem Kunstwerk Lebenswerte: Schönheit, Formerkenntnis und Gefühl. »Alle Kunst ist der Freude gewidmet. Und es gibt keine höhere und wichtigere Aufgabe, als die Menschen zu beglücken«, sagt Schiller.
er Die Halbgebildeten mit dem l’art pour l’art, mit ihrer ideologischen Begeisterung und persönlichen Ratlosigkeit, mit ihrem technischen Halbverständnis können am allerwenigsten Kunst genießen.
ich Das alles ist überhaupt von einem anderen Standpunkt aus nur Symptom. Wir sind irreligiös.
er Gott sei Dank! wenn Sie unter Religion gedankenlose Autoritätsgläubigkeit verstehen, ja auch nur Wunderglauben, auch nur Mystik. Religion ist mit dem Fortschritt unvereinbar. Ihre Art ist, alle drängenden, expansiven Kräfte in der Innerlichkeit zu einem einzigen erhabenen Schwerpunkt anzuhäufen. Religion ist die Wurzel der Trägheit. Ihre Heiligung.
ich Ich widerspreche Ihnen durchaus nicht. Religion ist Trägheit, wenn Sie Trägheit nämlich die beharrende Innerlichkeit und das beharrende Ziel alles Strebens nennen. Irreligiös sind wir, weil wir nirgends mehr das Beharren beachten. Bemerken Sie, wie man den Selbstzweck, diese letzte Heiligung eines Zieles herabreißt? Wie jedes einzelne, das nicht klar und ehrlich erkannt wird, »Selbstzweck« wird. Weil wir jämmerlich arm an Werten sind, isolieren wir alles. Dann wird aus der Not die obligate Tugend gemacht. Kunst, Wissenschaft, Sport, Geselligkeit – bis zum lumpigsten Individuum geht er hinunter, dieser göttliche Selbstzweck. Jeder stellt etwas dar, bedeutet etwas, ist der Einzige.
der freund Was Sie hier nennen, sind nichts als Symptome einer stolzen, herrlichen Lebensfreude. Wir sind eben weltlich geworden, mein Lieber, und es wird Zeit, daß auch die mittelalterlichsten Köpfe das merken. Wir geben den Dingen ihre eigene Weihe, die Welt ist vollkommen in sich.
ich Zugegeben! Was ist das mindeste, was wir von der Weltlichkeit verlangen? Freude an dieser neuen, modernen Welt. Und was hat aller Fortschritt, alle Weltlichkeit mit Religion zu tun, wenn sie uns nicht eine freudige Ruhe geben? Ich brauche Ihnen doch nicht zu sagen, daß unsere Weltlichkeit ein aufreibender Sport geworden ist? Wir sind gehetzt von Lebensfreude. Es ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sie zu fühlen. Kunst, Verkehr, Luxus, alles ist verpflichtend.
der freund Ich verkenne das nicht. Aber betrachten Sie doch die Erscheinungen. Wir haben in unserem Leben jetzt einen Rhythmus, der zwar von Antike und klassischer Gelassenheit wenig hat. Aber eine neue Art intensiver Freudigkeit ist es. Mag sie noch so oft gezwungen sich zeigen, sie ist da. Wir suchen das Freudige wagemutig. Wir haben alle eine seltsame Abenteuerlust nach dem überraschend Frohen und Wunderbaren.
ich Sie reden sehr unbestimmt, und doch hält uns etwas ab, Sie anzugreifen. Ich fühle, daß Sie im Grunde eine Wahrheit sagen, eine unbanale Wahrheit, die so neu ist, daß sie allein schon im Entstehen Religion vermuten ließe. Trotzdem – unser Leben ist nicht auf diesen reinen Ton gestimmt. Für uns sind in den letzten Jahrhunderten die alten Religionen geborsten. Aber ich glaube nicht so folgenlos, daß wir uns der Aufklärung harmlos freuen dürfen. Eine Religion band Mächte, deren freies Wirken zu fürchten ist. Die vergangenen Religionen bargen in sich die Not und das Elend. Die sind frei geworden. Wir haben vor ihnen nicht mehr die Sicherheit, die unsere Vorfahren dem Glauben an die ausgleichende Gerechtigkeit entnahmen. Das Bewußtsein eines Proletariats, eines Fortschritts, alles Mächte, die die Früheren in ihrem religiösen Dienste ordnungsgemäß befriedigen konnten, um Frieden zu erlangen, sie beunruhigen uns. Sie lassen uns nicht zur Ehrlichkeit kommen, wenigstens nicht in der Freude.
der freund Mit dem Fall der sozialen Religion ist das Soziale uns näher gekommen. Es steht fordernder, zum mindesten gegenwärtiger vor uns. Vielleicht unerbittlicher. Und wir erfüllen es nüchtern und vielleicht streng.
ich Aber bei alledem fehlt uns vollkommen die Achtung vor dem Sozialen. Sie lächeln; ich weiß, daß ich ein Paradoxon ausspreche. Wenn ich das sage, so meine ich, daß unsere soziale Tätigkeit, so streng sie sein mag, an einem krankt: sie hat ihren metaphysischen Ernst verloren. Sie ist eine Sache der öffentlichen Ordnung und der persönlichen Wohlanständigkeit geworden. Fast allen denen, die sich sozial betätigen, ist das nur eine Sache der Zivilisation, wie das elektrische Licht. Man hat das Leid entgöttert, wenn Sie den poetischen Ausdruck verzeihen.
der freund Ich höre Sie wieder der entschwundenen Würde, der Metaphysik nachtrauern. Aber nehmen wir doch die Dinge nüchtern ins Leben hinein! Verlieren wir uns nicht im Uferlosen! Fühlen wir uns doch nicht bei jedem Mittagessen berufen! Ist das keine Kultur, wenn wir etwas aus den Höhen pathetischer Freiwilligkeit zum Selbstverständlichen herabziehen. Ich sollte meinen, alle Kultur beruhe darauf, daß Göttergebote zu menschlichen Gesetzen werden. Welch überflüssige Kraftanstrengung, alles aus dem Metaphysischen zu beziehen!
ich Wenn man noch das Bewußtsein ehrlicher Nüchternheit in unserem sozialen Leben hätte. Aber auch das nicht. Wir liegen in einem lächerlichen Zwischenstaat gefangen: die Toleranz soll soziale Betätigung von aller religiösen Ausschließlichkeit befreit haben – und dieselben, die die soziale Tätigkeit der Aufgeklärten proklamieren, machen aus der Toleranz, aus der Aufklärung, der Indifferenz und sogar der Frivolität eine Religion. Ich bin der letzte, gegen die schlichten Formen des täglichen Lebens zu reden. Wenn man aber diese natürliche soziale Tätigkeit hinterrücks wieder zum heilig-tyrannischen Maßstab der Personen macht, weit über die Notwendigkeit des staatlich Gebotenen hinaus, so ist eben der Sozialismus doch Religion. Und die »Aufgeklärten« heucheln, der Religion gegenüber oder in ihren Forderungen. Ein Wort für viele: Blumentage.
der freund Sie denken hart, weil Sie unhistorisch denken. So viel bleibt wahr: wir sind in einer religiösen Krise. Und noch können wir den wohltätigen, aber eines freien Menschen unwürdigen Druck der religiös-sozialen Verpflichtung nicht entbehren. Noch haben wir uns nicht völlig zur sittlichen Selbständigkeit hochgerungen. Dies ist ja das Wesen der Krisis. Die Religion, die Hüterin sittlicher Inhalte, wurde als Form erkannt, und wir sind dabei, unsere Sittlichkeit als ein Selbstverständliches zu erobern. Noch ist diese Arbeit nicht vollendet, noch haben wir Übergangserscheinungen.
ich Gott sei Dank! Mir graust vor dem Bild sittlicher Selbständigkeit, das Sie beschwören. Religion ist Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote, sagt Kant. D. h.: die Religion garantiert uns ein Ewiges in unserer täglichen Arbeit und das ist es, was vor allem not tut. Ihre gerühmte sittliche Selbständigkeit würde den Menschen zur Arbeitsmaschine machen, für Zwecke, von denen immer einer den anderen bedingt in endloser Reihe. Wie Sie es meinen, ist die sittliche Selbständigkeit ein Unding, Erniedrigung aller Arbeit zum Technischen.
der freund Entschuldigen Sie, aber man sollte glauben, Sie lebten so fern von der Moderne wie der reaktionärste ostpreußische Gutsherr. Gewiß, die technisch-praktische Auffassung hat in der ganzen Natur jede einzelne Lebenserscheinung entseelt, sie hat zuletzt das Leid und die Armut entseelt. Aber im Pantheismus haben wir die gemeinsame Seele aller Einzelheiten, alles Isolierten gefunden. Wir können auf alle obersten göttlichen Zwecke verzichten, denn die Welt, die Einheit alles Mannigfaltigen, ist der Zweck der Zwecke. Es ist ja fast beschämend, hiervon noch zu reden. Schlagen Sie unsere großen lebenden Dichter auf, Whitman, Paquet, Rilke und zahllose andere, orientieren Sie sich in der frei-religiösen Bewegung, lesen Sie die liberalen Blätter, überall haben Sie ein vehement pantheistisches Gefühl. Vom Monismus, der Synthese aller unserer Form zu schweigen. Dies ist die trotz allem lebendige Kraft der Technik, daß sie uns den Stolz der Wissenden gegeben hat und zugleich die Ehrfurcht derer, die das stolze Weltgebäude erkannten. Denn trotz alles Wissens – nicht wahr? – hat noch kein Geschlecht ehrfürchtiger das geringste Leben erkannt, als wir. Und was die Philosophen, von den ersten Ioniern bis zu Spinoza, und die Dichter bis zu dem Spinozisten Goethe beseelt hat, jenes allgöttliche Naturgefühl ist unser Eigentum geworden.
ich Wenn ich Ihnen widerspreche – und ich weiß, ich widerspreche nicht nur Ihnen, sondern der Zeit von ihren simpelsten bis zu manchen bedeutendsten Vertretern – dann fassen Sie das bitte nicht auf als die Sucht, interessant zu erscheinen. Es ist mir wahrhaftig ernst darum, wenn ich sage, daß ich keinen anderen Pantheismus anerkenne als den Humanismus Goethes. Aus seiner Dichtung erscheint die Welt allgöttlich, denn er war ein Erbe der Aufkärung, wenigstens dann, daß nur das Gute ihm wesentlich war. Und was im Munde jedes anderen wesenlos, nicht nur erschienen wäre, nein, wirklich nur inhaltlose Phrase gewesen wäre, das wurde in seinem Munde, und wird in der Gestaltung der Dichter überhaupt, Inhalt. Mißverstehen Sie mich nicht, man kann niemandem sein Recht auf Gefühle streitig machen, aber der Anspruch auf maßgebliche Gefühle ist zu prüfen. Und da sage ich: mag jeder einzelne noch so ehrlich seinen Pantheismus fühlen, maßgeblich und mitteilbar machen ihn nur die Dichter. Und ein Gefühl, das nur möglich ist auf dem Gipfel seiner Gestaltung, zählt nicht mehr als Religion. Das ist Kunst, ist Erbauung, aber nicht das Gefühl, was unser Gemeinschaftsleben religiös gründen kann. Und das soll doch wohl die Religion.
der freund Erlauben Sie. Ich will Sie nicht widerlegen, aber die Ungeheuerlichkeit dessen, was Sie sagen, möchte ich Ihnen an einem Beispiel zeigen: die höhere Schule. In welchem Geiste erzieht sie denn ihre Schüler?
ich Im Geiste des Humanismus – wie sie sagt.
der freund Ihrer Ansicht nach wäre also unsere Schulbildung eine Erziehung für Dichter und für Menschen des stärksten, gestaltungsfähigsten Gefühlslebens?
ich Sie sprechen mir vollkommen aus dem Herzen. Wirklich: ich frage, was soll ein normal veranlagter Mensch mit dem Humanismus? Ist diese reifste Ausgeglichenheit der Erkenntnisse und Gefühle ein Bildungsmittel für junge Menschen, die nach Werten dürsten? Ja, ist der Humanismus, der Pantheismus etwas anderes als die gewaltige Inkarnation der ästhetischen Lebensauffassung? Ich glaube das nicht. Wir können im Pantheismus die höchsten, ausgeglichensten Augenblicke des Glückes erleben – nie und nimmer hat er Kräfte, das sittliche Leben zu bestimmen. Man soll die Welt nicht belachen, nicht beweinen, sondern begreifen. In diesem spinozistischen Wort gipfelt der Pantheismus. NB da Sie mich nach der Schule fragten: die gibt ihren Pantheismus nicht einmal gestaltet. Wie selten geht man ehrlich auf die Klassiker zurück? Das Kunstwerk, diese einzig ehrliche Erscheinung pantheistischen Gefühls, ist verbannt. Und wenn Sie noch eine Ansicht von mir hören wollen, diesem arzneimäßigen Pantheismus, den uns unsere Schule verschrieben hat, verdanken wir die Phrase.
der freund Also zuletzt werfen Sie dem Pantheismus noch Unehrlichkeit vor.
ich Unehrlichkeit … nein, das möchte ich nicht sagen. Aber Gedankenlosigkeit, die werfe ich ihm vor. Denn die Zeiten sind nicht mehr die Goethes. Wir haben die Romantik gehabt und ihr verdanken wir die kräftige Einsicht in die Nachtseite des Natürlichen: es ist nicht gut im Grunde, es ist sonderbar, grauenhaft, furchtbar, scheußlich – gemein. Aber wir leben, als wäre die Romantik nie gewesen, als wäre es am ersten Tage. Darum nenne ich unseren Pantheismus gedankenlos.
der freund Ich glaube fast, ich bin auf eine fixe Idee bei Ihnen gestoßen. Offen gestanden, ich verzweifele, das Einfache und doch Elementare des Pantheismus Ihnen begreiflich zu machen. Mit mißtrauischer logischer Schärfe werden Sie niemals das Wunderbare des Pantheismus verstehen, daß in ihm gerade das Häßliche und Schlechte als Notwendiges und daher Göttliches erscheint. Ein seltenes Heimatgefühl gibt diese Überzeugung, jenen Frieden, den Spinoza unübertrefflich Amor dei genannt hat.
ich Ich gebe zu, daß der Amor dei als Erkenntnis, als Einsicht mit meiner Vorstellung von Religion sich nicht verträgt. Der Religion liegt ein Dualismus zu Grunde, ein inniges Streben nach Vereinigung mit Gott. Ein einzelner Großer mag auf dem Wege der Erkenntnis dahin gelangen. Die Religion spricht die mächtigeren Worte, sie ist fordernder, sie kennt auch das Ungöttliche, sogar den Haß. Eine Göttlichkeit, die allerorten ist, die wir jedem Erlebnis und jedem Gefühl mitteilen, ist Gefühlsvergoldung und Profanation.
der freund Sie irren, denn Sie meinen, der notwendige religiöse Dualismus fehle dem Pantheismus. Durchaus nicht. Ich sagte schon vorher, daß bei aller tiefen wissenschaftlichen Erkenntnis ein Gefühl der Demut vor dem kleinsten Lebenden, sogar vor dem anorganischen in uns wohnt. Nichts liegt uns ferner, als schülermäßige Überhebung. Sagen Sie doch selbst: sind wir nicht von tiefstem, mitfühlendem Verständnis für alles Geschehen? Denken Sie nur an moderne Strömungen im Strafrecht. Sogar den Verbrecher wollen wir als Menschen achten. Wir verlangen Besserung, nicht Strafe. Durch unser Gefühlsleben zieht sich der wahrhafte religiöse Antagonismus, von eindringendem Verständnis und einer Demut, die ich fast resignierend nennen möchte.
ich In diesem Antagonismus sehe ich nur Skepsis. Eine Demut, die alle wissenschaftliche Erkenntnis verneint, weil sie mit Hume an der Geltung des Kausalgesetzes zweifelt, oder ähnliche laienhafte Spekulation nenne ich nicht religiös. Das ist einfach gefühlsselige Schwachheit. Wenn unsere Demut wiederum das Bewußtsein unseres Wertvollsten, wie Sie das Wissen nennen, untergräbt, so gibt sie keinen lebendigen, religiösen Antagonismus, sondern skeptische Selbstzersetzung. Aber ich weiß genau, daß gerade das den Pantheismus so ungeheuer behaglich macht, daß man sich in Hölle und Himmel, in Hochmut und Skepsis, in Übermenschentum und sozialer Demut gleich gemütlich fühlt. Denn natürlich – ohne ein bißchen unpathetisches, ich meine leidloses Übermenschentum geht es nicht ab. Wo Schöpfung göttlich ist, da ist der Herr der Schöpfung es natürlich erst recht.
der freund Eines vermisse ich doch bei allem was Sie sagen. Die Erhabenheit eines allbeherrschenden Wissens konnten Sie mir nicht beschreiben. Und das ist ein Grundpfeiler unserer Überzeugung.
ich Was ist denn dieses unser Wissen für uns? Ich frage nicht, was es für die Menschheit bedeutet. Sondern welchen Erlebniswert hat es für jeden Einzelnen? Nach dem Erlebnis müssen wir doch fragen. Und da sehe ich nur, daß dieses Wissen uns eine Gewohnheits-Tatsache geworden ist, mit der wir vom sechsten Jahre an aufwachsen bis ans Ende. Wir wiegen uns immer in der Bedeutung dieses Wissens für irgendein Problem, für die Menschheit – für das Wissen selbst. Aber persönlich geht es uns nichts an, läßt es uns kühl, wie alles Gewohnte. Was haben wir gesagt, als man den Nordpol erreichte. Eine Sensation, die bald vergessen war. Als Ehrlich die Mittel gegen die Syphilis entdeckte, Skepsis und Zynismus der Witzblätter. Eine russische Zeitung schrieb, es sei zu bedauern, daß das Laster nun freies Spiel habe. Kurz gesagt: ich glaube einfach nicht an die religiöse Erhabenheit des Wissens.
der freund Müssen Sie denn nicht verzweifeln? Glauben Sie an nichts? Sind Sie Skeptiker an Allem?
ich Ich glaube an unsere eigene Skepsis, unsere eigene Verzweiflung. Sie werden verstehen, was ich meine. Ich glaube nicht weniger als Sie an die religiöse Bedeutung unserer Zeit. Ja, ich glaube auch an die religiöse Bedeutung des Wissens. Ich verstehe den Schauer, den uns der Einblick in die Natur zurückgelassen hat, und vor allem empfinde ich, daß wir alle noch tief in den Entdeckungen der Romantik leben.
der freund Und was nennen Sie die Entdeckungen der Romantik?
ich Es ist, was ich vorhin andeutete, das Verständnis für alles Furchtbare, Unbegreifliche und Niedrige, das in unserem Leben verwoben ist. Aber all diese Erkenntnisse und tausend mehr sind kein Triumph. Sie haben uns überfallen, wir sind einfach benommen und geknebelt. Es waltet ein tragikomisches Gesetz darin, daß in dem Augenblick, wo wir uns der Autonomie des Geistes mit Kant, Fichte und Hegel bewußt wurden, die Natur in ihrer unermeßlichen Gegenständlichkeit sich auftat; im Augenblick, da Kant die Wurzeln des menschlichen Lebens in der praktischen Vernunft entdeckte, mußte die theoretische Vernunft in unendlicher Arbeit die moderne Naturwissenschaft ausbauen. – So steht es jetzt um uns. Alle die soziale Sittlichkeit, die wir mit herrlichem, jugendlichem Eifer schaffen wollen, ist gefesselt durch die skeptische Tiefe unserer Einsichten. Und heute weniger als je verstehen wir das Kantische Primat der praktischen Vernunft über die theoretische.
der freund Im Namen des religiösen Bedürfnisses reden Sie einer zügellosen, unwissenschaftlichen Reformerei das Wort. Sie scheinen sich mit der Nüchternheit, die Sie vorhin anzuerkennen schienen, doch schlecht zu vertragen. Sie verkennen die Größe, ja die Heiligkeit der entsagungsvollen sachlichen Arbeit, die nicht nur im Dienste der Wissenschaft, sondern in einem Zeitalter naturwissenschaftlicher Bildung auch auf sozialem Gebiete geleistet wird. Eine revolutionäre Jugendlichkeit kommt dabei allerdings nicht auf die Kosten.
ich Gewiß. Nach dem Stande unserer Kultur soll und muß auch die soziale Arbeit, statt heroisch-revolutionären Strebungen, sich einem evolutionistischen Gange unterwerfen. Aber ich sage Ihnen das eine: Wehe, wenn man darüber das Ziel vergißt, sich vertrauensvoll dem fast krebsartigen Gang der Evolution anheimgibt. Und das tut man. Deshalb kommen wir aus diesem Zustand nie und nimmer im Namen der Entwicklung heraus, sondern im Namen des Zieles. Und dies Ziel können wir nun einmal nicht äußerlich aufstellen. Der Kulturmensch hat nur einen Ort, den er sich rein erhalten kann, in dem er wirklich sub specie aeterni sein darf: das ist sein Inneres, er selbst. Und die alte und oft geplagte Not ist, daß wir selber uns verlieren. Verlieren durch all die glorreichen Fortschritte, die Sie rühmen: verlieren, fast möchte ich sagen, durch den Fortschritt. Religionen aber kommen aus der Not und nicht aus dem Glück. Und wenn pantheistisches Lebensgefühl diese reine Negativität, das Sich-selbst-Verlieren und Sich-fremd-Werden als Aufgehen im Sozialen rühmt, so ist das unwahr.
der freund Freilich – ich wußte nicht, daß Sie Individualist seien.
ich Das bin ich nicht, sowenig wie Sie. Individualisten setzen ihr Ich als maßgeblichen Faktor ins Leben. Ich sagte schon, daß der Kulturmensch, soweit für ihn der Fortschritt der Menschheit als selbstverständliche Maxime gilt, das nicht kann. Übrigens: diese Maxime ist so selbstverständlich in die Kultur aufgenommen, daß sie als Grundlage der Religion für die Fortgeschrittenen schon deshalb inhaltslos, bequem und gleichgültig wäre. Das nebenbei. – Es fällt mir nicht ein, Individualismus zu predigen. Nur daß der Kulturmensch sein Verhältnis zur Gesellschaft erfasse, will ich. Daß man mit der unwürdigen Lüge breche, als erfülle der Mensch sich vollkommen im Dienste der Gesellschaft, als sei das Soziale, in dem wir doch nun einmal leben, das auch die Persönlichkeit letzthin Bestimmende.
Man mache Ernst mit der sozialistischen Maxime, man gebe zu, daß das Individuum gezwängt, in seinem Innenleben gezwängt und verdunkelt wird; und aus dieser Not gewinne man ein Bewußtsein vom Reichtum, vom natürlichen Sein der Persönlichkeit wieder. Langsam wird ein neues Geschlecht wagen, sich wieder bei sich selbst umzusehen, nicht nur in seinen Künstlern. Man wird den Druck und die Unwahrheit, die uns jetzt zwingen, erkennen. Man wird den Dualismus von sozialer Sittlichkeit und Persönlichkeit anerkennen. Aus dieser Not wird eine Religion wachsen. Und sie wird notwendig, weil noch niemals die Persönlichkeit derart hoffnungslos im sozialen Mechanismus verstrickt war. Aber ich fürchte, Sie haben mich noch nicht ganz verstanden und vermuten da Individualismus, wo ich lediglich Ehrlichkeit verlange. Und damit einen ehrlichen Sozialismus gegen den heutigen konventionellen. Gegen einen Sozialismus, den jeder anerkennt, der bei sich selbst etwas nicht im Reinen fühlt.
der freund Wir geraten in ein fast undisputables Gebiet. Sie geben kaum Belege und berufen sich auf die Zukunft. Aber sehen Sie sich in der Gegenwart um. Sie haben den Individualismus. Ich weiß, daß Sie ihn bekämpfen. Aber Sie müssen gerade von Ihrem Standpunkt aus, meine ich, seine Ehrlichkeit anerkennen. Nirgends aber läuft der Individualismus auf Ihr Ziel hinaus.
ich Es gibt viele Arten des Individualismus. Ich leugne nicht, daß es sogar Menschen gibt, die ganz ehrlich im Sozialen aufgehen können, es werden nicht die tiefsten und besten sein. Aber ob im Individualismus Keime zu meiner Anschauung, besser zu einer künftigen Religiosität liegen, kann ich gar nicht entscheiden. Jedenfalls erkenne ich in dieser Bewegung Anfänge. Meinetwegen die Heroenzeit einer neuen Religion. Die Heroen der Griechen sind stark wie die Götter, nur göttliche Reife, göttliche Kultur fehlt ihnen noch. So erscheinen die Individualisten mir.
der freund Ich verlange keine Konstruktion. Aber weisen Sie mir im Gefühlsleben der Zeit diese neureligiösen Strömungen, diesen individualistischen Sozialismus nach, wie Sie in der Zeit allerorten den Pantheismus in den Gemütern erkennen. Ich sehe nichts, was Sie stützen könnte. Geistreicher Zynismus und bläßliches Ästhetentum sind nicht die Keime künftiger Religiosität.
ich Ich hätte nicht geglaubt, daß auch Sie unsere Literatur mit dem gewohnten Blick von der hohen Warte verwerfen. Mir sagt das alles anderes. Abgesehen davon, daß geistreiches Ästhetentum nicht unsere größten Schöpfungen stempelt. Aber verkennen Sie nicht das Bohrende, Verlangende, das im Geistreichen liegt. Diese Sucht, Abgründe aufzureißen und zu überspringen. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, wenn ich sage, daß dieses Geistreiche zugleich Vorbote und Feind religiösen Fühlens ist.
der freund Nennen Sie eine übersättigte Sehnsucht nach Unerhörtem religiös? Dann möchten Sie Recht haben.
ich Sehen wir diese Sehnsucht doch etwas anders an! Entstammt sie nicht dem gewaltigen Willen, nicht alles so ruhig und selbstverständlich im Ich verankert zu sehen, wie wir es gewohnt sind? Sie predigt eine mystisch-individualistische Feindschaft dem Gewohnten. Das ist ihre Fruchtbarkeit. Allerdings, sie kann es bei ihrem letzten Wort niemals lassen und setzt den vorlauten Schluß dazu. Die tragische Naivität des Geistreichen. Wie ich schon sagte, es überspringt die Klüfte wieder, die es aufreißt. Ich fürchte und liebe diesen Zynismus, der so mutig ist, und zuletzt nur ein wenig zu eigensüchtig, um nicht die eigene Zufälligkeit über die historische Notwendigkeit zu setzen.
der freund Sie begründen ein Gefühl, das auch ich kenne. Die Neuromantik – Schnitzler, Hofmannsthal, auch Thomas Mann bisweilen – bedeutend, liebenswert, ja herzlich sympathisch und gefährlich.
ich Aber ich wollte gar nicht von diesen reden, sondern von andern, die offenbar die Zeit beherrschen. Oder zum mindesten die Zeit bedeuten. Was ich davon sagen kann, sage ich gern. Aber allerdings kommen wir ins Uferlose.
der freund Die Gefühle gehen ins Uferlose, und der Gegenstand der Religion ist die Unendlichkeit. Soviel bringe ich von meinem Pantheismus mit.
ich Bölsche sagt einmal, die Kunst nähme das allgemeine Bewußtsein und die Lebenssphäre späterer Zeiten vorahnend voraus. Und ich glaube nun, diejenigen Kunstwerke, die unsere Epoche beherrschen – nein, nicht einfach beherrschen – ich glaube, daß die Werke, die am heftigsten in ihrer ersten Begegnung uns berühren, daß vor allem Ibsen und der Naturalismus dieses neureligiöse Bewußtsein in sich tragen. Nehmen Sie Ibsens Dramen. Im Hintergrunde stets das soziale Problem – gewiß. Aber das Treibende sind die Menschen, die ihre Persönlichkeit der neuen gesellschaftlichen Ordnung gegenüber orientieren müssen: Nora, Frau Alving, und wenn man tiefer geht: Hedda, Solneß, Borkman, Gregers und viele andere. Und weiter die Art, wie diese Menschen sprechen. Der Naturalismus hat die individuelle Sprache entdeckt. Das ergreift uns so sehr, wenn wir unsern ersten Ibsen oder Hauptmann lesen, daß wir mit unserer alltäglichsten und intimsten Äußerung ein Recht in der Literatur, in einer gültigen Weltordnung haben. Unser individuelles Gefühl erhöht sich daran. – Oder nehmen Sie eine Auffassung von Individuum und Gesellschaft, wie in Spittelers »Herakles’ Erdenfahrt«! Das schwebt uns vor, da liegt unser Ziel und wieder ist das eine der zündendsten, begeisterungsschwersten Stellen, die in der Moderne geschrieben sind. Herakles kann im Dienste der Menschheit als Erlöser nicht seine Persönlichkeit wahren, nicht einmal seine Ehre. Aber es ist eine schneidende und jubelnde Ehrlichkeit, in der er sich das zugesteht. Ehrlichkeit, die in allem Leid, durch dies Leid ihn hebt. – Das ist lebendiger und jäher Widerspruch zur sozialen Trägheit unserer Zeit. – Und hier liegt die tiefste, wirklich: ich sage die tiefste Erniedrigung, der das moderne Individuum bei Strafe des Verlustes der gesellschaftlichen Möglichkeiten unterliegen muß: in der Verschleierung der Individualität, all dessen, was innerlich umwühlend und bewegend ist. Ich möchte Ihnen jetzt das Konkreteste sagen: hieran wird die Religion sich aufrichten. Sie wird wieder einmal vom Geknechteten ausgehen – der Stand aber, der heute diese historische, notwendige Knechtung trägt, das sind die Literaten. Sie wollen die Ehrlichen sein, ihre Kunstbegeisterung, ihre »Fernsten-Liebe«, um mit Nietzsche zu reden, wollen sie darstellen, aber die Gesellschaft verstößt sie – sie selber müssen selber alles Allzumenschliche, dessen der Lebende bedarf, in pathologischer Selbstzerstörung ausrotten. So sind die, welche die Werte ins Leben, in die Konvention umsetzen wollen: und unsere Unwahrhaftigkeit verurteilt sie zum Outsidertum und zur Überschwenglichkeit, die sie unfruchtbar macht. Niemals werden wir die Konventionen durchgeistigen, wenn wir nicht diese Formen sozialen Lebens mit unserem persönlichen Geiste erfüllen wollen. Und dazu verhelfen uns die Literaten und die neue Religion. Religion gibt einen neuen Grund und einen neuen Adel dem täglichen Leben, der Konvention. Sie wird zum Kult. Dürsten wir nicht nach geistiger, kultischer Konvention?
der freund Wie Sie Menschen, die in Kaffeehäusern ein unreines, oft genug ungeistiges Leben führen, Menschen, die jede simpelste Verpflichtung in Größenwahn und Trägheit leugnen, Menschen, die die Schamlosigkeit selbst darstellen, ja – wie Sie von denen die neue Religion erwarten, das ist mir unklar, gelinde gesagt.
ich Ich habe nicht gesagt, daß ich die neue Religion von ihnen erwarte, sondern daß ich sie als Träger religiösen Geistes in unserer Zeit ansehe. Und das behaupte ich, mögen Sie mir hundertmal vorwerfen, daß ich konstruiere. Gewiß, diese Menschen führen zum Teil das lächerlichste, das verkommenste und ungeistigste Leben. Aber aus geistiger Not, nicht wahr, aus Sehnsucht nach einem ehrlichen persönlichen Leben ist dieses Elend geflossen? Was tun denn die Leute anderes, als sich mit der höchst schwierigen eigenen Ehrlichkeit befassen? Aber natürlich, was wir Ibsens Helden zubilligen, geht uns im Leben nichts an.
der freund Sagten Sie vorhin nicht selbst, daß diese fanatische, bohrende Ehrlichkeit dem Kulturmenschen versagt sei, daß sie all unsere innere und äußere Fähigkeit zersetzt.
ich Ja, und deshalb ist nichts fürchterlicher, als wenn das Literatentum um sich griffe. Aber eine Hefe ist nötig, ein Gärstoff. Sowenig wir Literaten in diesem letzten Sinne sein wollen, sosehr sind sie als Vollstrecker des religiösen Willens zu achten.
der freund Religion geht schamvoll vor sich, ist eine Reinigung und Heiligung in der Einsamkeit. Im Literatentum sehen Sie das krasse Gegenteil. Deshalb ist es schamvollen Menschen verfemt.
ich Warum Sie nur gerade der Scham alle Heiligkeit zusprechen und so wenig von der Ekstase reden? Wir haben wirklich vergessen, daß die religiösen Bewegungen durchaus nicht in innerlicher Stille die Generationen ergriffen haben. Nennen Sie die Scham eine nötige Waffe des Selbsterhaltungstriebes; aber heiligen Sie sie nicht, sie ist restlos natürlich. Niemals wird sie von einem Pathos, einer Ekstase, die sich dehnen und ausbreiten können, etwas zu fürchten haben. Und nur das unreine Feuer des feigen unterdrückten Pathos, das kann sie vielleicht zerstören.
der freund Und wirklich steht der Literat im Zeichen dieser Schamlosigkeit. Daran geht er zugrunde, wie an innerlicher Fäulnis.
ich Darauf sollten Sie sich am wenigsten berufen, denn er unterliegt diesem aushöhlenden Pathos, weil die Gesellschaft ihn gebannt hat, weil er kaum die jämmerlichsten Formen hat, seine Gesinnung zu leben. Wenn wir wieder die Kraft haben, die Konvention ernst und würdig zu gestalten, anstatt unseres gesellschaftlichen Talmitums, dann haben wir für die neue Religion das Symptom. Kultur des Ausdrucks ist die höchste und nur auf ihrer Grundlage zu denken. Aber unsere religiösen Gefühle sind frei. – Und so versehen wir unwahre Konventionen und Gefühlsverhältnisse mit der nutzlosen Energie der Pietät.
der freund Ich beglückwünsche Sie zu ihrem Optimismus und Ihrer Konsequenz. Glauben Sie wirklich, daß bei dem herrschenden sozialen Elend, bei dieser Flut ungelöster Probleme, noch eine neue Problematik, die Sie sogar Religion nennen, nötig oder auch nur möglich sei? Denken Sie nur an ein ungeheures Problem, die Frage der Sexualordnung der Zukunft.
ich Ein ausgezeichneter Gedanke! Gerade diese Frage ist, wie ich meine, nur auf dem Grunde persönlichster Ehrlichkeit zu lösen. Zum Komplex der sexuellen Probleme und der Liebe werden wir erst dann offen Stellung nehmen können, wenn wir sie von der verlogenen Verquickung mit unendlichen sozialen Gedanken lösen. Die Liebe ist zunächst einmal eine persönliche Angelegenheit zwischen zweien und durchaus kein Mittel zum Zwecke der Kindererzeugung; lesen Sie dazu »Faustina« von Wassermann. Im übrigen glaube ich tatsächlich, daß eine Religion aus einer tiefen und fast unerkannten Not geboren sein muß. Daß für die geistigen Führer also das soziale Element kein religiöses mehr ist, wie ich schon sagte. Dem Volke soll seine Religion gelassen werden, ohne Zynismus. D. h. es bedarf noch, keiner neuen Erkenntnisse und Ziele. Ich hätte mit einem Menschen sprechen können, der ganz anders geredet hätte wie Sie. Für ihn wäre das Soziale ein Erlebnis gewesen, das ihn erst gewaltsam aus seiner naivsten, geschlossenen Ehrlichkeit hätte herausreißen müssen. Er hätte die Masse der Lebenden dargestellt, und er gehört im weitesten Sinne den historischen Religionen an.
der freund Sie reden auch hier von Ehrlichkeit. Also sollen wir zu diesem Standpunkt des egozentrischen Menschen zurück?
ich Ich glaube, Sie mißverstehen mich systematisch. Ich spreche von zwei Ehrlichkeiten. Der vor dem Sozialen und der, die ein Mensch nach der Erkenntnis seiner sozialen Gebundenheit hat. Ich verabscheue nur die Mitte: die verlogene Primitivität des komplizierten Menschen.
der freund Und nun glauben Sie wirklich, inmitten des religiösen und kulturellen Chaos, in dem die Führenden gebunden sind, die neue Ehrlichkeit aufzurichten? Trotz Décadence und Mystik, Theosophen, Adamiten und unendlicher Sekten? Denn auch in denen hat jede Religion erbitterte Feinde. Sie verdecken die Kluft zwischen Natur und Geist, Ehrlichkeit und Lüge, Individuum und Gesellschaft – oder wie Sie es gruppieren wollen.
ich Nun nennen Sie selbst die Mystik die Feindin der Religion. Nicht nur überbrückt sie die Schärfe religiöser Problematik – sie ist zugleich passend und sozial. Aber bedenken Sie, wie weit dies auf den Pantheismus treffen würde. – Das neu erwachende, religiöse Gefühl aber trifft es nicht. So wenig, daß ich in der Geltung und Ausbreitung der Mystik und Decadence sogar seine Symptome erblicke. Doch erlauben Sie, daß ich es näher erkläre: ich sagte schon, daß ich den Augenblick dieser neuen Religion – ihrer Grundlegung – historisch festlege. Es war der Augenblick, da Kant die Kluft zwischen Sinnlichkeit und Verstand aufriß und da er in allem Geschehen die sittliche, die praktische Vernunft waltend erkannte. Die Menschheit war aus ihrem Entwicklungsschlaf erwacht, zugleich hatte das Erwachen ihr ihre Einheit genommen. Was tat die Klassik? Sie vereinte noch einmal Geist und Natur: sie betätigte die Urteilskraft und schuf die Einheit, die immer nur eine Einheit des Augenblickes, der Ekstase, der großen Schauenden sein kann. Ehrlich, grundlegend können wir sie nicht erleben. Grundlage des Lebens kann sie nicht werden. Sie bedeutet seine ästhetische Höhe. Und wie die Klassik ästhetische Reaktionserscheinung war, in dem schneidenden Bewußtsein, daß es den Kampf um die Totalität des Menschen gelte, so nenne ich auch Mystik und Decadence Reaktionserscheinungen. Das Bewußtsein, das in zwölfter Stunde aus der Ehrlichkeit des Dualismus sich retten will; aus der Persönlichkeit fliehen will. Aber Mystik und Decadence führen einen aussichtslosen Kampf: sie negieren sich selbst. Die Mystik durch die gesuchte scholastisch-ekstatische Art, mit der sie das Sinnliche als Geistiges faßt, oder beides als Erscheinung des wahren Übersinnlichen. Zu diesen hoffnungslosen Spekulationen zähle ich den Monismus. Ich nenne es unschädliche Denkerzeugnisse, die einen ungeheuern Aufwand suggestiblen Gemütes brauchen und, wovon wir schon sprachen, das Geistreiche ist die Sprache der Mystik – schlimmer die Décadence, aber für mich das gleiche Symptom und die gleiche Unfruchtbarkeit. Sie sucht die Synthese im Natürlichen. Sie begeht die Todsünde, den Geist natürlich zu machen, ihn als selbstverständlich zu nehmen, nur kausal bedingt. Sie leugnet die Werte (und damit sich selbst), um den Dualismus von Pflicht und Person zu bezwingen.
der freund Sie wissen vielleicht, wie es so manchmal geht. Man denkt eine Zeitlang angestrengt, glaubt einem neuen Unerhörten auf der Spur zu sein und sieht sich plötzlich schaudernd vor einer ungeheuern Banalität. Und so geht es mir. Ich frage mich eben unwillkürlich: was ist an dem, wovon wir reden? Ist es nicht eine Selbstverständlichkeit, ein Nicht-Redenswertes, daß wir in einem Zwiespalt von Individuellem und Sozialem leben? Jeder hat ihn in sich erfahren, erfährt ihn täglich. Gut, wir haben die Kultur und den Sozialismus zum Siege gebracht. Und damit ist alles entschieden. – Sie sehen – ich habe jeden Blick, jedes Verständnis verloren.
ich Und nach meiner Erfahrung wiederum steht man vor einer tiefen Wahrheit, wenn man eine Selbstverständlichkeit um einen Grad vertieft, vergeistigt, möchte ich sagen. Und so ist es uns mit der Religion ergangen. Gewiß, Sie haben Recht in dem was Sie sagen. Aber machen Sie einen Zusatz. Dieses Verhältnis sollen wir aber nicht als ein technisch-notwendiges fassen, das aus Äußerlichkeit und Zufall geboren wurde. Nehmen wir es als sittlich-notwendig, durchgeistigen wir wieder einmal die Not zur Tugend! Gewiß, wir leben in einer Not. Aber wertvoll wird unser Verhalten nur, indem es sich sittlich begreift. Hat man sich denn das Furchtbare, Unbedingte gesagt, das in der Ergebung der Person unter sozialsittliche Zwecke steckt? Nein! Warum nicht? Weil man vom Reichtum und Schwergewicht der Individualität tatsächlich nichts mehr weiß. So wahr ich Menschen des täglichen Lebens kenne, sage ich Ihnen, daß diese das Körpergefühl ihrer geistigen Persönlichkeit verloren haben. Im Augenblick, wo wir das von neuem finden und uns unter die kulturelle Sittlichkeit beugen, sind wir demütig. Dann erst erhalten wir das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit, von der Schleiermacher spricht, statt einer konventionellen Abhängigkeit. – Aber ich kann Ihnen das vielleicht kaum sagen, weil es sich auf einem so neuen Bewußtsein persönlicher Unmittelbarkeit gründet.
der freund Nochmals, Ihre Gedanken haben einen steilen Flug. So, daß sie sich von aller Problematik der Gegenwart reißend schnell entfernen.
ich Das erwartete ich am wenigsten zu hören; der ich den Abend, die Nacht lang von der Not der Führenden sprach.
der freund Und doch, Glauben und Wissen heißt die Parole unserer religiösen Kämpfe. Kein Wort sprachen Sie davon. Ich füge hinzu, von meinem Standpunkt eines Pantheismus oder Monismus gibt es diese Frage allerdings nicht. Aber Sie hätten sich damit abzufinden.
ich Jawohl: indem ich sage, daß das religiöse Gefühl in der Gesamtheit der Zeit wurzelt; zu der gehört das Wissen. Wenn nicht das Wissen selbst problematisch ist, wird eine Religion, die bei dem Dringenden beginnt, sich um das Wissen nicht zu kümmern haben. Und es hat wohl kaum Zeiten gegeben, in denen das Wissen natürlicherweise problematisch angefochten war. Soweit haben es erst historische Mißverständnisse gebracht. – Und dieses modernste Problem, von dem die Blätter voll sind, entsteht, weil man sich nicht von Grund auf nach der Religion der Zeit fragt; sondern man fragt, ob eine der historischen Religionen in ihr noch Unterkunft finden könne, und wenn man ihr Arme und Beine abschnitte und den Kopf dazu. – Ich unterbreche mich hier – es ist ein weitläufiges Lieblingsthema.
der freund Mir fällt ein Wort von Walter Calé ein. »Nach einer Aussprache glaubt man stets, das ›Eigentliche‹ nicht gesagt zu haben.« Vielleicht haben Sie jetzt ein ähnliches Gefühl.
ich Das habe ich. Ich denke daran, daß eine Religion letzthin niemals nur Dualismus sein kann — daß die Ehrlichkeit und die Demut, von der wir sprachen, ihr sittlicher Einheitsbegriff ist. Ich denke daran, daß wir nichts über den Gott und die Lehre dieser Religion und wenig über ihr kultisches Leben sagen können. Daß das einzig Konkrete das Gefühl einer neuen und unerhörten Gegebenheit ist, unter der wir leiden. Ich glaube auch, daß wir schon Propheten gehabt haben: Tolstoi, Nietzsche, Strindberg. Daß schließlich unsere schwangere Zeit einen neuen Menschen finden wird. Neulich hörte ich ein Lied. So wie dieses schelmische Liebeslied es sagt, glaube ich an den religiösen Menschen.
Daß doch gemalt all deine Reize wären
Und dann der Heidenfürst das Bildnis fände:
Er würde dir ein groß’ Geschenk verehren
Und legte seine Kron’ in deine Hände.
Zum rechten Glauben müßte sich bekehren
Sein ganzes Reich bis an sein fernstes Ende.
Im ganzen Lande würd’ es ausgeschrieben:
Christ soll ein jeder werden und dich lieben.
Ein jeder Heide flugs bekehrte sich
Und würd’ ein guter Christ und liebte dich.
Mein Freund lächelte skeptisch aber liebenswürdig und begleitete mich schweigend an die Haustüre.
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